Jan Hildebrand, Frank Specht
Berlin
D
ie fetten Jahre seien
vorbei, sagte Finanz -
minister Olaf Scholz
(SPD) Anfang 2019.
Doch nun kann er sich
trotz der konjunkturellen Abkühlung
vorerst weiter über steigende Einnah-
men freuen. Die neue Steuerschät-
zung, die Scholz am Mittwoch prä-
sentierte, sieht für den Bund im lau-
fenden Jahr vier Milliarden Euro zu-
sätzlich vor gegenüber der letzten
Prognose im Mai. „Es geht unserem
Land weiter wirtschaftlich gut“, sagte
der Vizekanzler.
Dabei hatte die Bundesregierung
ihre Konjunkturprognose wieder-
holt senken müssen. Für 2019 er-
wartet sie nur noch ein Wachstum
von 0,5 Prozent, im kommenden
Jahr von 1,0 Prozent. Bei den Steuer-
einnahmen macht sich die Schwä-
chephase aber noch nicht so deut-
lich bemerkbar, was vor allem am
robusten Arbeitsmarkt liegt. So stei-
gen die Einkommen- und die Um-
satzsteuer weiter.
Für das kommende Jahr muss
Scholz nur eine minimale Korrektur
der bisherigen Steuerprognose vorneh-
men. Die Einnahmen des Bundes dürf-
ten 2020 bei 328,8 Milliarden Euro lie-
gen und damit nur 200 Millionen Euro
niedriger als im Mai vorhergesagt. In
den beiden Folgejahren fällt die Kor-
rektur etwas größer aus, bevor es dann
2023 schon wieder ein stattliches Plus
geben soll – aber das ist ohnehin alles
nach der Bundestagswahl und somit
für den Finanzminister nicht akut.
Und so sorgte die Steuerschätzung
vor allem für eine Diskussion, was
mit den zusätzlichen vier Milliarden
Euro geschehen soll, über die Scholz
dieses Jahr verfügen kann. Zumal
schon absehbar ist, dass der Über-
schuss im Bundeshaushalt am Jahres-
ende noch größer ausfallen dürfte,
etwa wegen geringerer Zinsaufwen-
dungen. Ein hoher einstelliger Milli-
ardenbetrag dürfte unter dem Strich
übrig bleiben – das weckt naturge-
mäß Begehrlichkeiten.
Die Unionsfraktion sprach sich da-
für aus, die Steuermehreinnahmen
des Bundes in diesem Jahr vollstän-
dig für den Digitalfonds zu verwen-
den. „Hier wird das Geld am drin-
gendsten gebraucht, um zügig die
Schulen zu digitalisieren und den
Breitbandausbau voranzutreiben“,
sagte der CDU-Chefhaushälter Eck-
hardt Rehberg. Scholz nannte dies ei-
ne „Handlungsoption“. Im Finanzmi-
nisterium gibt es auch Überlegungen,
den Überschuss erneut in die Asyl-
rücklage zu stecken. Damit könnte
Scholz dann in den kommenden Jah-
ren Ausgaben decken.
Scholz erreichten aber zur Präsen-
tation der Steuerschätzung viele Wün-
sche, wie das Geld sofort ausgegeben
werden könnte. „Es kommt jetzt
mehr denn je darauf an, die Mittel
zielgerichtet dafür einzusetzen, die
Bedingungen für die Unternehmen in
Deutschland zu verbessern“, sagte
DIHK-Präsident Eric Schweitzer. Er
schlug einen „Dreiklang aus steuerli-
chen Akzenten, echtem Infrastruktur-
ausbau und Bürokratieabbau“ vor.
FDP-Vizefraktionschef Christian
Dürr forderte die volle Abschaffung
des Solidarzuschlags bei der Einkom-
mensteuer als „eine erste Maßnah-
me“ zur Entlastung der Betriebe. Die
Regierung will 2021 den Soli für über
90 Prozent der Steuerzahler abschaf-
fen. Aufgrund des absehbaren Über-
schusses ließe sich die Maßnahme
auf das kommende Jahr vorziehen
und so ein Konjunkturimpuls setzen.
In der Union gibt es dafür Sympathie,
bei Scholz eher nicht.
Der Finanzminister betonte, dass
er bereits eine „expansive Haushalts-
politik“ betreibe. Die Bürger seien
entlastet worden und die Investitio-
nen auf Rekordhöhe hochgefahren
worden, so Scholz. Sollte es eine Kri-
se geben, habe man aufgrund der gu-
ten Haushaltslage „alle Kraft, um ge-
genzuhalten“. „Wir rechnen aber
nicht damit, dass das notwendig
wird“, betonte Scholz.
Die künftige EZB-Chefin Christine
Lagarde hat Deutschland hingegen
zu mehr Investitionen im Kampf ge-
gen die Konjunkturschwäche in der
Euro-Zone ermahnt. „Länder, vor al-
lem solche mit Haushaltsspielraum,
haben nicht wirklich die nötigen An-
strengungen unternommen“, sagte
sie. Sie sollten ihre Überschüsse nut-
zen, um in die Infrastruktur oder Bil-
dung zu investieren.
Der Deutsche Gewerkschaftsbund
(DGB) forderte Scholz auf, von der
schwarzen Null abzurücken und mit
Krediten ein Sofortprogramm für In-
vestitionen zu finanzieren. „Statt Über-
schüsse anzuhäufen, sollte die Bundes-
regierung wieder den Mut aufbringen,
Kredite aufzunehmen, um zu investie-
ren, und die schwarze Null über Bord
werfen“, sagte DGB-Vorstandsmitglied
Stefan Körzell dem Handelsblatt. Er
forderte ein Sofortprogramm für Inves-
titionen. „Wichtig ist jetzt ein Sofort-
programm für mehr Personal in der öf-
fentlichen Verwaltung, damit schnell
investiert werden kann und Planungen
beschleunigt werden können“, so Kör-
zell. Es reiche nicht, regelmäßig zu be-
jammern, dass vorhandene Investiti-
onsmittel nicht abgerufen würden.
Kommentar Seite 12
Steuerschätzung
Noch ein fettes Jahr
Finanzminister Scholz hat 2019 vier Milliarden Euro mehr zur Verfügung.
Arbeitsmarkt
Personalsuche
verliert an
Dynamik
Frank Specht Berlin
D
ie konjunkturelle Eintrübung
spiegelt sich immer stärker
auch in den Personalplanun-
gen der Unternehmen wider. Sie bau-
en unter dem Strich zwar weiter Stel-
len auf, allerdings nicht mehr so dy-
namisch wie in der Vergangenheit.
Darauf deutet das Ifo-Beschäftigungs-
barometer hin, das die Münchener
Konjunkturforscher monatlich exklu-
siv für das Handelsblatt berechnen.
Nach einer kleinen Unterbrechung
im September ist der Indikator im
Oktober wieder gefallen – von 98,
auf 98,7 Punkte. Vom Anfang 2018 er-
reichten Höchststand mit mehr als
105 Punkten hat sich das Barometer,
das auf den Beschäftigungsabsichten
von rund 9 000 Unternehmen fußt,
mittlerweile weit entfernt.
Vor allem in der Industrie, die be-
reits in einer Rezession steckt, wer-
den weiterhin mehr Mitarbeiter ent-
lassen als eingestellt. Im Handel
bleibt die Beschäftigtenzahl tenden-
ziell stabil. Im Baugewerbe hat die
Einstellungsbereitschaft gegenüber
dem Vormonat wieder etwas zuge-
nommen. Der Rückgang des Barome-
ters wurde allein durch den Dienst-
leistungssektor getrieben. Hier lassen
laut Ifo-Experte Klaus Wohlrabe vor
allem Transport- und Logistikunter-
nehmen mehr Zurückhaltung bei ih-
ren Personalplanungen walten.
Die nachlassende Beschäftigungs-
dynamik zeigt sich auch an den bei
der Bundesagentur für Arbeit (BA)
gemeldeten Arbeitsstellen. Im Okto-
ber waren es 764 000, rund 60 000
weniger als vor einem Jahr. Saison -
bereinigt hat sich der Bestand um
12 000 Stellen verringert. Die aktuelle
konjunkturelle Schwäche hinterlasse
durchaus ihre Spuren auf dem Ar-
beitsmarkt, sagte BA-Chef Detlef
Scheele bei der Präsentation der
jüngsten Daten. „Alles in allem zeigt
er sich aber weiterhin robust.“
Dank der üblichen Herbstbelebung
ist die Arbeitslosenzahl von Septem-
ber auf Oktober um 30 000 auf rund
2,2 Millionen gesunken. Bereinigt um
saisonale Einflüsse steht unter dem
Strich allerdings ein kleines Plus um
6 000 Personen. Dieser Anstieg sei al-
lein auf die konjunkturelle Eintrü-
bung zurückzuführen, sagte Scheele.
Erwerbstätigkeit und sozialversiche-
rungspflichtige Beschäftigung legten
aber dennoch weiter zu.
Angesichts der wirtschaftlichen
Eintrübung äußerte sich die Arbeitge-
bervereinigung BDA skeptisch zu For-
derungen des Wirtschaftsflügels der
Union, den Arbeitslosenversiche-
rungsbeitrag von derzeit 2,5 Prozent
weiter zu senken. „Gerade jetzt ist es
geboten, bei einer sich immer stärker
abkühlenden Konjunktur mit steigen-
der Kurzarbeit, die Reserve in der Ar-
beitslosenversicherung weiterhin sta-
bil zu halten“, teilte die BDA mit.
Denn gerade bei einem noch stärke-
ren Einbruch der Konjunktur oder
gar einer Rezession müsse der Sozial-
staat Handlungsfähigkeit beweisen.
Die Große Koalition hatte den Ar-
beitslosenbeitrag zu Jahresbeginn
von 3,0 auf 2,5 Prozent abgesenkt.
Die Arbeitgeber bedauern aber, dass
die Entlastung durch den gestiege-
nen Pflegebeitrag gleich wieder auf-
gefressen wurde.
Weniger als erhoft, aber
mehr als früher
Abweichungen der Steuer-
schätzung für Deutschland*
in Mrd. Euro
Schätzung Mai 2019
Schätzung aktuell
Abweichung zwischen
Geld für den Fiskus
2019
796,
793,
816,
818,0 845,
847,0 875,
877,
904,
Mrd. €
908,
Schätzung
Mai 20 19
Schätzung
aktuell
2020 2021 2022 2023
*Bund,
Länder,
Gemeinden
und EU
lu
Ill
stra
ti
o
n:
Andr
é Schorn;
Quelle
:Bund
e
sfinanzminist
e
riu
m
+2,
-1, 7
-1,
-2,
-3,
Wirtschaft & Politik
DONNERSTAG, 31. OKTOBER 2019, NR. 210
10