Der Tagesspiegel - 09.11.2019

(Darren Dugan) #1

90 Prozent Ihrer Kontakte sind für den
Müll ... Ich meine das ernst. Fühlen Sie
sich bestätigt, verkannt oder gar provo-
ziert? Jede Reaktion ist erwünscht. Wer
sich darin bestätigt fühlt, dass sein Netz-
werk einen Frühjahrsputz und Auffri-
schung vertragen könnte, bekommt Im-
pulse, das Netzwerken strategischer und
damit zielführender anzupacken. Wer
sich verkannt oder provoziert fühlt, ist
hier dennoch gut aufgehoben: Ich spre-
che Facetten des Netzwerkens an, die Sie
so noch nicht auf dem Schirm hatten. Es
geht um schnellere,
bessere und vor al-
lem innovativere Er-
gebnisse für Sie, das
Unternehmen und
die Kunden.
Ich frage kurz mal
nach: Wie viel Zeit
verlieren Sie eigent-
lich mit Netzwer-
ken? Auf langweili-
gen Events? Wie
viele Visitenkarten
sollten Sie gleich wegwerfen, weil Sie
sich weder an die Person noch den An-
lass erinnern? Wie oft haben Sie gedacht:
„Wieder so eine blöde Anfrage, die nur
auf Akquise aus ist, jetzt gehe ich wirk-
lich aus XING raus!“?
Ich bin überzeugt, dass Sie meiner Ein-
schätzung letztlich folgen, weil auch Sie
zu viele Kontakte haben, die bislang ein
Schattendasein führten und die Sie, viel
schlimmer, auch künftig nicht voranbrin-
gen. Schieben Sie die zumindest in einen
Archivordner, auch wenn die Löschtaste
oder der Papierkorb konsequenter wä-
ren. Kümmern Sie sich stattdessen um
die zehn Prozent an vorhandenen wert-
vollen Diamanten und die großartigen
Optionen, die Rohdiamanten, die Sie bis-
her übersehen haben, und fassen Sie
diese in Gold oder Platin.
Es gibt viele gute Gründe, Networking
als falschen Götzen anzuprangern – in je-
der Variante, analog und digital. Es
herrscht viel Irrglauben: Netzwerke sind
keine eierlegende Wollmilchsau. Es ist
vieles möglich, aber nicht alles für jeden
und schon gar nicht zu jeder Zeit. Fehlen-
des Know-how in Sachen Networking
und Kommunikation tun ein Übriges.
Und natürlich sind auch Angeber, Schar-
latane, Möchtegerne und Schmarotzer
unterwegs. Networking ist Teil des Le-
bens und bildet alles Gute ebenso ab wie
das Schlechte, das uns im Leben begeg-
net. Etwas anderes zu erwarten wäre le-
bensfremd. Es ist beim Netzwerken ein
wenig wie an der Börse,manmussabwar-
ten können. Viele halten Networking je-
doch für die Feuerwehrlösung, wenn die
Hütte lichterloh brennt. Das funktioniert
nicht. Manche besuchen bis zu vier
Events pro Abend. Das ist jedenfalls in
Berlin nicht schwer, denn täglich finden
circa 1400 Events aller Art von früh bis
spät statt. Man hat stets die Qual der
Wahl. Die Hyperaktivität der Event Jun-
kies, die auf Wunder warten, bringt we-
nig oder schadet sogar, denn sie geht zu
Lasten der Intensitätund Qualität von Be-
gegnungen und füllt die Kontaktliste mit
nichts als heißer Luft und ein paar über-
flüssigen Namen mehr. Die Mülltonne
ruft. Gerne zitiere ich daher Hermann
Scherer, der 2001 den US-Präsidenten
BillClintonnach seiner Amtszeit als Red-
ner zu einem spektakulären Event nach
Deutschland holte. Er bestätigt nicht nur
meinen Eindruck, sondern setzt noch
eins drauf: „Wer ständig auf Networ-
king-Events ist, hat keine Aufträge und
kein Geld.“
Die Erfahrung zeigt jedenfalls: Wer
dringend einen Auftrag oder Job braucht,


findet ihn nicht bei den gängigen Events.
Schlimmstenfallsistdie Hälfte der Anwe-
senden in einer ähnlichen Situation. Zu-
dem haben selbst die, die nicht auf der
Suche sind, selten genau das, was wir
jetzt gerne hätten. Networking entfaltet
mittel- und langfristig Wirkung.
Darum sollte man anfangen, Netz-
werke aufzubauen, ehe man sie braucht.
Geschäftiges Visitenkartensammeln –
oder für Visitenkartenverächter: sofor-
tige Kontaktanfragen auf den Social-Me-
dia-Kanälen –, übereifriges Event-Hop-
ping, Vereinsmeierei, oberflächliche Un-
terhaltungen und planloses Herumsurfen
im Web wird schon lange als Zeitver-
schwendung angeprangert. Auch von
mir. Ich nenne das gerne Networ-
king-ADHS, krankhafte Überaktivität.
Sie geht meistens einher mit Networ-
king-ADS, krankhafter Abgelenktheit bei
gleichzeitiger Aufmerksamkeitsschwä-
che. Ein gefährlicher Cocktail, der garan-
tiert zu einem führt: zu Misserfolg und
nur wenig echten Freunden.
Vielhilftviel, kann funktionieren,meis-
tens verschleudert man nur Energie. Das
ist beim Gießkannenprinzip nicht an-
ders: Jedes Pflänzchen, das gegossen
wird, kommt irgendwie durch, ein-
schließlich Unkrautund Pflanzenmit we-
nig Ertragsaussichten. Ich persönlich
setze auf Klasse, nicht auf Masse. Weni-
ger ist mehr, allerdings zu dem Preis, sich
entscheiden zu müssen. So funktioniert
das Spiel unter Erwachsenen. Wer es
nicht tut, hat viel zu viele sinnfreie Kon-
takte, die meistens nicht einmal einen
Feelgood-Efffekt haben.
Jaron Lanier hat anderes als Zeitver-
schwendung im Fokus. Er beklagt, dass
die meisten Internetnutzer kein Bewusst-
sein dafür haben, was die Social Media
mit uns zu machen imstande sind. Es
geht kaum krasser: 2018 forderte er uns

bereits auf dem Cover seines Buches
„ZehnGründe, warumdu deineSocal Me-
dia Accounts sofort löschen musst“ auf,
alle Social Media Accounts sofort zu lö-
schen. Dabei ist Lanier einer der Vorden-
ker des Internets, Erfinder des Daten-
handschuhsund neuerdings Chefstratege
von Microsoft. Ihn trieb die Sorge um,
dass wir mit all unseren Daten im Inter-
net selbst das Produkt sind und systema-
tischdurch Algorithmenmanipuliert wer-
den. Der Klappentext fasst zusammen:
„Facebook,Google & Co verkaufenpoliti-
schen Akteuren unsere Daten zur Verhal-
tensmanipulation,schadenderDemokra-
tieund fördern Armut, Hassund Entfrem-
dung. Ihre Algorithmen arbeiten so per-
fekt, dass wir uns
dieser gesellschaftli-
chen Abwärtsspi-
rale kaum entziehen
können.“ Ein span-
nendes Buch, doch
ich stimme Jaron La-
nier nicht darin zu,
dass wir unsere Ac-
counts löschen soll-
ten. Wir sollten die
Gefahren, die er auf-
zeigt, ernst nehmen
und uns im Web bewusst professionell
verhalten.Undmehr noch: den Spießum-
drehen und Nutzen aus dem Web ziehen.
Ich stieß vor etwa einem Jahr über den
Bestsellerautor und Wharton-Professor
Adam Grant auf den Begriff. Bislang traf
ich niemanden, der „Ikigai“ kennt. Doch
just im Mai 2019 überraschte mich eine
Gymnasiastin einer 11. Klasse damit,
dass sie ein Buch über Ikigai liest. Wie
passend in einer Phase, in der sich junge
Menschen überlegen, wassie werdenwol-
len. Ich sollte den jungen Leute Bewer-
bungstipps geben und hielt es für wich-
tig, zunächst an die Wurzeln zu gehen

und die Frage nach dem Lebenssinn zu
stellen. Doch was ist das denn nun, das
Ikigai? Der typische Berliner redet gerne
von „icke“ und stellt sich an die erste
Stelle.DerRest derWeltist nichtviel bes-
ser. Oft ist das Ego aufgeplustert, man
hält sich für den Nabel der Welt und
kreist um sich selbst.
Ganz anders sieht das Lebenskonzept
dervielenüber90odergarüber100Jahre
alten Japaner aus: Sie tun bis ins hohe Al-
ter viel für die Gemeinschaft und hegen
weit jenseits von Pensionsgrenzen den
Wunsch, beschäftigt zu bleiben. Das so-
wieeineausgewogeneErnährungmitviel
frischem Fisch und Gemüse, zero Junk
Food hält sie jung und gesund. Sie leben
nachderjapanischenPhilosophiedes„Iki-
gai“. „Iki“ heißt Leben. Gai heißt Wert
oder Bedeutung. Ikigai bedeutet danach
frei übersetzt, das Glück, immer beschäf-
tigt zu sein. Klingt nicht sonderlich inspi-
rierend.DieEinheimischenderInselOki-
nawa, wo auf 100000 Einwohner im
Schnitt 24,55 Hundertjährige kommen –
deutlichmehralsimweltweitenVergleich
–, beschreiben das Ikigai viel poetischer
als das, wofür es sich lohnt, morgens auf-
zustehen. Was für ein schönes Bild: Mor-
gens gut gelaunt und motiviert aufzuste-
hen,umetwas zu tun,das unserfüllt.
Genau darum geht es beim Ikigai: um
Selbsterfüllung und wie man sie erreicht.
Das Ikigai sorgt für Orientierung, indem
es zentrale Themen identifiziert, mit de-
nen wir uns auseinandersetzen sollten.
Wir erfahren dabei viel über uns selbst
undwiedasLebenfunktioniert.Esgibtfür
jeden Menschen vier relevante Sphären,
dieimZusammenhangstehenbeziehungs-
weise zusammengebracht werden müs-
sen, um das Ikigai zu erreichen: Was wir
gutkönnen.Waswirlieben.WasdieMen-
schen brauchen. Wofür Menschen (gut)
bezahlen. Wo sich sämtliche Bereiche

überschneiden, liegt unser Ikigai: Dann
tunwirgenaudas,waswirkönnen,mitLei-
denschaft.EsgibtdafürechtenBedarfund
zudem werden wir dafür gut bezahlt. Bei
allen anderen Konstellationenfehlt etwas
Wesentliches. Können wir etwas richtig
gut, doch keiner bezahlt dafür, dann ist
das entweder ein Hobby oder fatal, wenn
wir meinen, damit unseren Lebensunter-
halt bestreiten zu können. Letzterenfalls
isteine Korrekturvonnöten.
Der Weg, unser Ikigai auszumachen,
ist einfach und doch sehr schwer. Wenn
Sie mögen, bestimmen Sie Ihr Ikigai
gleich jetzt oder vertagen Sie es auf spä-
ter. Notieren Sie drei Dinge, die Sie gut
können, drei Tätigkeiten, die Sie lieben,
drei Dinge der Kategorie „Das braucht
die Welt“, drei gut bezahlte Tätigkeiten,
die nicht außerhalb Ihrer Möglichkeiten
liegen. Auf dieser Basis schauen Sie nach
Schnittmengen: Wenn Sie etwas richtig
gut können und das liebend gerne tun, ist
das Ihre Leidenschaft. Wo sich Bedarf
und Lieblingsaktivitäten kreuzen, da liegt
Ihre Mission. Was gut bezahlt wird und
was Sie können, taugt zum Beruf.
In der Schnittmenge dessen, was gut
bezahlt wird und was Menschen brau-
chen, liegt Ihre Berufung. Wo sich alle
vier Bereiche überlappen, genau da liegt
Ihr Ikigai. Nun wissen Sie, wo Sie stehen,
und können überlegen: Wie komme ich
dem Ikigai näher? Das ist ein Prozess und
er fängt wie jeder Prozess damit an, dass
wir uns mit einem Plan auf den Weg ma-
chenund uns Unterstützersuchen. Wenn
Sie Ihr Ikigai kennen, dann haben Sie
auch einen Kompass für Ihre Networ-
king-Aktivitäten.
Folgende Erkenntnisse sind strukturel-
ler Art. Sie gelten immer und überall.
Netzwerke sind keine Hängematten zum
Ausruhen Bereits im englischen Begriff
Networking steckt work, also Arbeit, in

deutschen Netzwerken steckt das Werk
und werken. Wer sich ausruhen möchte,
kann das Netzwerken gleich lassen. Es ist
unprofessionell, anzunehmen,dass Netz-
werke all unsere Probleme lösen. Wir
können nicht erwarten, dass andere al-
lem voran unsere Problemstellung, die
wir selbst nicht exakt definieren können,
herausdestillieren, um sodann für unser
Anliegen auf Expedition zu gehen und wo-
möglich das Wissen einzusetzen, mit
dem sie ihren Lebensunterhalt verdie-
nen. Wenn kein besonders verpflichten-
der Grund besteht,
hat kein erfolgrei-
cher Manager, keine
vielbeschäftigte Un-
ternehmerin und
auch sonst niemand
Zeit und Lust, darü-
ber zu sinnieren,
was Sie eigentlich
wollen. Punkt. Ihr
Anliegen fällt sofort
durchs Raster. Also
lassen Sie solche dif-
fusenHilfsgesuchelieber bleiben undma-
chen Sie es schlauer.
Je präziser die Frage, desto eher kann
postwendend eine Antwort erfolgen.
Seien Sie nicht enttäuscht, wenn diese
auch einmal lautet: Ich kann nicht helfen
und mir fällt derzeit auch kein Ansprech-
partner ein. Wenn Sie es geschickt ange-
stellt haben, sprich das Thema interes-
sant genugist, ist jedoch bereitsein Kopf-
kinoim Gange,daszeitversetzt ein Ergeb-
nis hervorbringen kann. Also fassen Sie
ruhig in angemessenem Zeitabstand
nach. Was ist angemessen? Das hängt
vom Gesamtkontext ab. Ich werde mich
hüten zu sagen: 14 Tagen oder vier Wo-
chen. Sie werden ein Gefühl dafür entwi-
ckeln, ob Sie nicht schon drei Tage später
anrufen sollten. Ob Siedas können,hängt
auch davon ab, wie gut Sie Ihren An-
sprechpartner kennen.
Netzwerke sind ein geschützter Raum
fürdie Mitglieder,vondem diese profitie-
ren, und zugleich ein Bollwerk gegen al-
les und jeden, das nicht dazugehört oder
zwar dazugehört, aber nicht dazu passt.
Netzwerke haben mithin auch eine Aus-
schlussfunktion. In der Literatur gibt es
meines Erachtens keine poetischere Dar-
stellung der Ausschlussfunktion von
Netzwerken als in der Fabel „Die Möwe
Jonathan“ von Richard Bach, der Schau-
flieger, Fluglehrer und bis dato erfolglo-
ser Autor war.
Inspiration lauert überall – ganz beson-
ders auf Twitter. Als Fan der Serie Vi-
kings folge ich den Schauspielern hinter
Lagertha, Ragnar und Rollo alias Clive
Standen. Ich ahnte nicht, wie humorvoll
und was für ein Poet Clive Standen ist.
Man sieht ja nur die Schauspieler, nicht
die Menschen. Als Rollo ist er der Krie-
ger, der die meisten Toten verantwortet.
Zugleich ist er ein sensibler Typ mit
schwieriger Beziehung zu seinem ebenso
inspirierendenBruder König Ragnar, den
er mehrfach verrät. Viele verzeihen Rollo
den Vertrat nicht, doch andere können
wie ich seinen Beweggrund verstehen.
Wie auch immer: Das Buch „Jonathan Li-
vingstone Seagul“ verän-derte das Leben
vonCliveStanden undist der Grund,wes-
halb er niemals aufgibt. Danke Twitter,
danke Clive!

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Der Text ist ein Aus-
zug aus dem Buch
„Vergesst Networking


  • oder macht es rich-
    tig“ von Martina
    Haas, Vahlen 2019,
    19,80 Euro.


Von Martina Haas

Lebensfroh.In Japan gibt es Menschen, die nach der Philosophie des „Ikigai“ leben. „Iki“ heißt Leben. Gai heißt Wert oder Bedeutung. Ikigai bedeutet frei übersetzt, das Glück, immer beschäf-
tigt zu sein. Die Bewohner der Insel Okinawa, beschreiben das Ikigai viel poetischer als das, wofür es sich lohnt, morgens aufzustehen. Foto: AFP

Wer sich


ausruhen
will, der

kann es
gleich

lassen


Kümmern


Sie sich


um die


wertvollen


Kontakte, die


Diamanten


Die Alten
tun viel

für die
Gesellschaft

und bleiben
beschäftigt

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