Der Tagesspiegel - 09.11.2019

(Darren Dugan) #1
Potsdam- Der Militärischer Abschirm-
dienst (MAD) der Bundeswehr soll „Er-
kenntnisse über die Beteiligung an extre-
mistischenBestrebungen“ über denBran-
denburger AfD-Landeschef Andreas Kal-
bitz gesammelt haben. Grund ist die Mit-
gliedschaft in der „Jungen Landsmann-
schaft Ostpreußen“ (JLO). Das berichtet
der „Spiegel“. Kalbitz war Zeitsoldat und
von 1994 bis 2005 Fallschirmjäger. Dem
Bericht zufolge, hat der MAD mit Kalbitz
mindestens drei Gespräche geführt, nach
einem Personalgespräch 2001 soll ein
Vermerk des Geheimdienstes in Kalbitz‘
Personalakte gelandet sein. Und Kalbitz
sollfürReservisteneinsätze gesperrtwor-
den sein. Das Magazin beruft sich dabei
auf interne Bundeswehrunterlagen.
Kalbitz ist nicht nur Chef der Branden-
burger AfD und der Landtagsfraktion, er
sitzt auch im Bundesvorstand und ist im
nationalistisch-völkischen „Flügel“ der
wichtigste Strippenzieher. Kalbitz legte
stets darauf Wert, keine rechtsextreme
Biografie zu haben. Maximal könne man
ihm „Bezüge“ unterstellen. Er nahm
2007 an einem Neonazi-Aufmarsch in
Athen teil, besuchte im selben Jahr ein
Lager der paramilitärischen, inzwischen
verbotenen HDJ, der Holocaust-Leugner
HorstMahler undder HDJ-Führer schick-
ten ihm E-Mails und 2014 legte er den
Vorsitz eines rechtsextremen Kulturver-
eins nieder. Nun zeigt sich: Kalbitz war
sogarMitgliedin einer dereinflussreichs-
ten rechtsextremistischen Gruppen.
Kalbitz soll laut dem MAD-Vermerk
von 2001 eingeräumt haben, bereits vor
seiner Zeit in der Bundeswehr Mitglied
der von Neonazis dominierten JLO gewe-
sen zu sein. Die Organisation wurde vom
Verfassungsschutz beobachtet und war
eng mit der NPD verzahnt. Der MAD hat
Kalbitz demnach im März 2001 zu einer
nationalistischen Wallfahrt in Belgien im
August 2000 befragt. Kalbitz soll einge-
räumthaben, 1999 und2000 dabeigewe-
sen zu sein – „aufgrund des großen Inte-
resses an der deutschen Geschichte“.
Im Sommer 2001 kam der MAD er-
neut.Auf einerDiskette ausBundeswehr-
beständen mit dem Namen „Kalbitz“ be-
fand sich ein Schreiben mit dem
JLO-Briefkopf. Kalbitz räumte demnach
ein, Ende 2000 und Anfang 2001 zwei
Veranstaltungen der JLO in den Räumen
der rechtsextremen Burschenschaft Da-
nubia mitorganisiert zu haben. Zudem
sollerversprochen haben, seineJLO-Mit-
gliedschaft zu kündigen. Eine Nähe zum

Rechtsextremismus will er nur „als
Randphänomen wahrgenommen“ und
nicht gewusst haben, dass der Verfas-
sungsschutz die JLO beobachtet. Veran-
staltungen mit „für ihn rechtsextremisti-
sche Tendenzen“ habe er nicht besucht.
TrotzderMAD-Erkenntnisseüber „extre-
mistische Bestrebungen“ konnte Kalbitz
seinen Dienst in der Bundeswehr regulär
beenden und bis zum Schluss im ober-
bayerischen Altenstadt Fallschschirmjä-
ger ausbilden.
Aktuell geht das Verteidigungsministe-
rium Hinweisen auf Rechtsextreme im
KommandoSpezialkräfte(KSK)nach,die
LehrgängeinAltenstadtabsolvierthaben.
In den 1990er-Jahren
fieldieKaserneauf,weil
Fallschirmjäger Hitlers
Geburtstag feierten.
Über eine Kanzlei
ließ Kalbitz dem Spie-
gel erklären, dass die
„Verdachtsmomente
nicht zutreffend“ seien.
Die Informationen
seien „frei erfunden“
oder es sei „strafrechtlich relevant gegen
Dienst- und Verschwiegenheitsverpflich-
tungen verstoßen“ worden. Am Freitag
sagte er: „Es waren offenbar keinerlei Er-
kenntnisse vorhanden, die ausgereicht
hätten, um in irgendeiner Form dienst-
rechtliche Maßnahmen zu ergreifen.“
Die JLO war eine der zentralen Grup-
pen in der Neonazi-Szene. Die Mutteror-
ganisation „Landsmannschaft Ostpreu-
ßen“ trennte sich im Jahr 2000 wegen
Neonazi-Umtrieben von derNachwuchs-
truppe. Diese nannte sich in „Junge
Landsmannschaft Ostdeutschland“ um
und steht auf der Unvereinbarkeitsliste
der AfD für parallele Mitgliedschaften.
Bei Kalbitz Parteieintritt 2013 gab es die
Liste noch nicht. Der Einfluss der JLO im
Milieu ist nicht zu unterschätzen. Jahre-
lang organisierte sie die Nazi-Trauermär-
sche zur Bombardierung Dresdens durch
dieAlliierten imZweiten Weltkrieg. Sach-
sens Verfassungsschutz attestierte der
JLO eine „integrierende Wirkung“ bei al-
len „maßgeblichen rechtsextremisti-
schen Organisationen“. Im Vereinsblatt
desWitiko-Bundes, gegründetvon frühe-
ren NSDAP- und SS-Funktionären,
schrieb Kalbitz 2001 über den „Kampf
gegen den kulturellen und völkischen
Tod auf jahrtausendealtem deutschen
Kulturboden“und den„Ethnozidam deut-
schen Volk“. Alexander Fröhlich

An diesem Sonnabend,
dem 81. Jahrestag der anti-
semitischenNovemberpo-
gromevon 1938, wollen
Rechtsextreme durch Ber-
linsMitte ziehen.Die
Kleinstgruppe „staaten-
los.info“, ein Zusammen-
schluss sogenannter
Reichsbürgerum den ehe-
maligen NPD-Kader Rüdi-
ger Hoffmann, hat für 11
Uhr eineDemonstration
angekündigt, die am Lust-
garten (Berliner Dom) star-
ten soll.

Es sind mehrereGegende-
monstrationenangekün-
digt: Das Bündnis für ein
weltoffenes und tolerantes
Berlin lädt ab 11 Uhr auf
demBebelplatzdazu ein,
aus Büchern von Autoren
zu lesen, deren Schriften
dort1933 verbranntwur-
den. Eine weitere Kundge-
bung beginnt um 17 Uhr
amDeportationsmahnmal
Levetzowstraße in Moabit,
veranstaltet von der Berli-
ner Vereinigung der Verfolg-
ten desNaziregimes.

Im vergangenen Jahr hatte
dierechtsextreme Gruppe
„Wir für Deutschland“ am


  1. November einen Auf-
    marsch versucht. Dem Auf-
    ruf folgten jedoch nur rund
    100 Teilnehmer,diesich
    amHauptbahnhofTausen-
    den Gegendemonstranten
    stellen mussten. Mit ei-
    nem Verbot der Demonstra-
    tion am80. Jahrestagder
    Novemberpogrome war In-
    nensenatorAndreas Gei-
    sel(SPD) damals vor Ge-
    richt gescheitert. lho


Potsdam -Im Prozessgegen denehemali-
gen Landtagsabgeordneten Torsten
Krause (Linke) wegen des Vorwurfs des
Fahrtkostenbetrugs hat das Amtsgericht
Potsdam den 38-Jährigen freigespro-
chen. Es sei nicht zweifelsfrei festzustel-
len, dass sich Krause mit einer bewusst
falschen Angabe seines Wohnorts in Ly-
chen (Uckermark) Fahrtkostenpauscha-
len in Höhe von 72 000 Euro von der
Landtagsverwaltung erschlichen habe.
Das erklärte die Vorsitzende Richterin,
Christine Rühl, am Freitag in ihrer Ur-
teilsbegründung. „Daher gilt: im Zweifel
für den Angeklagten.“
Die Staatsanwaltschaft hatte für
Krause eine einjährige Haftstrafe auf Be-
währungsowiedie Einziehungdes angeb-
lich erschwindelten Geldes gefordert.
DieVerteidigung hatteauf Freispruch plä-
diert. Die Staatsanwältin kündigte nach
dem Urteil an, eine Berufung prüfen.
Keiner der mehr als 20 Zeugen habe
erklärt, dass er Krause nicht in Lychen
gesehen habe oder dass er den 38-Jähri-
gen gar nicht kenne, sagte die Richterin
in der Begründung. „Wie oft man an sei-
nem Wohnort sein muss, um sagen zu
können, dass dies der Wohnort sei, weiß
niemand zu sagen.“. Dazu gebe es auch
keine Vorschrift des Landtags.
Die Anklage hatte Krause vorgewor-
fen, dass er von 2005 bis 2012 Lychen als
Wohnort vorgetäuscht habe, obwohl er
tatsächlich in Potsdam und Berlin gelebt
habe. Damit habe er sich monatlich rund
1000 Euro und insgesamt rund 72 000
Euro erschwindelt.
In seinem Schlusswort wies Krause er-
neut alle Vorwürfe zurück und erklärte,
er sei überzeugt, rechtmäßig gehandelt
zu haben. „Ich war Mitglied des Land-
tags, um Gesetze zu schaffen, und nicht,
um sie zu brechen“, betonte er. Zur Land-
tagswahl 2014 sei er nicht mehr angetre-
ten, weil er eine wissenschaftliche Kar-
riere angestrebt habe. Zu seiner derzeiti-
gen Tätigkeit äußerte er sich nicht.
Die Ermittlungen waren 2012 nach ei-
neranonymenAnzeige gegenKrauseein-
geleitetworden.ImMaivergangenenJah-
res hatte das Amtsgericht einen Strafbe-
fehlgegenKrauseerlassen.Dieserlautete
aufzehn Monate zurBewährung und Ein-
ziehung des erlangten Geldes. Krause
hatte dagegen Einspruch eingelegt und
sichvonseinerTätigkeitalsBüroleiterder
damaligen Gesundheitsministerin Diana
Golze (Linke) beurlauben lassen. dpa

Schönefeld - Vor dem angestrebten
BER-Start 2020 macht erneut eine Füh-
rungskraft am künftigen Hauptstadtair-
port den Abflug: Die Flughafengesell-
schaft Berlins, Brandenburgs und des
Bundes(FBB) musseinenneuen Technik-
chef suchen, schon wieder. Nach Finanz-
geschäftsführerin Heike Fölster nimmt
Betriebsleiter Carsten Wilmsen seinen
Hut, der erst vor einem Jahr als Nachfol-
gervonTechnikchef Jörg Marksangeheu-
ert worden war. Wie die FBB am Freitag
mitteilte, geht Wilmsen „auf eigenen
Wunsch“ Ende Mai 2020: „Ermöchte
sich beruflich außerhalb der Luftver-
kehrsbranche weiterentwickeln“. Ehe
Wilmsen zurFBBkam,war erunterande-
rem Bauchef am
Münchener Airport.
Ursprünglich hatte
FlughafenchefEngel-
bert Lütke Daldrup
versucht, Wilmsen
zumviertenFBB-Ge-
schäftsführer zu ma-
chen,was an Wider-
ständen der Eigner
scheiterte.Zwarwer-
den nun sogar zwei
FBB-Geschäftsfüh-
rerposten frei, da Personalchef Manfred
Bobke von Carmen im Mai 2020
in Rente geht. Und nach dem Suchprofil
der beiden Posten wäre auch eine Bauzu-
ständigkeit möglich. Doch Wilmsen geht
lieber als sich zu bewerben. In den Mona-
ten vor der geplanten BER-Eröffnung
steuert Lütke Daldrup allein. In der Flug-
hafengesellschaft ist Wilmsen bisher
nicht für den BER zuständig, sondern für
Erweiterungen wie das neue Terminal
T2, das neben dem BER-Nordpier errich-
tet wird. Dort hatte es zuletzt Probleme
und Verzögerungen gegeben, sodass
LütkeDaldrupeinespätereFertigstellung
desT2alszumgeplantenBER-StartimOk-
tober 2020nicht ausschließt. Wilmsen
bleibe „als Betriebsleiter Bau & Technik
biszurBaufertigstellungsanzeigedesTer-
minal2–vertraglichfürden15.Mai
zugesagt - an Bord und ist für dieses Pro-
jektweiterhinvoll verantwortlich“,so die
FBB. Thorsten Metzner


Im Visier des MAD


Der AfD-Politiker Kalbitz war Soldat.


Der Geheimdienst überprüfte ihn


Neonazi-Demo und Gegenprotest in Mitte


Berlin- Ruth Hirsch war 20 Jahre alt, als
sie ihr Zuhause verlor. Da war sie schon
seit einem Jahr Zwangsarbeiterin der
Firma Siemens & Halske. Ihre Arbeits-
stätte waren die Werner-Werke in Span-
dau, ihr Wochenlohn: 20 Reichsmark. Im
Februar 1941 musste die junge Frau ihre
Wohnung amSchiffbauerdamm 29verlas-
sen. Weil Generalbauinspektor Albert
Speer hier seine „Große Halle“ bauen
wollte, Teil der neuen Hauptstadt „Ger-
mania“, für deren Bau die gesamten Ge-
bäudenördlich der Spreeabgerissen wer-
den sollten. Dazu kam es nicht, letztend-
lich zerstörte der durch die Nazis begon-
nene Zweite Weltkrieg das Haus im März


  1. Da war Ruth Hirsch vermutlich
    schon tot. Ermordet in Auschwitz, weil
    sie Jüdin war.
    Heute steht dort, wo sie mit ihren
    Adoptiveltern Willy und Rosalie Hirsch
    unddreiUntermietparteienlebte, das Ma-
    rie-Elisabeth-Lüders-Haus, das zum Bun-
    destag gehört. Zum heutigen Jahrestag
    der Reichspogromnacht 1938, welche
    den Übergang von einer Diskriminierung
    von Juden hin zu ihrer systematischen
    Verfolgung markierte, lädt der Bundes-
    tagsmitarbeiter Stefan Klein alle Interes-
    senten zu einer Gedenkfeier ein: um 11
    Uhrbeiden Stolpersteinen, amSpreeufer
    vor dem Marie-Elisabeth-Lüders-Haus.
    Zehn Stolpersteine erinnern dort seit
    2015 an die ehemaligen jüdischen Be-
    wohner und ihre Angehörigen. Auf den
    Tafeln stehen zehn Namen: Ruth Hirsch
    (1921-1943), ihr Bruder Abraham A.
    Hirsch (1921–1944), ihre Eltern Willy
    und Rosalie (Jg. 1880 bzw. 1879, depor-
    tiert 1942), Ella Horowitz (1886–1943),
    Jacob Tichauer (1894–1940), sein Bru-
    der Max Tichauer (1897–1943), seine
    Frau Else (1902–1943), Jenny Schwer-
    senski (1874–1939), ihr Mann Martin
    (1879–1942).


„Die Geschichte der Bewohner des
Hauses Schiffbauerdamm 29 steht exem-
plarisch für die Lebenswege vieler Juden
in Berlin“, sagt die Historikerin Susanne
Willems. „Für ihren erzwungenen Woh-
nungsverlust und die systematische Ver-
elendung vor ihrer Deportation.“ Wil-
lems hat die Biografien der Bewohner
und Speers wohnungsmarktpolitische
Maßnahmen für den Bau der neuen
Hauptstadt in Berlin recherchiert und
wird bei der Gedenkfeier sprechen.
Die jüdischen Mieter mussten gucken,
wo sie blieben. Während die anderen 28
Mietparteien des Hauses sich alternative,
von Juden bewohnte Wohnungen, aussu-
chendurften. Deshalb bedeutete die Räu-
mung nur dieses einen Hauses am Schiff-
bauerdamm, dass jüdische Mieter in 26
verschiedenen Mietshäusern in acht Be-
zirken wohnungslos wurden.

Ruth Hirsch kam mit ihren Eltern am


  1. März 1941 bei der Musiklehrerin Er-
    nestine Hannemann in der Friedrich-
    straße 52/53 unter. Sie teilten sich ein
    Zimmer im dritten Stock. Als ihre Eltern
    im Juni 1942 deportiert wurden, musste
    sie sich wieder ein neues Quartier bei Ju-
    den in Berlin suchen und wurde von Else
    und Johanna Baden in der Linienstraße
    111 aufgenommen. Ihr letzter Unter-
    schlupf war die Rathenower Straße 8.
    Am 3. Februar 1943 wurde Ruth mit vie-
    lenanderen Juden nachAuschwitz depor-
    tiert. Die Zeitzeugin Marie Jalowicz Si-
    mon hat über diese Zeit ein Buch ge-
    schrieben. Sie zitiert Ruth Hirsch mit
    dem Satz: „Wie schön wäre das doch,
    wenn man normalen Lohn und nicht die-
    sen reduzierten Judenlohn bekäme und
    richtig lernen, die Gesellenprüfung ma-
    chen und Dreherin werden könnte.“


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  1. JAHRESTAG DER NOVEMBERPOGROME D


Wohnortfrage:


Linke-Politiker


freigesprochen


Flughafen


verliert erneut


Technikchef


Carsten Wilmsen


geht Ende Mai 2020


In den


Monaten vor


der Eröffnung


ist der Lütke


Daldrup


alleine


Foto: Sebastian Gabsch

Vertrieben, ermordet, erinnert


Dort, wo heute


das Parlament sitzt,


wohnten einst Juden.


Sei wurden von


den Nazis deportiert.


Am Sonnabend wird


ihrer gedacht


20 DER TAGESSPIEGEL BERLIN / BRANDENBURG NR. 24 000 / SONNABEND, 9. NOVEMBER 2019


Kalbitz

Von Laura Hofmann

Eine von Millionen.
Ein Stolperstein vor dem Bundestag
erinnert an Ruth Hirsch. Die junge
Jüdin lebte mit ihren Eltern und sie-
ben Untermietern in einem Miets-
haus am Schiffbauerdamm 29. Die
Steine liegen dort seit 2015, heute fin-
det eine Gedenkfeier statt.
Fotos: Achim Melde (l.) und OTFW (r.)
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