Der Tagesspiegel - 09.11.2019

(Darren Dugan) #1

Früh 6.30. Ich höre im Radio, dass die Grenze auch für Reisende im Moment völlig offen ist!!


Bis zum Reisegesetz. Irre!!!! Ist die Mauer so gut wie weg?


„Ja, sie ist so gut wie weg. Tausende reisten heute über alle Grenzübergänge, um nun endlich


einmal zu sehen, wie es ,drüben‘ aussieht. Es mutet an wie Sciencefiction. Kilometerlange


Staus von Trabbis auf einem Tagesausflug nach Helmstedt, tanzende DDR-Leute auf dem


Ku’damm. Blumen für die Grenzsoldaten. Man denkt noch, es ist alles nur ein Traum. Gestern


Mittag im RB hörte ich Rufe u. Pfiffe u. das Getöse einer großen Menschenmenge am Branden-


burger Tor, u. das Herz blieb uns stehen, weil ich Angst hatte, alles gerät außer Kontrolle und


unsere Leute werden aggressiv. Mit Lianne habe ich mich dann kurz entschlossen auf den Weg


gemacht, u. wir waren wild entschlossen, uns beruhigend in die Menge zu werfen. Das war dann


aber zum Glück nicht nötig. Diesseits des B. Tors nur ca. 200 strahlende friedliche Menschen,


jenseits aber die Mauer über u. über besetzt von zumeist jungen Leuten, die winkten, pfiffen u.


schrien. Eine nicht ganz einfache Situation für die VP. In der Nacht soll es dann doch sehr


schwierig geworden sein, u. jetzt können wir nur hoffen, daß drüben keine Berufsrandalierer un-


serer neugewonnenen Freiheit Schaden zufügen. Die Menschen hier sehen auf einmal ganz an-


ders aus: strahlende, freundliche Gesichter, jeder spricht mit jedem. Es ist dies wirklich ein his-


torischer Moment. (...) Auf einmal ist man wieder richtig stolz, ein DDR-Bürger zu sein.“


Freitag, 10.11.


„Gerade den Rest der heutigen Pressekonferenz mit Schabowski gesehen. Ab sofort sind für


die ,ständige Ausreise‘ alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD und W.-Bln. geöffnet,


damit die CSSR nicht mehr so belastet wird. Heute allein wieder 11000 Menschen abgehauen.


In diesem Jahr insgesamt schon über 250000, also eine Viertelmillion! – Ich bin ganz kaputt u.


habe Kopfschmerzen. Die Woche war sehr aufregend, die Arbeit anstrengend (Kowalski, Hän-


del, Italienische Kantaten).“


Sonnabend, 11.11.


Donnerstag, 9.11.


Die Wende habe ich verschlafen. Ich war damals zum
Arbeiten in Berlin. Abends kam ich erledigt und kaputt
vom Schneideraum des Klassiklabels Eterna ins Hotel,
das große am Alex. In den Nachrichten habe ichge-
rade noch Schabowski gesehen. Ich habe das aber
nicht ernst genommen. Ich habe gedacht, ja, dann
kann ich ja irgendwann beantragen, auch mal nach
Westdeutschland zu fahren, und bin ins Bett gegan-
gen. Erst als ich am nächsten Morgen aufwachte, hab
ich im Radio von dem Wahnsinn erfahren.
Die Wochen davor hatte es ja schon überall gebrodelt.
Die Demonstrationen... Ich habe in Dresden erlebt,
wie die Züge von der Prager Botschaft nach West-
deutschland fuhren. Wir lebten damals in einem Zu-
stand permanenter Aufregung. Man wusste nicht, wo
das alles hinführt. Manchmal musste ich eine Tablette
nehmen, um schlafen zu können.
Ich bin dann vom Hotel zur Arbeit. Na ja, so richtig
gearbeitet haben wir nicht an dem Tag. In der Mittags-
pause ging ich zum Brandenburger Tor, und da habe
ich das dann gesehen: Die Leute auf der Mauer, der
blaue Himmel, irre. Rüber bin ich aber nicht. Ich hatte
keine Eile. Ich wusste, es kann jetzt nicht mehr rück-
gängig gemacht werden.
Erst zwei Wochen später, als ich wieder dienstlich in
Berlin war, bin ich über die Grenze, und habe mir den
„VEB Deutsche Schallplatten“ , in dem ich arbeitete,
einmal von der anderen Seite angesehen. Die kannte
ich bis dahin nur als Spiegelbild in den Fenstern des
Reichstages. Später bin ich mit einem Kollegen den
Ku’damm entlanggebummelt. Ich habe vieles wieder-
erkannt. Es sah dort ja oft noch aus wie vor 1961.
Damals war ich oft in West-Berlin. Ich hatte dort Be-
kannte und einen Cousin. Vom Begrüßungsgeld habe
ich den ersten Döner meines Lebens gegessen.

„Auf einmal ist man wieder richtig stolz, DDR-Bürger
zu sein“, notierte ich damals in mein Tagebuch. Die
DDR war ja so ein verdruckstes Land. Wer aufmuckte,
der wurde bestraft. Und dass die Leute selber gesagt
haben: „Das wollen wir nicht mehr!“, das hat mich
beeindruckt. Dieser Stolz ist geblieben, auch wenn ich
heute, wenn ich an Dresden denke, an die AfD und
den ganzen Mist, manchmal glaube, dass man eigent-
lich keinen Grund hat, stolz zu sein. Das stimmt mich
alles eher traurig.
Es ist im Osten natürlich etliches schiefgelaufen. Es ist
viel zerschlagen worden damals, und es haben sich
auch viele Westdeutsche Sachen unter den Nagel ge-
rissen. Wir waren ja auch viel zu blöd. Wir wussten
gar nicht, wie das alles funktioniert. Da ist viel Un-
recht passiert.
Für mich persönlich hatte der Fall der Mauer erst mal
schwierige Konsequenzen. Kurz vor meinem 50. Ge-
burtstag wurde Eterna dichtgemacht. Danach das
große Nichts. Der Kollegenkreis war weg, auch mein
Selbstwertgefühl, weil ich dachte: Was ich kann, wird
nicht gebraucht. Ich hatte Kirchenmusik studiert, jah-
relange Berufserfahrung als Schnittmeisterin und
wurde dann eingestuft als Bürohilfskraft. Ich habe
eine ABM gemacht, einen Computerlehrgang, noch
eine ABM. Dann wieder lange nichts. Furchtbar. Psy-
chisch gerettet hat mich eine Ausbildung für die Tele-
fonseelsorge. Das war ehrenamtlich, aber eine an-
spruchsvolle Tätigkeit, und ich habe dabei ganz viele
Menschen kennengelernt. Ende der 90er Jahre bekam
ich dann noch mal zwei 35-Prozent-Stellen in den Bü-
ros zweier Kirchgemeinden in meiner Ecke hier in
Dresden, sodass ich mich noch durchretten konnte.
Trotzdem habe ich mir die DDR nie zurückgewünscht.
Das hat nicht nur, aber doch auch mit dem Reisen zu
tun. Ich bin schon immer viel Fahrrad gefahren und so
träumte ich einmal, ich stünde mit meinem Fahrrad
auf der Brooklyn Bridge. Nach New York bin ich nun
nicht mehr gekommen, aber nach London. Die Reise
hatte mir meine Schwester im Westen, die mich in den
schweren Jahren immer unterstützt hat, zum 50. Ge-
burtstag geschenkt. Und als ich dann über die Tower
Bridge ging, dachte ich, jetzt musst du nicht mehr
nach New York fahren. Der Traum hatte sich erfüllt.

Hildegard Miehe, 78,wurde in Torgau
geboren und lebt in Dresden. Zur
Wendezeit arbeitete sie als Schnitt-
meisterin beim Klassiklabel Eterna.

„Dieser


Stolz ist


geblieben“


„Mit dem Überfluss,
diesen Unmengen von Sachen
in den Warenträgern
und auf den Wühltischen,
konnte ich nicht umgehen.“

Dokumente aus dem


Berliner Tagebuch-


und Erinnerungsarchiv


„Ein weiterer Irrtum
meinerseits war,
dass ich die geistige Trägheit
der satten Wessis
unterschätzte.“

Fotos: Mike Wolff (2), Deutsches Tagebucharchiv Emmendingen, privat (2)

8 DER TAGESSPIEGEL WOVON TRÄUMST DU? NR. 24 000 / SONNABEND, 9. NOVEMBER 2019

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