Neue Zürcher Zeitung - 06.11.2019

(Michael S) #1

38 KINDER- UND JUGENDBÜCHER Mittwoch, 6. November 2019


Auseinem Samenkorn entsteht ein Urwald:Michael Endes«Die unendliche Geschichte» findet sinnliche Bilder für die Phantasie. ILLUSTRATION SEBASTIAN MESCHENMOSER / THIENEMANN-VERLAG


Wenn das Wort zum Wald wird


Neue Kinder- und Jugendbücher feiern die vielen Gesichter und Stimmen der Literatur


MANUELA KALBERMATTEN


Es dürfte, zumindest hierzulande, der
Traum aller Bibliothekarinnen, Eltern
und Lehrer sein: Kinder, die sich gegen-
seitig die Bücher aus den Händenreis-
sen, die dicke Wälzer sammeln, tau-
schen und teilen mit einer Begeisterung,
die sie sonst nur fürPanini-Bilder oder
Youtube-Videos aufbringen; die kleine,
verschworene Lesezirkel gründen und
über den Klassikern derWeltliteratur
ihre Computerspielzeit vergessen.
In Alan Gratz’ Kinderroman «Amy
und die geheime Bibliothek» wird er
wahr, der Traum vom leidenschaftlichen
jungen Leser, der nichts lieber will, als
ganz in einem Buch zu verschwinden
und anderen dann zu erzählen, was er
dort erlebt hat.Verantwortlich für das
an der Shelbourne-Grundschule ausge-
brochene Lesefieber ist einVerbot, ge-
nauer:die Forderung des vom Schul-
ausschuss unterstützten Elternrats, «an-
stössige» und «nicht altersgerechte»
Literatur aus der Schulbibliothek zu
entfernen, in der die neunjährige Ich-Er-
zählerin Amy einen Grossteil ihrerFrei-
zeit verbringt.
Natürlich steigt das Interesse an den
Büchern schlagartig. «Ich wette, sie
sind voll mit coolem Zeug!», sagt Amys
FreundDanny. «Genau wie die ganzen
Sender, die meine Eltern an unserem
Fernseher gesperrt haben.» Amy, die
mit «Gilly Hopkins. Eine wiekeine» ihr
Lieblingsbuch vermisst, einenRoman
über ein Mädchen, das sich denRaum
erkämpft, den Amy zu Hause vermisst,
forscht nach:Verbannt wurden Bücher,
die kindlichen Ungehorsam ungeahndet
lassen, in denen geflucht oder gestohlen
wird, die homosexuelleSympathieträger
ins Zentrum stellen oder ganz einfach
von «S-E-X» handeln;Bücher, die ande-
ren Lebens- und Sichtweisen und kind-
lichemWiderspruchsgeistRaum bieten
und die laut derElternrats-Vorsitzenden
das Lesen zum Ort machen, «an dem die
elterlicheAutorität geschwächt wird».


Kritisches Bewusstsein


Amy selbst erlebt zwar nach der Lek-
türe verbotener Schauergeschich-
ten eine schlaflose Nacht.Das ändert
aber nichts an ihrer Überzeugung und
der von der Bibliothekarin artikulier-
ten Botschaft, dass das Bücherverbot
eine «Missachtung der geistigenFrei-
heit» darstellt und es Kindern erlaubt


sein muss, «sich ihre eigene Meinung
zu bilden, auch wenn uns das mitunter
Angst macht». Es ist ein kluger Kniff,
die imRoman stetig wachsendeListe
verbannter Bücher mitTiteln zu bestü-
cken, die wiederholt aus amerikanischen
(Schul-)Bibliotheken entfernt wurden;
die «HarryPotter»-Serie gehört dazu,
Roald Dahls «Matilda» und das Bilder-
buch «ZweiPapas fürTango».
Denn nicht nur dürfte diese Liste
das Interesse junger Leser für viele der
Bücher überhaupt erst wecken und sie
dazu animieren, sich miteinander über
ihre persönlichen Leseerfahrungen aus-
zutauschen. Der im Nachwort überdies
explizit formulierteVerweis auf die Ge-
schichte und Gegenwart vonBücher-
verbannungenregt, auch über den ame-
rikanischenKontext hinaus, dazu an,
kritisch darüber zu diskutieren, wer
überhaupt aufgrund welcherWerte und
Ideale festlegt, was sich für Kinder eig-
net –oder nicht.

Gegen jugendliche Lesefaulheit


Dass sich dieseWerte undIdeale stän-
dig verschieben, zeigt sich ja auch und
ge rade in Büchern, die das Lesen und
Schreiben selbst zum Gegenstand haben
und in denen sich nicht selten beson-
ders emotional aufgeladene Diskussio-
nen verdichten. Gut informierte, kri-
tisch lesende und denkende Kinder wie
Amy sindVorbildfiguren vor dem Hin-
tergrund der Diskussionen sowohl um
Fake-News, Meinungsmonopole und
Zensur als auch um neue Medien und
jugendliche Lesefaulheit.
Für Bastian,der sich in Michael
Endes Klassiker «Die unendliche Ge-
schichte» in jeder freien Minute in ein
Buch vertieft, galten1979 andereVor-
zeichen. Die «unendliche Geschichte»,
das Buch im Buch, das der Zehnjährige
aus einem Antiquariat stiehltund auf
dem Schul-Dachboden verschlingt,
lässt ihn vom Leser zum Schöpfer und
zum mündigen Subjektreifen, das seine
eigene Geschichte in vollerVerantwor-
tung für seine Umwelt gestaltet.
Dass phantastische Literatur dazu ge-
nauso gut und vielleicht noch lustvoller
und nachhaltiger Hand bietenkann als
die aufklärerisch-didaktische,oft expli-
zit politische Literatur, die in den1970er
und1980erJahren als (einzig) angemes-
sene Lektüre für junge Bürger galt,
malt Ende in seiner Hommage an die
menschlicheImagination in Gestalt des

Phantasiereichs Phantásien detailreich
aus. Es ist diese sinnlicheVielfalt Phan-
tásiens, die auch derKünstler Sebastian
Meschenmoserin der neuen Schmuck-
ausgabe in Skizzen und Ölgemälden
zumAusdruck bringt: nicht, weil heuti-
gen Lesern das Phantastische erst (wie-
der) schmackhaft gemacht oder Kriti-
kerinnen das immersive Lesen als akti-
ver, kreativer Akt angepriesen werden
müsste wie zur Entstehungszeit der Ori-
ginalausgabe. Sondern weil Literatur,
um lebendig zu bleiben, immer neuer
schöpferischerRe-Lektüren bedarf.
Kein anderes Bild desRomans zeigt
das so schön wie der NachtwaldPerelín,
denBastian durch seinenWunsch und
seinWort aus dem vermeintlich leeren
Raum erschafft:Aus einer ersten Idee
keimen Blätter, Knospen und schliess-
lich Blüten, und«bald bildeten sich
kleineFrüchte, die, sobald siereif waren,
explodierten wie Miniaturraketen und
einen buntenFunkenregen von neuen
Samenkörnern um sich sprühten».
In seinen modernen, filmisch anmu-
tenden Gemälden zeigt Meschenmo-
ser, dass sich jede Phantasie aus einem
grossen Schatz ankollektivenVor-Bil-
dern nährt, dass diese aber nur leuch-
ten, wenn sie beständig neu imaginiert
werden. Und so ist auch der Nachtwald
Perelín zugleich schon immer und doch
erst dann da, wennBastian ihn sich vor-
stellt, ihn weiterblühen, -wachsenund
-wuchern lässt.
Kinder undJugendliche werden aber
nicht nur ermutigt, sich die Geschichten,
die sie wollen und brauchen, zu holen
und sie nach Gusto um- und weiterzu-
schreiben. Sie sollen das auch in der
Form tun, die ihnen zusagt – auch wenn
die keinem bildungsbürgerlichen Lite-
raturbegriff, dafür aber einer beeindru-
ckendenVielstimmigkeit verpflichtet ist.
Wütend über die sexistischen Sprüche,
die rigiden Kleidervorschriften und den
fast ausschliesslich männlich geprägten
Literaturkanon an ihrer texanischen
Highschool,basteltVivian inJennifer
MathieusRoman «Moxie» nach dem
Vorbild der von ihr bewunderten Riot
Grrrls feministische Flugblätter: kleine,
selbstverfasste Magazine mit Geschich-
ten, Comics und Manifesten, aber auch
mit handfesten Kampfansagen.
Diese Magazine, die sie unter dem
Titel «Moxie» – «ein anderesWort für
Courage.Für so eine Mischung aus
Mut undWut» – anonym überall in der
Schule auflegt, stossen zunächst auf

Spottund Widerstand,lösen aber als-
bald eine grosseWelle der Solidarität
und weiterer, zusehends auch öffentlich-
keitswirksamer Diskussionen und Pro-
testaktionen aus.

Brücken bauen


In ElizabethAcevedos sprachgewalti-
gemVersroman «Poet X»gelingt esXio-
mara,Tochter einer aus der Dominika-
nischenRepublik nach NewYork emi-
grierten, strenggläubigen Mutter, sich
mithilfe von selbstverfassten Gedich-
ten zuerst innerlich, später imRahmen
von Spoken-Word-Performances auch
öffentlich vonreligiösenVorschriften,
konservativen Geschlechterrollen und
misogynen wierassistischen Zuschrei-
bungen zu emanzipieren.
Xiomara, deren Name so viel bedeu-
tet wie «eine, die zum Kämpfen bereit
ist», lernt, sich als jungeFrau zu erfahren,
die nicht nurphysisch Raum einnehmen,
sondern auch ihre Stimme erheben darf:
«Mein Bruder wurde geboren als ein
sanfter Hauch, / der kaum die Luft be-
wegt. / Ich hingegen wurde geboren als
der Sturm. / Ich bin der schrille Klang,
der alle bis insMark erschüttert, / die
versuchen, ihn niederzuringen.»Wenn
schon Xiomaras in unterschiedlichen
Schriftbildern gesetztenVerse ihren
Kampf umFreiheit und Selbstbestim-
mung intensiv miterleben lassen, ist es
doch derPoetry-Slam, das gesprochene
Wort, das die Befreiung bringt.
Auf der Bühne wird es für Xiomara
aliasPoet X, die beharrlich gegen die ihr
eingetrichterten Bibeltexte anschreibt,
ganz buchstäblich Fleisch.Und es baut
letztlich auch eine Brücke zu ihrer Mut-
ter ,die ihr in diesem neugeschaffenen
Raum aus lebendiger Sprache zum ers-
ten Mal richtig zuhören kann.

Alan Gratz: Amy und die geheime Bibliothek.
Aus dem Englischenvon Meritxell Janina Piel.
Hanser, München 2019. 245S., Fr. 24.90 (ab
9Jahren).
Michael Ende (Text) / SebastianMeschenmo-
ser (Illustration): Die unendlicheGeschichte.
Schmuckausgabe. Thienemann, Stuttgart


  1. 416S., Fr. 51.90 (ab 11 Jahren).
    Jennifer Mathieu: Moxie. Zeit, zurückzuschla-
    gen.Aus dem Englischen von Alice Jakubeit.
    Arctis, Zürich2018. 350S., Fr. 21.50 (ab 14
    Jahren).
    Elizabeth Acevedo: Poet X. Aus dem Engli-
    schen von LeticiaWahl. Rowohlt, Hamburg

  2. 351S., Fr. 24.90 (ab 14 Jahren).


Zikaden können


auch anders!


Eine mini malistische Geschichte
des Bi lderbuchkünstlers Shaun Tan

rbl.·Keiner arbeitet zuverlässiger,kei-
ner ist unermüdlicher, keiner hat so viele
Hände zumTippen. Und dennoch mag
ihnkeiner, ignorieren ihn die meisten
und quälen ihn einige in dem riesigen
Büroturm, wo er arbeitet. Dann schickt
man ihn inRente, obwohl er nichts hat,
wovon er leben könnte, und auchkei-
nen Ort, an dem man ihn wohnen liesse.
Denn der Herr in Anzug und Krawatte

ist eine Zikade. Oder sieht so aus.Was
also tun, wenn man ihn nicht mehr will?
Er geht hinauf auf dasDach desWol-
kenkratzers, stellt sich an denRand über
dem Abgrund. Und erlebtkein blaues,
aber einrotes Wunder – was noch viel
besser ist.

Shaun Tan: Zikade. Aus dem Englischen von
EikeSchönfeld. Aladin-Verlag,Stuttgart 2019.
32 S., Fr. 27.90 (ab 5Jahren).

Kochtopfmusik


und Ohrbrücken


Ein Musiksa chbuch pr äsentiert
schräge Klänge und Instrumente

ALICE WERNER

Ob Technik oder Natur, Architek-
tur oderKunst –die polnischen Buch-
gestalter Aleksandra Mizielinska und
Daniel Mizielinski, die sich mit originel-
len Sach(wimmel)büchern einen Namen
gemacht haben, interessieren sich mit
spürbarer Begeisterung für die verschie-
denstenThemen. In«Wie das klingt!»
durchforsten sie die moderne Musik-
geschichte nach den neuartigsten Instru-
menten, den unerhörtesten Geräuschen,
denexperimentierfreudigstenKünstlern
und den schrägsten Musiktheorien. Her-
ausgekommen ist ein Sammelsurium an
Fakten, ein philosophisches Musikge-
stöber, das die Grafiker mit der Hilfe
zweier Musikautoren in fünf Leitkapi-
teln bündeln. Stets auf den Spuren der-
jenigen, die auf abseitigen Musikpfaden
wandeln, fragen die beiden Buchgestal-
ter, was ein Geräusch überhaupt ist, wo
sich überall Musik finden lässt und wer
die Bezeichnung Musiker verdient.
In prägnantenTexten wird erläu-
tert, warum auch Stille Musik ist, wie
sich Stadt- oderKochtopfgeräusche zu
Melodien verdichten und dass Musik-
stücke nach (mathematischen) Grund-
regelnkomponiert werden oder aber
reine Zufallsprodukte sein können.
Daneben stellen dieKünstler witzige
Musikmaschinen vor, etwa eine Satel-
liten-Ohrbrücke zwischen Köln und
SanFrancisco und dieRoboter, die bei
einem Konzert derBand Kraftwerk
die echten Musiker vertraten. Zusam-
men mit den sinnlichen, farbsatten Ab-
bildungen im Comic-Stil ist ein ebenso
verrücktes wieverzückendesMusikbuch
entstanden.WerHörproben sucht, wird
unter http://www.wiedasklingt.de fündig.

Michal Libera, Michal Mendyk, AleksandraMi-
zielinska undDaniel Mizielinski: Wie das klingt!
Neue Töne aus aller Welt. Aus dem Polnischen
von Thomas Weiler. Moritz, Frankfurt amMain


  1. 224S., Fr. 38.90 (ab 9Jahren).


ILLUSTRATION SHAUNTAN
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