Berliner Zeitung·Nummer 261·9./10. November 2019–Seite 23
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F
rüher hat dasTraining den
Alltag vonDiskus-Olympia-
sieger RobertHarting be-
stimmt.Heute sind es die
Schlaf- und Essenszeiten seiner fünf
Monate altenZwillinge.RobertHar-
tingziehtbeidewarman,setztsiein
den Kinderwagen, zieht denRegen-
schutzdrüber,sichselbstdieKapuze
über denKopf. Beim Spaziergang
durch Berlin-Weißensee prognosti-
ziertder 35-Jährige dem deutschen
LeistungssporteineweitereTalfahrt.
HerrHarting,SiewarenfünfJahrealt,
als die Mauer fiel. Haben Siesich als
ostdeutscherSportlergesehen?
Anfangs schon, weil es Unter-
schiede gab,als ich nationaleRele-
vanz erreicht hatte: bei der ersten
DeutschenMeisterschaft.Da habe
ichnichtverstanden,warumSportler
mit gleichen Leistungen anders ge-
förder twurden. DasErste,waseinem
daimAltervon16,17einfällt,ist:eine
Protesthaltung.Je erfolgreicher ich
wurde ,nachWM-Silbermit22,habe
ichversucht,essozusehen,dassich
ein Sportler derBundesrepublik bin
undkeinOstler.
Warum?
Ichmagdasnicht.Ichbetitlemich
sonie .NatürlichhabeichalsJugend-
licherversucht,dadurcheinbisschen
Stabilitätzugewinnen.Ichwarin Ost-
Berlin,nieinWest-Berlin.Mit20h abe
ich das Verhalten abgelegt.Ichfinde
die Unterscheidung extrem schade.
In der Sportwirtschaft habe ich das,
wasichmit16,17gespürthabe,leider
späterimmerwiedergespürt.
EineBenachteiligung?
Nach meiner erstenMedaille im
Aktivenbereich2007,hatteichimmer
noch dasGefühl, dass meineHer-
kunft bewertet wurde,obwohl mein
erster großerSponsor aus der Nähe
vonBielefeld kam.DasGefühl der
Ungerechtigkeit hat mich motiviert,
aber ich habe späterversucht, auch
denSportler numm ichherumzuzei-
gen, dass nur ein gemeinsamerWeg
nachvorneführt.
GibtesdengemeinsamenWeg?
DieEhrung „Nachwuchssportler
desJahres“derDeutschenSporthilfe
gibt es seit 1978.Zum35. Jubiläum
kamen nur neunSportler aus den
neuen Bundesländern.In der Sport-
hilfeist,soweitich weiß,keinostdeut-
sches Unternehmen imAufsichtsrat
oder unter den Fördergeldgebern–
dashatteoffenbarEinfluss.KränktSiesoe twas?
DieganzeOst-West-Thematik ist
hinderlich. Es heißt ja teilweise im
Wetterbericht immer noch: inOst-
deutschlandundnichtimOstenvon
Deutschland.Wenn man alsNation
Erfolghabenwill,mussmandieseSa-
chen ablegen. Schließlich kann kei-
nerausmeinerGenerationetwasda-
für,dass das Land geteilt wurde.Ich
warbeimDerbyUniongegenHertha.
OstgegenWest, das istverwurzelt in
der Kultur dieserVereine,aber für
michistes:einHauptstadtderby.Vonden10000hauptamtlichenTrai-
nern undBetreuern in der DDR fan-
dennachderWendenur600derteils
hochqualifizierten,aberauchbelaste-
tenTrainereineAnstellung.
Dietrainingsmethodischen Sys-
teme,die Klassenfeindthematik, die
Frage: „Wer hatte den besseren Do-
pingplan?“ war ja nicht mehrrele-
vant.EsgabjaauchbelasteteTrainer
in Westdeutschland, sieheFreiburg.
Nach der Vereinigung hatteman
plötzlichsovieleguteSportler ,sov iel
körperliches Kapital, so viele gute
Trainer.DassichbeiTrainernausder
DDRtrainierthabe,lagaufgrunddes
WohnsitzesnaheundwareinVorteil
fürmich.Weshalb?
Weildieeintotaletabliertes,ane t-
lichen Menschen verfeinertesTrai-
ningssystem hatten.Bloß hatten sie
völlig falscheVorstellungen, was ein
AthletinheutigerZeitaushält.Wenn
damalseinAthletplattwar,halfman
anabolnach.DaswarzumeinerZeit
vorbei. Die, die sich durchgekämpft
haben, habenRaubbau am Körper
betrieben,dieBelastungnichtvertra-
gen.Wer’sdochgeschaffthat,konnte
eineextremguteLeistungerzielen.EntscheidendwarderWillezur Qual?
FürvieleOstsportlerwardieVerei-
nigungeinKatapult,dieChance,sich
mitLeistungdarzustellen.DieTendenz beiOlympiamedaillen,
heruntergebrochen aufBerlin, zeigt:
1992schafftenSportlerausderHaupt-
stadt37 Medaillen,2008nur10.Dann
gingesleichtbergauf,weilSpielsport-
artenwieHandball,HockeyoderFuß-
ballerfolgreichwaren.
BeimWM-TitelderFußballer2014
war derUmgangssprech: „wir“.Das
bedeutet: DerEinzelne schafft es
nicht.EsgibtnureinWir.DerEinzige
zu sein, und ganzvornezus ein, istnichts wert,wenndie Gesellschaft
unddie Gruppenichtsdavonhat.Das
hilftkeinemEinzelsportler.Schongar
nicht unter demDruck der anderen
Länder.Warumhabensichallegeirrt,die1989
dachten, nach demFall der Mauer
wirdDeutschland die weltweit füh-
rendeSportnationwerden?
1992 hatten wir eine ziemlich er-
folgreicheOlympiamannschaft.Das
istimmerweiterabgeebbt.1996und
2000 fing es an, komisch zuwerden,
alsdiekörperlichenHeldenaufgrund
des Alters ausgemustertwaren .Es
gabsovielestarkeAthleten,dassein
richtiges Nachwuchssystemverges-
senwurde.Alsichmit13ineinenKa-
der kam, habe ich dieGrößen noch
gesehen.Vielleicht gibt es nochTa-
lente,die durch mich motiviertwur-
den.Aberhi ernach ...gibteseinrie-
sengro ßes Problem. Ichprognosti-müsstMehrwertebilden,damitLeis-
tungssportfür die Bevölkerungwie-
der eineRelevanz hat.Damitmeine
ichden MehrwertderGesundheit.WastutderLeistungssportfürdie Ge-
sundheitderGesellschaft?
Leistungssportler haben so hohe
technologisch bemesseneVerände-
rungen im Bewe gungsapparat. All
das,waswirh erausfindenüberRege-
neration undRehabilitationsphasen
oderLeistungsfähigkeitistwichtigfür
dieGesundheitderBevölker ung.So,wie die Formel 1Erkenntnisse für
dieSerienmo dellebereitstellt?
Genau.DaskönnteeineKopfidee
derBundesrepubliksein.Dasteuern
sich vieleSachen –bis runter in den
Schulunterricht,derdannnichtmehr
ausfällt,weilallewissen,dassdieKin-
deretwasdavonhaben.EinOlympia-
sieger2032kannsagen:MeinErgeb-
nisträgt zurGesundheit derMen-
schen bei. Es ist ein großesGut, das
ichzurückgebenkann.Ende 2016 wurdeeine Leistungsport-
reform beschlossen, samtPotenzial-
analyse-Kommission,kurzPotas.
Mankann dasWort Sportref orm
garnichtanwenden,weilesgarkein
Sportsyste mgibt. DieZusammen-
führung derSystem eaus Ostund
WestwarirgendwieeinZufall.Potashilftnicht?
DasganzeReporting ohneIdee,
ohne zentrale Steuerung, ohneGeld
gehtnicht.Ichkanndochnichtweni-
gerfördernundmehrLeistungerwar-
ten.DasistdasklassischeControlling
eines Betriebswirts,ein fatalerGe-
danke,der weiter zur Reduktion von
Leistungsfähigkeitführt.Istesz ielführend,dassSportförderung
vorallemausStaatsmittelnkommt?
Durchdie Förderung derPolitik
wirst du ja jetzt keineWeltspitze. Da
kriegt man ein Grundniveaurein,
eine Teilnahmefähigkeit. Dauerhaft
vornezus ein,wir ddamitnichtgelin-
gen. Schauen wir auf das goldene
Kind der Nation,die Fußball-Natio-
nalelf:Ausind erVorrundebeiderEMzieredieTalfahrt, eineSohle bei den
Olympiamedaillen 2024, spätestens
2028.WelcheHeldenhabenSiemotiviert?
Alle wollten einAutogrammvon
LarsRiedel.Derkaman inseinemZ3
Cabrio ,parkt enicht auf demPark-
platz,sondernvorder Halle.Allesind
hingerannt. Jürgen Schult war auch
einIdol.AberRi edelwarderKing.Er
hatStützwurfgemacht.Daswollteich
auch.Dadurchwarichspäterderein-
zigeStützwerfer.AuchMichaelSchu-
macherwareinIdol.Dahabeichmit
meinemPapavordemFernseherge-
sessen,eswarLagerfeuerstimmung.BeimFernsehsport?
DerFernseherhatnatürlichseine
BedeutungverlorenimZugdergan-
zenMedialisierung.Damusssichder
Sportganzanderspositionieren:Wie
kommuniziertman? Welche Werte
undBilderübermitteltman?ImZuge
dessen haben dieSportart en per se
sichselberverg essenzuentwickeln.DasBundesinnenministeriumhatdie
finanziellenMittel für die Spitzen-
sportreformerhöht.
Schön, dass öffentlicheMittel da
sind, aber sorichtigspürt mandas
nicht. Es gibt keineIdee dahinter.
MeineKritiklautet,dassVerbändein
ihrer Trägheit ersticken.Eine große
Ideekönntesein:Okay,wirwollenim
LanddieGesundheitmotivieren,das
kann man über Leistungssport.Das
ist meineIdee,die ich dem DOSB
(DeutscherOlympischerSportbund,
Anm. d. Red.)geschrieben habe:Ihr- Ungefähr 1,3Milliarden Euro
später wurde sieWeltmeister:2014.
DasGeld ist insNachwuchssystem
geflossen, es sind junge,kreative
Spieleraufgetaucht.
WünschenSiesich eineKarriereim
LeistungssportfürIhr eZwillinge?
Aufjeden Fall. Aber die Frage ist:
WelchesLeitbildgibtesfürsie?Sieha-
benwederein Sportsystemnochein
politischesSystem oder dieFlagge,
die früher motivierthaben. Siesind
völlig frei.DerLeistungssportmuss
fragen: Wasbedeute ich derGenera-
tion2010plus?EinZ3C abrioziehtnichtmehr?
Jetzt,mit„Fridaysfor Future“,sind
solche Autos überhaupt nicht mehr
cool. Es braucht Leitbilder.Die sind
wahrscheinlichnichtmehrvonMen-
schen gemacht, sondernvon einer
Haltung, bei der der Leistungssport
einFaktorwerdenmuss .Erm usszu-
sammenmitdenSchulenAntworten
finden,dieKinderabholen.Ichweiß
nicht, ob so wasOlympischeSpiele
imLandschaffenkönnten.BeidenletztenVolksbefragungenwar
dieHaltungzuOlympiaablehnend.
Klar,esi st kein Mehrwert zu er-
kennen, nur schlechteNachrichten-
lagen. Mankönnte aber taktisch fra-
gen:WiekriegenwirdieOlympischen
Spiele her ,dasswir eine Chance ha-
ben, diesemSystem, das korrupt ist,
unseren Stempelaufzudrücken?
Dazu müssen wir uns dieFragestel-
len:WassollLeistungssportübermit-
teln? Dasist eine Aufgabe,die der
DOSB mit demBundesministerium
desInnerenlösenmüsste.Dastu ter
aber leidernicht.WiestellenSiesichdie Lage2029 vor?
DasswirimLeistungssportausder
großen Krise gelernt haben, ich im
Bundesministerium desInneren ar-
beiteundeinwirklichesSportsystem
auf die Beinestellen kann und die
Verbindung zwischen Bevölker ung
undLeistungssportimS innederGe-
sundheitintegriere.DasGesprächführte KarinBühler.BERLINER ZEITUNG/MARKUS WÄCHTER„Ich kann doch nicht
weniger fördern
und mehr Leistung
erwarten.“
OlympiasiegerRobertHartingüberUngerechtigkeitalsMotivation,körperlicheHeldenundeineneueHaltungzumLeistungssport
„FürvieleOst-Sportlerwardie
VereinigungeinKatapult“
ROBERT HARTING ...... wird am 18. Oktober 1984 in
Cottbusgeboren....kommt 1998 nachBerlinund
startetbiszuseinemKarriereen-
devoreinemJahrfürdenSCC....feiert2 009 alsDiskuswerfer
mitWM-GoldimBerlinerOlympia-
stadion den großen Durchbruch
und gewinnt 2011 und 2013 er-
neutdie WM-Titel. 2012 wirder
in LondonOlympiasieger.... studiertander Universitätder
Künste Gesellschafts- und Wirt-
schaftskommunikation.... heiratet die Berliner Diskus-
werferin JuliaFischer und wird im
Mai 2019Vater von Zwillingen.