Neue Zürcher Zeitung - 06.11.2019

(Michael S) #1

26 WIRTSCHAFT Mittwoch, 6. November 2019


Incyte investiert in der Westschweiz


Das amerikanische Biotechunternehmen baut in Yverdon und eröffnet eine neueEuropazentrale in Morges


DOMINIK FELDGES


Der amerikanische Biotechnologie-
konzern Incytehat sich in seinem Hei-
matland dank starkemWachstum einen
Namen gemacht. Obwohl er seit knapp
fünfJahren auch in der Schweiz tätig
ist,kennt ihn hierzulande aber noch
kaum jemand. Dieskönnte sich indes
bald ändern – zumindest in derWest-
schweiz, wo das Unternehmen vor dem
Abschluss grosser Investitionen steht.


Neue Fabrikin Yverdon


So wird dieFirma imkommenden April
mit rund150 Mitarbeitern einen neuen
Europasitz in Morges am Genfersee be-
ziehen. Die Einrichtung der neuen Zen-
trale, die sich in einer ehemaligenTeig-
warenfabrik der Coop-Eigenmarke Gala
befindet, hat sich derKonzern laut dem
EuropachefJonathan Dickinson über 20
Mio. Fr. kosten lassen.Weitere rund 100
Mio. Fr. fliessen in denBau einer Bio-


techfabrik im waadtländischen Yverdon.
Sie soll mit zunächst rund 50 Mitarbei-
tern den Betrieb 2021 aufnehmen.
Incyte verfolgtkonzernweit grosse
Pläne. Das Management der1992 ge-
gründetenFirma hat sich zum Ziel ge-
setzt, den Umsatz imVerlauf der nächs-
tenJahre auf 2,5 Mrd. bis3Mrd.$zu
steigern.Für 20 19 rechnen Analytiker
im Durchschnitt mitVerkäufen von
2,1 Mrd. $.Vor vierJahren hatte der
Konzernerlös mit rund 750 Mio.$erst
gut ein Drittel davon betragen.
Das Biotechnologieunternehmen ver-
dankt sein Geschäft zurzeit noch gröss-
tenteils einem einzigen Produkt – dem
vorab gegen zwei seltene Erkrankun-
gen im Bereich des Knochenmarks ein-
gesetzten MedikamentJakafi.Laut Er-
wartungen derKonzernführung dürfte es
allein in den USA im laufendenJahr auf
einen Umsatz von knapp 1,7Mrd.$kom-
men.Ausserhalb derVereinigten Staaten
obliegt dieVermarktung des Präparats
Novartis, wobei derBasler Pharmakon-

zern Incyte prozentual an den Einnah-
menbeteiligt und sich auch zu gewissen
Zahlungen beim Erreichen bestimmter
Verkaufsziele verpflichtet hat.

RiesigesForschungsbudget


DerPatentschutz in den USA, wo das
Medikament 2012 erstmals zumVer-
kauf zugelassen wurde,ist bis 2027 gül-
tig. Damit dürfte derFirma nach An-
sichtder meisten Analytikergenügend
Zeit bleiben, umrechtzeitig neue lukra-
tive Einnahmequellen zu erschliessen.
Dennoch scheintes Incyte eilig zu
haben.Das Unternehmen investiert
enorme Mittel sowohl imKerngeschäft
der Onkologie als auch im Bereich von
Entzündungs- undAutoimmunerkran-
kungen.Für das laufendeJahr hat es
fürForschung und Entwicklung rund
1Mrd.$budgetiert, was fast der Hälfte
des erwarteten Konzernerlöses ent-
spricht. Mansei diesbezüglich«ein biss-
chen ungewöhnlich», räumt Europachef

Dickinsonein. ZumVergleich: Bei den
beidenBasler Pharmamultis Novartis
undRoche erreichte derForschungs-
und Entwicklungsaufwand im vergan-
genenJahr ein Sechstel bzw. einFünf-
tel des Umsatzes.
Dank einer vollen Kasse kann sich
Incyte die Offensive bei der Suche neuer
Produktesowie die Investitionen in neue
Gebäude und Produktionsanlagen zur-
zeit problemlos leisten. Ende Septem-
ber 20 19 verfügte dieFirma über liquide
Mittel im Gesamtwert von2Mrd.$.Wie
die meisten in der Schweiz aktiven aus-
ländischen Biotech- und Pharmakon-
zerne verzichtet das Unternehmen
hierzulande auf Grundlagenforschung.
Dafür ist primär der Hauptsitz inWil-
mington im US-Gliedstaat Delaware zu-
ständig,andem rund 1200Mitarbeiter
(über die Hälfte vonihnen alsWissen-
schafter) beschäftigt sind. Die Schweizer
Belegschaft vonIncyte, die zurzeit noch
auf zwei Standorte in Genf und in Epa-
lingesbeiLausanne (Biopôle-Campus)
verteilt ist, kümmert sich hauptsächlich
um dieVermarktung der Produkte in
Europa sowie um die Organisation und
die Begleitung von klinischen Studien.

Emanzipationvon Drittfirmen


Dieneue Zentrale in Morges bietet
Platz für bis zu 300 Mitarbeiter. Laut
Dickinson besitzt das Unternehmen die
Option, bei Bedarf in drei angrenzenden
Gebäuden weitere Büros zu nutzen, wo-
mit die Zahl der Beschäftigten auf bis zu
900 erhöht werdenkönnte. DieFirma
ist offensichtlich bestrebt, dieVermark-
tung ihrer Produkte in Europa vollstän-
dig in die eigenen Hände zu nehmen
und nicht mehr aufPartner wie Novar-
tis angewiesen zu sein.Auch in der Pro-
duktion will Incyte dank dem neuen
Werk in Yverdon mehrAutonomie er-
langen. Zurzeit arbeitet derKonzern bei
der Herstellung noch mit verschiedenen
Drittfirmen zusammen, zu denen auch
die beiden Schweizer Pharmazulieferer
Lonza und Siegfried zählen.
Darüber, ob es hierzulande ausrei-
chendFachkräfte gibt, macht sich Mana-
ger Dickinson trotz den Expansions-
plänenkeine Sorgen.Ausschlaggebend
für dieWahl der Schweizsei die hohe
Qualität, die dasLand Unternehmen
aus der Biotechnologie- und Pharma-
branche biete. «Besonders bei der Her-
stellung von Biotechprodukten darf
man sichkeineFehler erlauben», sagt er.

Gericht setzt Leitplanken für Hartz-IV-Sanktionen


Die Leistungskürzungen für unkooperative BeziehervonSozialleistungen sind teilweise verfassungswidrig


RENÉ HÖLTSCHI, BERLIN


Darf der Staat Grundsicherungsleistun-
gen, die in Deutschland unter demTitel
ArbeitslosengeldII («Hartz IV»)ausbe-
zahlt werden, kürzen, wenn ein Bezüger
die damit verbundenenAuflagen ver-
letzt?Wie weit dürfen solche Sanktio-
nen gehen? Zu dieser politischkontro-
versen und juristisch schwierigenFrage
hatte sich das deutsche Bundesverfas-
sungsgericht in Karlsruhe am Dienstag
zu äussern.Das mit Spannung erwar-
tete Urteil erklärt nun einenTeil der
bisher geltenden Sanktionen für ver-
fassungswidrig.


«Fördern und fordern»


Seit der Zusammenführung von Arbeits-
losen- und Sozialhilfe zu Hartz IV unter
derRegierung Schröder imJahr 2005
gilt der Grundsatz «Fördern und for-
dern»: Wer staatliche Hilfe in An-
spruch nimmt, verpflichtet sich, aktiv
daran mitzuarbeiten, dass das so bald
wie möglich nichtmehr notwendig ist.
Wer einJobangebot ausschlägt oder
eineFördermassnahme ablehnt, läuft
Gefahr, dass ihm 30% des sogenann-
tenRegelsatzes gestrichen werden.Wer
innerhalb einesJahres mehrfach gegen


bestimmte Mitwirkungspflichten ver-
stösst,verliert60% odersogar das ge-
samte Arbeitslosengeld II, einschliess-
lich Zuschlägen für Unterkunft und
Heizung.Ist eine Sanktion einmal ver-
hängt, gilt sie immer drei Monate.Bei
Hartz IV geht es um die Grundsiche-
rung; entsprechend gering sind die Leis-
tungen. Der Hartz-IV-Satz für einen
alleinstehenden Erwachsenen liegt der-
zeit bei 424 Euro.
Das Verfahren vor dem Bundesver-
fassungsgericht geht zurück auf einen

Fall, in dem das zuständige Jobcen-
ter einem Bezüger die Leistungen zu-
nächst um 30% gekürzt hatte. Er hatte
als ausgebildeterLagerist eine Stelle als
Lagerarbeiter abgelehnt, weil er lieber
in denVerkauf wollte.Als er imVer-
kauf zur Probe arbeiten sollte, liess er
den einschlägigen Gutschein verfallen,
worauf ihm die Leistungen um 60% ge-
kürzt wurden. Der Mann erhob Klage
vor dem Sozialgericht. Dieses setzte das

Verfahren aus und legte dem Bundes-
verfassungsgericht dieFrage vor, ob die
Sanktionsregelungen mit dem Grund-
gesetz vereinbar seien.

DifferenziertesUrteil


Darauf hat das Gericht nun eine diffe-
renzierte Antwort gegeben. Im Grund-
satz hielt es fest, der Gesetzgeberkönne
erwerbsfähigen Hartz-IV-Beziehern
zumutbare Mitwirkungspflichten zur
Überwindung der eigenen Bedürftig-
keit auferlegen.Auch dürfe er dieVer-
letzung solcher Pflichten durch den vor-
übergehenden Entzug von Leistungen
bestrafen.Weil dies bei den Betroffenen
aber zuausserordentlichen Belastungen
führe, gälten dafür strenge Anforderun-
gen derVerhältnismässigkeit.AufBasis
dieser Grundsätze hat das Bundesver-
fassungsgericht eineReihe vonVor-
gaben formuliert.Biszu einer gesetz-
lichen Neuregelung sind die Sanktions-
bestimmungen zu Hartz IV nur noch
unter Einhaltung dieserVorgaben an-
wendbar.
Eine Leistungsminderung um 30%
beiVerletzung bestimmter Mitwirkungs-
pflichten ist laut dem Urteil weiterhin
zulässig. Zwar sei schon die Belastung
durch diese Sanktion ausserordentlich,

hielt das Gericht fest. Doch der Gesetz-
geberkönne sich auf die plausibleAn-
nahme stützen, dass eine solche Minde-
rung auch aufgrund einer abschrecken-
denWirkung zur Erreichung der Mit-
wirkung beitrage.Allerdings verlangt
das Urteil, dass imFalle aussergewöhn-
licher Härte von der Sanktion abge-
sehen werden kann.
Mit dem Grundgesetz unverein-
bar sind laut dem Urteil die Sank-
tionen hingegen, soweit die Minde-
rung nach wiederholten Pflichtverlet-
zungen 30% übersteigt oder sogar zu
einem vollständigenWegfall der Leis-
tungen führt. Zwar sei es nicht ausge-
schlossen, imWiederholungsfall erneut
Sanktionen zu verhängen. Eine Minde-
rung um 60% (oder mehr) sei jedoch
unzumutbar, weil die entstehende Belas-
tung weit in das grundrechtlich gewähr-
leistete Existenzminimum hineinreiche.
Fernerstösst sich Karlsruhe an der star-
ren dreimonatigenDauer der Sanktio-
nen, die auch schon beim erstenVerstoss
gilt.Das Urteil legt nun fest, dass die
Leistungen wieder aufgenommen wer-
denkönnen, sobald der sanktionierte
Bezüger die Mitwirkungspflichten wie-
der erfüllt oder sich ernsthaft und nach-
haltig dazu bereit erklärt, den Pflichten
nachzukommen.

Nicht nur ein
Werbespruch
Kommentar auf Seite 11

Schweizer Export


in die USA


trotzt dem Trend


Die abgeschwächteKonjunktur
äussert sich in einemRückgang
der amerikanischen Importe.
Die Einfuhren aus der Schweiz
folgen dieser Entwicklung nicht –
der Septemberwert war der
dritthöchste jeregistrierte.

MARTIN LANZ,WASHINGTON

Die weltweite Wachstumsverlang-
samung und die handelspolitische Un-
sicherheit schlagen sich zunehmend
auch in der amerikanischen Handels-
statistik nieder. Im September ist das
US-Defizit im Handel mit Gütern und
Dienstleistungen im Vergleich zum
Vormonat um fast 5% auf 52,5 Mrd. $
gesunken.
Sowohl die Importe als auch die
Exporte gingen zurück. Die Importe fie-
len um 1,7% auf 258,5 Mrd. $, und die
Exporte sanken um 0,9% auf 206 Mrd. $.
Der Exportrückgang war vor allem
niedrigerenAusfuhren vonLandwirt-
schaftsgütern geschuldet. Derweil wur-
den wenigerInvestitions- undKonsum-
güter importiert, was eine schwächere
US-Nachfragereflektiert.

Zuwachs in beide Richtungen


Nicht diesem Muster entsprach die Ent-
wicklung des bilateralen Güterhandels
mit der Schweiz. Gegenüber demVor-
monat stiegen sowohl die US-Exporte in
die Schweiz als auch die US-Importe aus
der Schweiz. Die US-Importe aus der
Schweiz steigen aber schon das ganze
Jahr stärker als die Exporte.Das bila-
terale Defizit hat deshalb im Septem-
ber19,2 Mrd. $ erreicht und übertrifft
damit bereits nach drei Quartalen den
Wert des gesamtenJahres 2018, als der
Saldo den bisherigen Höchstwert von
18,9 Mrd.$aufwies.
Diese Entwicklung ist einerseits er-
freulich, zeigt sie dochrobustebilaterale
Handelsflüsse zwischen der Schweiz
und den USA in einem schwachen
globalen Umfeld.Anderseits wird den
amerikanischen Handelsprotektionis-
ten ein Dorn imAuge sein, dass das
bilaterale US-Defizit gegenüber der
Schweiz weiter zugenommen hat und
per Ende 20 19 locker die 20-Mrd.-$-
Marke übertreffen wird.Per Ende Sep-
tember 20 19 liegt die Schweiz aufRang
9der US-Defizitländer.

Unter Beobachtung


DieserTage ist der halbjährliche Be-
richt des US-Treasury über dieWäh-
rungspolitik der wichtigsten ameri-
kanischen Handelspartner fällig. Die
Schweiz war in der jüngstenAusgabe
von der Beobachtungsliste genommen
worden, weil aus US-Sicht nur noch
der globale Leistungsbilanzüberschuss
der Schweiz auffällig war.Wegen der
Devisenmarktinterventionen der SNB
und der dynamischen Entwicklung der
Schweizer Exporte in die USA dürfte
die Schweiz nun aber auf die Liste zu-
rückkehren.

100MillionenFrankensoll derBauder neuen ProduktionsanlageninYverdon kosten. VISUALISIERUNG PD

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