Der Tagesspiegel - 09.11.2019

(Darren Dugan) #1

W


er liest schon die ganze Zei-
tung? Zum Beispiel den Titel-
kopf, das Kleingedruckte wird
oft übersehen: jeden Tag ein anderes Da-
tum. 75. Jahrgang, Herzlichen Glück-
wunsch! Und heute eine runde Zahl: die
Nr. 24000. Für alle, die nicht von Anfang
an dabei waren, haben wir mal durchge-
blättert. Hier eine kurze Zusammenfas-
sungder großenNummern dervergange-
nen 23.999 Tagesspiegel-Ausgaben.
Nr. 1 vom 27. September 1945, Schlag-
zeile: „Drei süddeutsche Staaten“. Gene-
ralEisenhowergibtdieBildungvonGroß-
hessen, Württemberg-Baden und Bayern
inderamerikanischenBesatzungszonebe-
kannt.30.Januar1949:dieNr.1000,eine
pralle,zehnseitigeAusgabemitGrußwor-
tengroßerMänner,gesendetindie„unteil-
bareStadt“andie„StimmeDeutschlands,
die über alle Zonengrenzen dringt“, Te-
nor:Durchhalten!Weitermachen!
Nummer 10000 vom 16.8.1978: Die
Mauer steht, drüben ziehen sie neue Plat-
tensiedlungen hoch, auch in West-Berlin
wird wieder gemörtelt – nach 14-tägi-
gem Streik im Bauhauptgewerbe. Num-
mer 15000 vom 13. August 1994: Die
Mauer ist weg, SPD-Chef Oskar Lafon-
taine kündigt an, im Fall eines Wahlsiegs
den Soli abzuschaffen und durch eine Er-
gänzungsabgabe für Besserverdienende
zu ersetzen. Kohl bleibt Kanzler.
Nr. 20000 vom 20.8.2008: Der
rot-roteSenat unter Klaus Wowereit (vor-
mals Bildungsstadtrat) droht ausländi-
schen Schulabbrechern mit Abschiebung
in ihre Herkunftsländer. Denk mal an.
Morgen ist ein neuer Tag. Was bringt
Nr. 24001? Blättern Sie weiter.


Von Tag zu Tag


Seit Tagen gibt es auf den Fluren der
BVG-Zentrale an der Holzmarktstraße
nur ein Thema. Und nicht nur dort. Es ist
die Personalie des Jahres in Kreisen aller
landeseigenen Betriebe: Wer und was
kommt nach der Ära Sigrid Nikutta?
Die Managerin steht seit neun Jahren
an der Spitze der Berliner Verkehrsbe-
triebe, einem Unternehmen, das wie
kaum ein anderes so eng mit dem Alltag
Millionen Berlinerinnen und Berlinern
verbunden ist. In guten wie in schlechten
Tagen. Die charismatische (manche sa-
gen auch eigenwillige) Frau hatte mit ih-
rer Art, ihrem herben Humor, aber auch
mitstrategischen Entscheidungenim Hin-
tergrund oft viel Aufmerksamkeit auf
sich gezogen – und weg von so manchem
Problem, das sich nicht so einfach lösen
ließ.Gleichwohlhatsie einige gelöst. Das
chronisch defizitäre Unternehmen zu-
rück in die schwarzen Zahlen geführt –
zum Beispiel.
Am späten Donnerstagabend wurden
die jüngsten Presseberichte offiziell
durch eine Mitteilung aus dem Aufsichts-
rat der Deutschen Bahn bestätigt: Nikutta
soll mit dem Jahreswechsel in den Vor-
stand desbundeseigenenKonzerns wech-
seln, in den Bahn-Tower am Potsdamer
Platz. Sie soll – auch hier – die defizitäre
Logistiksparte sanieren. Am Freitagmor-
gen lud Wirtschaftssenatorin Ramona
Pop (Grüne) zu einem ersten Lebewohl
in die Chefetage der BVG. Pop ist als Ver-
treterin desEigentümers, desLandes Ber-
lin, die Aufsichtratsvorsitzende.
DasssieeineNeue, alsoeineFraupräfe-
riert, hatte sie schon vor Tagen kundge-
tan. Das Landesgleichstellungsgesetz
schreibe vor, dass Frauen bei gleicher
Qualifikation bevorzugt werden müssen,
sagte Pop am Freitag. Namen nannte sie
nicht. Die Stelle werde aber ganz sicher
nichtan denvergeben,der sich amlautes-
ten ins Gespräch bringt. Es werde eine
ganz normale Ausschreibung geben,
sagte Pop. Damit habe man gerade gute
Erfahrungen gemacht bei der Besetzung
der BSR-Spitze. Bei der Stadtreinigung
folgte im Juni eine Frau auf eine Frau.
Aber auch Männer werden noch einge-
stellt, neuer Betriebsvorstand der BVG
ist seit Oktober Rolf Erfurt.
Diesen Zeitplan präsentierte die Wirt-
schaftssenatorin: Im Januar werde man
ein Anforderungsprofil erstellen und
eineexternePersonalberatung zurUnter-
stützung suchen. Im März könnte es
erste Gespräche mit Interessenten geben.
Zur Aufsichtsratssitzung im Juni soll der
oder die neue BVG-Chefin dann festste-
hen. Wann er oder sie dann anfangen
kann, hängt von dem alten Arbeitgeber
ab. Betriebsvorstand Erfurt war bereits
im Mai bestellt worden, konnte aber erst
Mitte Oktober anfangen.

Sorgen macht sich Pop nicht, die Stelle
gut zu besetzen. Das liegt auch an Sigrid
Nikutta. Sie habe die BVG mit der Image-
kampagne „Weil wir dich lieben“ bundes-
weit zur Marke gemacht, sagte Pop.
Hinzu komme die Attraktivität der Stadt
Berlin. Dem Vernehmen nach gab es auf
die Stelle des Betriebsvorstands hundert
Bewerbungen.
Egal wer folgt: Sie oder er wird sich an
Nikutta, ihren Erfolgen aber auch Eigen-
heiten messen lassen müssen. So ver-
schenkt die Frau gern und viele Seiden-
schals im Muster der U-Bahn-Sitze. Vor
drei Wochen flogsie einer Wirtschaftsde-
legation rund um den Regierenden Bür-
germeister nach Singapur hinterher – mit
einem Tag Verspätung, weil eines ihrer

fünf Kinder Geburtstag feierte. Sie kann
es sich leisten. Sie saß auf einem Emp-
fang im Garten des deutschen Botschaf-
ters und zog plötzlich ihr Handy aus ihrer
(ebenfalls BVG-gemusterten Handta-
sche), um darauf stolz Fotos von den
neuen Abschleppwagen zu zeigen, die
die BVG endlich angeschafft hat – so als
wären auch das ihre Babys. Irgendwie.
Sigrid Evelyn Nikutta, geboren in Po-
len, aufgewachsen in Besenkamp, einem
kleinen Ortsteil der Gemeinde Enger bei
Bielefeldin NRW,ist promoviertePsycho-
login und wollte früher mal in Gefängnis-
sen arbeiten. Aber sie habe ihre Liebe zu
großerTechnik und komplexen Organisa-
tionsabläufen entdeckt – sagte sie lange
bevor klar war, dass es zur DB geht.

Nikuttaberichtetebei derFeieram Frei-
tag von ihrem Start bei der BVG. „Der
Knochenjob geht an eine Frau“, habe eine
Zeitung damals getitelt. Und genau das
müsse sie sich jetzt wieder anhören. Die
Gütersparte der Bahn ist jahrzehntelang
geschrumpft oder eher geschrumpft wor-
den, die Zahlen sind desaströs. „Um
diese Aufgabe wird Sie keiner beneiden“,
sagte dann auch Ramona Pop.
Bei einer Metapher sind sich die bei-
den Frauen einig: Pop sprach von einer
„freundlichenScheidung“, Nikutta vonei-
ner „Scheidung mitten in einer Liebesbe-
ziehung“. Es habe kein Auseinanderleben
gegeben in den vergangenen neun Jah-
ren. Beide signalisierten: „Wir mögen
uns, wir schätzen uns.“ 2010 schrieb die
BVG noch tiefrote Zahlen, erinnerte Pop,
Nikutta schaffte die Wende. Seit 2014
sind die Zahlen schwarz. In ihren neun
Jahren sei die Zahl der Fahrgäste um 20
Prozent gestiegen (siehe Grafik), es gibt
mehr Stammkunden und mehr Abonnen-
ten, lobte Pop weiter.
Auf dieFrage, wasihreschwierigsteHe-
rausforderung gewesen sei, zögerte Ni-
kutta kurz – was nicht ihre Art ist. Dann
sagt sie: „Die brennenden Busse.“ In den
Jahren 2009 und 2010 waren zahlreiche
Busse währendderFahrt inFlammen auf-
gegangen. Wie sich später herausstellte,
steckten Fehler in der Konstruktion da-
hinter. Aber auch mangelnde Wartung
war einer der Gründe. „Ich kannte Loks,
aber keine Busse“, sagte Nikutta. Das
große Echo in den Medien habe ihr da-
malseinen Vorgeschmackgegeben auf ih-
ren neuen Job, erzählte die 50-Jährige.
Vor der BVG hatte Nikutta bei DB Cargo
in Polen gearbeitet, da gab es weder
Busse noch Kritik.
Auch wenn es bei ihrem Start die Busse
waren, die brannten, wurde schnell klar,
dassdas zentraleProblem der BVG woan-
ders liegt: bei der U-Bahn. Es gibt mittler-
weile viel zu wenige Wagen, weil keine
neuen bestellt wurden. Eine komplette
Serie („F79“) musste überraschend
schnell wegen irreparabler Mängel auf
den Schrottplatz verabschiedet werden.
Vor ziemlich genau einem Jahr musste
Nikutta bei derSPD-Fraktionim Abgeord-
netenhaus antreten, man kann auch sa-
gen: zum Rapport. Die Parlamentarier
wollten wissen, wie die BVG die Pro-
bleme bei der U-Bahn zu bewältigen ge-
denkt. Denn nicht nur Mitarbeiter waren
verwundert, dass sie 2017 den Chef der
U-Bahngegen eine – von Kritikern „uner-
fahren“ genannte – Frau austauschte.
Auch andere wichtige Leute habe Nikutta
vergrault, war in den Etagen unter der
Chefin zu hören.
Am Freitag war ein neuer Name in der
BVG-Zentrale zu hören, wenn auch nur
ganz leise: Die Chefin der Potsdamer
Stadtwerke, Sophia Eltrop, sei eine starke
Persönlichkeit, heißt esin PotsdamerRat-
hauskreisen.

Fahrgastzahlen der BVG
von 2010 bis 2019, in Milliarden pro Jahr

Quelle: BVG, *Schätzung Tsp/RB, PM

11111010 1212 1313 1414 1515 1616 1717 1818 1919
0,

0,

0,

0,

0,

1,

1,

0,920,
0,940,940,940,940,950,

0,980,

1,011,

1,051,051,061,

1,101,101,13*1,13*

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Archivbild.Der Tagesspiegel spricht Bände.
Heute erscheint die 24 000. Ausgabe.


Noch ein Jubiläum: Auch die Märchentage werden 30 und feiern ganz groß – Seite 16


BERLIN


IhrEinstieg.Im Frühjahr 2010 kam Sigrid Nikutta als Chefin zur BVG – direkt von der DB Cargo in Polen. An ihren Vorgänger kann sich
kaum noch jemand erinnern. Foto: imago/Fabian Matzerath

Sie BVGeht


Scheidung trotz Liebe: Sigrid Nikutta hat die Verkehrsbetriebe zu einer Marke entwickelt. Nun wechselt sie zur Bahn


Foto: Stepha

nWiehle

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Geblättert


Stephan Wiehlerliest
23 999 Tagesspiegel-Ausgaben nach

SONNABEND, 9. NOVEMBER 2019 / NR. 24 000 WWW.TAGESSPIEGEL.DE/BERLIN SEITE 13


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