Mittwoch, 6. November 2019 MEINUNG & DEBATTE
Volksinitiativenzur Erhöhungdes Rentenalters
Die Stimmbürger sollten in den Spiegel schauen
Volksinitiativen zielen in derRegel auf denBauch
der Bürger. Es geht zum Beispiel gegenAusländer,
Abzocker oder Grosskonzerne. Oder es geht um
Wohltaten wie etwa «faire» Löhne, Preise oderRen-
ten.Aus demRahmen fallen zwei jüngst lancierte
Volksvorstösse. Sie versprechen Blut, Schweiss und
Tr änen. Oder etwas profaner: dieAussicht auf län-
geres Arbeiten – und dies, o Schreck, ohne sofortige
hundertprozentige «Kompensation».
Ein solches Himmelfahrtskommando hat am
Dienstag dieJunge FDP mit ihrerRenteninitia-
tivelanciert. Diese fordert eineAnhebung des
Rentenalters für beide Geschlechter zuerstauf
66 und danach darüber hinaus imTakt der weite-
ren Zunahme der Lebenserwartung. Noch mehr
Mut zeigte ein ehemaligerPensionskassenverwal-
ter,der diesenFrühling eineVolksinitiative zur be-
ruflichenVorsorge lancierte.DieserVorstoss sieht
nebst höheremRentenalter auch die Möglichkeit
vor, laufendeRenten zu kürzen, zwecks Eindäm-
mung der Umverteilung vonJung zu Alt.
Inhaltlich sind dieForderungen beider Initiati-
ven überfällig. Die Lebenserwartung nimmt lau-
fend zu.1980 hatten 65-Jährige noch eine Lebens-
erwartung vonrund 16 Ja hren, heute sind es über
21 Jahre. EinSystem der Altersvorsorge kann nur
nachhaltigsein, wenn dasVerhältnis zwischen der
Erwerbsperiode und derRentenperiode einiger-
massen stabil bleibt. Doch politisch ist die Haltung
«Nach uns die Sintflut» viel einfacher, denn etwa
60 Prozent der Urnengänger sind über 50-jährig.
Die öffentliche Debatte zur Altersvorsorge ist
immer noch durch Heuchelei verseucht.Für Poli-
tiker wie für die traditionellen Medien gehört
die Anbiederung beim Publikum zum Geschäfts-
modell.Für beide Branchenklingt es wie eine
schlechte Geschäftsidee, ihre wichtigsteKunden-
gruppe (die Älteren) zu verärgern. Doch wer sich
beim Publikum anbiedert, der beleidigt dieses: Man
traut ihm nicht zu, derRealitätinsAuge sehen zu
können. DieRealität ist simpel:Das derzeitigeRen-
tenniveau ist gemessen an den Einzahlungen der
Betroffenen und deren Lebenserwartung klar zu
hoch. DieRechnung zahlen diekommenden Gene-
rationen. Und je stärker die Sanierung nur über
höhere Beiträge läuft, desto einseitiger ruhen die
Lasten auf den Schultern derJüngeren.
Eine einigermassen «ausgewogene» Reform
würde vielleicht je etwa zur Hälfte aus Beitrags-
erhöhungen und derReduktion ständiger Leis-
tungserhöhungen bestehen. Die Erhöhung desRen-
tenalters im Gleichschritt mitder Lebenserwartung
läge nahe. Gegner sagen zwar gerne, dass ein höhe-
res Rentenalter angesichts der Probleme der Älte-
ren am Arbeitsmarkt unrealistisch sei, doch dies ist
klassische Scheinheiligkeit. Die Arbeitslosigkeit der
Älteren ist sogar etwas tiefer als jene derJüngeren.
Wenn dieTatsache, dass es in der Altersgruppe X
Arbeitslosigkeit gibt, gegen jedesRentenalter über
X spräche, gäbe es nur eine logischeForderung:
direkt von der Schule in dieRente.
Die Menschen werden nicht nur älter, sondern
sie bleibenauch länger gesund. Gewiss gibt es Be-
rufe, in denen Ältere benachteiligt sind. Doch Äl-
te rehabenauch manchenortsVorteile – etwa wenn
Sozialkompetenz, vernetztes Denken und Lebens-
erfahrung gefragt sind.Wer allerdings wenigeJahre
vor derPensionierung entlassen wird, hat Mühe,
wieder eine Stelle zu finden. Aber dies gilt bei
jedemRentenalter: BeimRentenalter 40 hätten
schon 38-Jährige Mühe, und beimRentenalter 80
gälten 60-Jährige nochals «jung».
Man darf gegen ein höheresRentenalter sein.
Aber man sollte sich selbst und anderenkeineAus-
reden à la Arbeitsmarkt vorheucheln, sondern ehr-
lich sagen, worum es geht: dasFesthalten an Privi-
legien zulasten derJüngeren.
Die Realität ist simpel:
Das derzeitige Rentenniveau
ist gemessen an den
Einzahlungen der Betroffenen
und deren Lebenserwartung
klar zu hoch.
«Autogipfel» inBerlin
Die E-Mobilität braucht keine nationale Leitstelle
«Ein Schritt in die richtige Richtung, aber es geht
viel zu langsam», so lautete am Dienstag derTenor
in den Berichten zum nächtlichen «Autogipfel» bei
der deutschen Kanzlerin Merkel.Das ist jedoch
eine zu positiveResonanz.Was haben die Minister
undAutochefs beschlossen? Nach dem Motto«Viel
hilftviel» dürfen Käufer von Elektroautos künftig
mit 60 00 EuroUnterstützung vom Staat und von
denAutofirmen (je hälftig)rechnen – die Hälfte
mehr als bisher. Tr otz grosszügiger Hilfe harzt es bis
jetzt nämlich beim Absatz. Und auch denAufbau
vonLadestationen will sich dieRegierung mehrere
hundert Millionen Eurokosten lassen.
Völlig inVergessenheit geraten scheint, was die
Regierung erst vor einem Monat beschlossen und
damals alsDurchbruch gefeiert hatte. Die grosse
Koalition hatte sich nämlich darauf geeinigt, dass
es auch imVerkehr und im Gebäudesektor künf-
tig einen Preis für CO 2 -Emissionengeben soll.Die
Mobilität trägt rund einFünftel zumAusstoss der
Klimagase bei. Zunächst wirdeineAbgabeer-
hoben, ab 2025 soll sich der Preis für eineTonne
CO 2 dann im Emissionshandel bilden.
Auch dieRegierung hält somit den Emissions-
handel für das beste Instrument, weil man ein be-
stimmtes Umweltziel mit den geringstmöglichen
Kosten erreicht.Dabei überwälzen die Mineralöl-
firmen die höheren Kosten auf die Spritpreise. Der
grosseVorteil: Es sagt niemand,obman Elektro-
autos oder mitWasserstoff betriebeneFahrzeuge
fördern muss. DerKunde macht für sich die Kalku-
lation, wassich lohnt– und das kann dann auch ein
sparsamer Diesel oder Benziner sein.Damit sind
weitere Subventionen überflüssig. Sie führen ohne-
hin zu hohen Mitnahmeeffekten und werden eher
von den Bessergestellten genutzt, wenn diese zum
Beispiel ein Elektroautoals Zweitfahrzeugfür die
Stadt anschaffen. Es stimmt jedenfalls bedenklich,
dass dieRegierung den vor Monatsfrist beschlosse-
nen Instrumenten so wenig traut.
Gefahr ist zudem immer imVerzug, wenn wie
jetzt nach demAutogipfel von einer «konzer-
tierten Aktion» dieRede ist und eine nationale
Leitstelle imVerkehrsministerium den «Hochlauf
der Elektromobilität» plant undkoordiniert.Wo
bleibt daRaum fürwettbewerbliche Lösungen?
Wobleibt die vielgerühmte«Technologie-Offen-
heit»,wenn die deutscheRegierung alles auf die
KarteE-Mobilität setzt?
Damit 2030 einmal zehn Millionen Elektroautos
auf Deutschlands Strassen fahren, will dieRegie-
rungrasch denBau Tausender von öffentlichen
Ladepunkten finanzieren. DieAutoindustrie will
zunächst 15000 eigene beitragen. Bis 2030 sollen
es im ganzenLand eine Million sein.Auch da wäre
staatliche Zurückhaltung gefragt.Das herkömm-
licheTankstellennetz ist auch nicht durch eine «na-
tionale Leitstelle» entstanden, vielmehr verkauf-
ten zunächst Apotheker Benzin ausFässern an die
noch wenigenAutomobilisten.1922 gab es dann
in Deutschland die ersteTankstelle mit Häuschen,
und dann ging es mit demAufbau des Netzes flott
voran – aus Eigeninteresse derFirmen.
Gefragt ist also auch da primär die Initiative
der Privatwirtschaft. Immerhin einvalabler Punkt
wurde am Gipfel gemacht. So dauert die Geneh-
migung für Ladesäulen im öffentlichen Raum
mit heute acht Monaten viel zu lang. EinVertre-
ter derFirma Ubitricity, die ausLaternenLade-
punkte macht, sagte einmal in einemVortrag, dass
die Installation in Berlin wegen derRegulierung
mit 40 00 Euro vier Mal so teuer sei wie in Lon-
don. Solche Kritik sollte deutschen Behörden zu
denken geben.
Immerhin ein valabler Punkt
wurde am Gipfel
gemacht. So dauert die
Genehmigung für Ladesäulen
im öffentlichen Raum
mit heute acht Monaten
viel zu lang.
Urteil des deutschen Verfassungsgerichts zuHartz IV
«Fördern und Fordern» ist nicht nur ein Werbespruch
Das Urteil des deutschenVerfassungsgerichts ist
keineswegs harmlos. Es greift machtvoll in die bis-
herige,umstrittene Praxis der deutschen Arbeits-
ämter im Umgang mitLangzeitarbeitslosen ein.
Und doch ist das Urteil massvoll und klug abge-
wogen.Denn es belässt die Grundidee der Hartz-IV-
Reform in Kraft, wonachArbeitslose die Unterstüt-
zungsleistungen des Staates nicht ad infinitum ein-
fordernkönnen, sondern sich selbst intensiv um eine
Rückkehr in den Arbeitsmarkt bemühen sollen.
Das Bundesverfassungsgericht schränkt die Mög-
lichkeit der Arbeitsämter,unkooperativen Arbeits-
losen die Leistungen befristet zu streichen, stark
ein.Künftig sollen nur nochAbzüge von maximal
30 Prozent derRegelleistungen möglichsein,das
sind für Alleinstehende 127 Euro pro Monat. Die-
ser Entscheid ist richtig.Wohl mögen scharfe Sank-
tionen bis hin zumkompletten Abzug vonLeistun-
gen aus Sicht der Arbeitsämter mitunter verständ-
lich sein, wenn diese zum Schlusskommen, sie wür-
den von arbeitsscheuen Leistungsempfängern bloss
ausgenutzt. Doch nachVorgabe des Grundgesetzes
und des deutschen Sozialstaats mussdas Existenz-
minimumderBürger gesichert sein. DieseAufgabe
kommt beiLangzeitarbeitslosen den Hartz-IV-Leis-
tungen zu.Wovon soll ein Mensch leben, wenn er
nicht einmal «Hartz IV» zurVerfügung hat?
Mit der Begrenzung der Sanktionen auf 30 Pro-
zent derRegelleistungen kann zwar die administra-
tiv festgelegte Schwelle des Existenzminimums tem-
porär unterschritten werden, aber deutlich weniger
als bisher.Wichtig ist, dass der Abzug bleibt. Denn
er kann betroffenePersonen weiterhin dazu moti-
vieren,rascher Arbeit zu finden undsich damit bes-
sere Zukunftsperspektiven zu verschaffen. Es ist ein
Kompromiss nach dem Gebot derVerhältnismäs-
sigkeit. Er suchtdasZiel derindividuellen Exis-
tenzsicherung mit dem gesellschaftlichen Interesse
einer wirksamen Arbeitsmarktpolitik und geringe-
rerTransferzahlungen in Einklang zu bringen.
Doch vielenKritikern geht der Entscheid nicht
weit genug. Sie sähen gerne einkomplettesVer-
bot der Sanktionen oder gleich die Abschaffung
der Hartz-Gesetze. Das ist aus Sicht der betrof-
fenenPersonen verständlich – wer möchte einem
Menschen wünschen, mit weniger als 423 Euro pro
Monat auskommen zu müssen (für alles ausserden
Wohnkosten). Doch die Kritik geht am Ziel vorbei.
Das Hauptziel der 2005 vom damaligen Bundes-
kanzler Schröder durchgeboxten Hartz-Reform ist
es, dieLangzeitarbeitslosen schneller wieder in den
Arbeitsmarkt zu bringen.Durch eineKombination
von geringerer langfristiger Arbeitslosenhilfe,er-
höhtem Druck auf die betroffenen Menschen, sich
um eine Arbeitsstelle zu bemühen, und besserer
Unterstützung durch die Arbeitsämter soll dieses
Ziel erreicht werden.Vieles ist in der Praxis um-
stritten geblieben, doch insgesamt ist der Erfolg der
Reform nicht zu leugnen.2005 zählte Deutschland
4,9 Millionen Arbeitslose, heute sind es 2,2 Millio-
nen; zu diesem Erfolg trugen neben anderenFakto-
ren die Hartz-Reformen wesentlich bei.
«Fördern undFordern» war der Slogan der
Hartz-Reform. Durch den Richterspruch vom
Dienstag wird er weiterhin gelten dürfen.Das ist
gut so. Denn Sozialtransfers alleine bringen Men-
schen nicht Arbeit, es braucht auch deren eigene
Anstrengungen sowie die Unterstützung durch
Fachleute auf den Arbeitsämtern. Ohne das «For-
dern» würden die Hartz-IV-Leistungen zu einer be-
dingungslosen Grundsicherung für alle. Das liefe
dem gesellschaftlichen Ziel zuwider, allen Bürgern
ein selbstbestimmtes Leben inFreiheit und Unab-
hängigkeit zu ermöglichen.
2005 zählte Deutschland
4,9 Millionen Arbeitslose,
heute sind es 2,2 Millionen;
zu diesem Erfolg trugen
die Hartz-Reformen
wesentlich bei.