Der Tagesspiegel - 09.11.2019

(Darren Dugan) #1

40 Jahre unterschiedliche Wege in Ost


und West werden unterschätzt. Die Le-


bensleistungen der jeweils anderen


Seite wurden verkannt. Von Westdeut-


schen wurde die DDR wie ein großes Ge-


fängnis gesehen. Tatsächlich haben die


DDR-Bürger gelebt und die SED-Stasi-


Herrschaft wurde vorsichtig beachtet


und 1989 von der Bevölkerung gestürzt


und die Einheit Deutschlands ermög-


licht. Die westdeutsche Seite sprach


von einer Befreiung. Sie bestimmte die


öffentliche Meinung. Die DDR-Bürger


schwiegen oder eine DDR-Opposition


machte die DDR zusätzlich zu einem


Schrecken. Die Mehrheit der DDR-Bür-


ger genoss die D-Mark und die Reisefrei-


heit. Unterschwellig halten Prägungen


bis heute an. Das ist vergleichbar mit


den Unterschieden von Nord und Süd.


Aber die Wiedervereinigung wird von der


größeren Mehrheit begrüßt. Nicht nur


beim Sport stehen die Deutschen in Ost


und West zusammen. Meine Meinung


ist, dass in 40 Jahren nur noch regio-


nale Unterschiede erkennbar sein wer-


den. Der Zusammenhalt von Ost und


West und Nord und Süd ist nicht gefähr-


det. Wir sollten uns über das Wunder


der Einheit freuen!


A


m Abend des 22. Dezem-
ber 1989 tanzte ich
durchs Brandenburger
Tor, vor den Augen mei-
nes peinlich berührten
fünfjährigen Sohnes, dem
diese Exaltation deutlich
zu weit ging. Ein paar Wochen später
stand er selber auf der Mauer vor dem
Tor, und davon gibt es ein Foto. Sein Ge-
sicht strahlt, vermutlich war ihm inzwi-
schen bewusst, dass sein Standort kein
gewöhnlicher war. Was die Geschehnisse
im Herbst 1989 aber für die Zukunft be-
deuten würden, konnten weder er noch
ich damals absehen. Selbst Bundespräsi-
dent Richard von Weizsäcker gab sich in
seiner Weihnachtsansprache zurückhal-
tend: „Wir in der Bundesrepublik“ woll-
ten dazu beitragen, „das Vertrauen in die
politische und in die wirtschaftliche Re-
form der DDR zu bestärken“. Kanzler
Kohl stellte eine enge Zusammenarbeit
und den Aufbau konföderativer Struktu-
ren in Aussicht. Wie sich die „Einheit un-
seres Vaterlandes“ bewerkstelligen las-
sen würde, war unklar.
Für mich war diese Einheit nicht in
Stein gemeißelt. Ich kannte die DDR gut,
hatte Familie und Freunde im Land hinter
der Mauer. Alle hatten sich eingerichtet.
Niemand rechnete damit, dass die Mauer
zu ihren Lebzeiten fallen würde. Sicher,
es gab Ausreiseanträge en masse, und im
Sommer 1989 nutzten viele Menschen
dieChance, sichüber Ungarn indenWes-
ten abzusetzen. Die große Mehrheit aber
bewegtesichnicht. Nur einewinzige Min-
derheit machte sich Gedanken, wie sie
die DDR von innen so verändern könnte,
dass alle gern dort bleiben würden.
Aus meiner Sicht schien das der rich-
tige Weg. Man mag es träumerisch nen-
nen – aber als Linke wünschte ich mir ei-
nen erfolgreichen „Sozialismus mit
menschlichem Antlitz“, wie er 1968 im
Prager Frühling aufschien und rasch wie-
der plattgewalzt worden war. An der real
existierenden DDR mochte ich nicht nur
das Ampelmännchen, sondern auch die
Polikliniken und die Berufsausbildung
mit Abitur. Mir gefiel, dass es die Pille
umsonst gab und der Paragraph 175 aus
dem Strafgesetzbuch verschwunden war.
Wenn es gelänge, die SED-Herrschaft ab-
zuwählen und einen wirklich demokrati-
schen Sozialismus aufzubauen, könnte
das der Bundesrepublik eine attraktive
Konkurrenz an die Seite stellen. So sah
mein Traum aus, den ich mit der opposi-
tionellen Bürgerbewegung im Osten
teilte.
Am 18. März 1990 war klar, dass die-
serTraumausgeträumt war.DieDDR-Be-
völkerung stimmte mit überwältigender
Mehrheit gegen ein erneutes Experi-
ment, sie wollte die staatliche Einheit so-
fort. Ich war überrascht, auch darüber,
dass dieSPD sogarin ihren früheren säch-
sischen Hochburgen – dort war sie
schließlich entstanden – so schlecht ab-
schnitt. Und mir schwante, dass die vier-
zig Jahre DDR viel mehr verändert hat-
ten, als man mit Augen sehen konnte. In
den trostlos zerfallenden grauen Städten
mit ihrer Funzelbeleuchtung und dem
Braunkohlegeruch hatten sich offenbar
Mentalitäten und Gefühle entwickelt, die
es zu begreifen und zu entziffern galt.
An dieser Entzifferung arbeite ich nach
wie vor. In den 1990er Jahren versuchte
ich als Hochschullehrerin in Konstanz,
den Studierenden am Bodensee die Ge-
schichte der DDR näher zu bringen. Das
Land war ihnen so fern wie Afrika. Als
eine Studentin ihren ostdeutschen
Freund mit ins Seminar brachte, wurde
er von allen Seiten bestaunt und befragt.
Immerhin waren die Konstanzer neugie-
rig, wollten etwas wissen über seine Er-
fahrungen und Sichtweisen. Diese Neu-
gier konnte man längst nicht überall vo-
raussetzen. Und sie traf auch nicht im-
mer auf Gegenliebe. Nicht jede, die in
Dessau aufgewachsenwarund jetztin Bo-
chumstudierte, wollteals DDRleringeou-
tet werden. Gerade unter den Jüngeren
meinte ich einen Überdruss zu entde-
cken, wenn es um Ost-West-Themen und
Zuschreibungen ging. Sie schienen sol-
che Identifizierungen weder zu brauchen
noch zu wünschen.
Aber vielleicht war das eine Wunsch-
projektion meinerseits. Vielleicht
wünschte ich mir nur, dass die
Ost-West-Trennung von der jungenGene-
ration überwunden würde, dass sie sich
unbefangen und unbeschwert auf die ge-


meinsame Zukunft einlassen könnte. Ich
wünschte es mir umso mehr, weil ich die
emotionalen Mauern in den Himmel
wachsen sah. Meine ehemaligen
DDR-Freunde wandten sich von mir ab,
wir verstanden uns nicht mehr. Sie bezo-
gen andere politische Positionen, holten
nach, was sie vorher vermisst und ver-
passt hatten. Bei ihrer „Anpassung“ leg-
ten sie eine Geschwindigkeit und Direkt-
heit vor, die mich schwindeln ließen. Aus
kritischen DDR-Bürgern wurden in null
Komma nichts hyperaktive Marktteilneh-
mer,die sich mühten, dasUlbricht-Motto
„Überholen ohne einzuholen“ endlich in
die Tat umzusetzen.
Andere, denen die Anpassung nicht so
gut gelang, versanken in Enttäuschung
und Bitterkeit. Manche überdeckten das
mit Zynismus, keine liebenswerte Eigen-
schaft. Dabeifehlte eskeineswegs anVer-
ständnis. Selbst westliche Treuhand-Ma-
nager gestanden unumwunden ein, dass
sie die Abwicklung der DDR-Wirtschaft
vor große menschliche Probleme stellte.
SichergabesdreisteOstlandritterundbe-
trügerische Übernahmen. Aber viele wa-
ren ernsthaft daran interessiert, im Osten
Deutschlands Lebensverhältnisse zu
schaffen, die denen des Westens nicht
nachstanden.
Trotzdembliebdie Kommunikationge-
stört. Weihnachten 2000 forderte Bun-
despräsident Johannes Rau, wie schon
seine Vorgänger, die Deutschen in Ost
und West auf, ihre Vor- und Fehlurteile
übereinander zu korrigieren und einan-

dermehrzuerzählen.Aber wer seinePro-
fessur an einen Westkollegen verloren
hatte, der wollte nicht erzählen, und der
neuberufene Westkollege wollte meist
auch nicht zuhören. Scham, Ressenti-
ment, Kränkung, Misstrauen, verschie-
den verteilt, erschwerten und verhinder-
ten das grenzüberschreitende Gespräch.
Sie tun das bis heute. Dass sich der
Ost-West-Gegensatz dreißig Jahre nach
der Friedlichen Revolution fast stärker
ausprägt als in den 1990er Jahren,
stimmt nachdenklich. Bücher über eine
angebliche ostdeutsche Identität verkau-
fen sich blendend. Diese Identität sei,
heißtes, aus derErfahrung konstanter De-
mütigung entstanden. Von ganz rechts,
aberauchauslinkenKreisenwirddas De-
mütigungs-Narrativeifrig bedient.Es ver-
teilt Opfer- und Täterrollen entlang des
Grünen Bandes. Es lädt Ostdeutsche
dazu ein, sich als Opfer zu definieren und
„den Westen“ kollektiv anzuklagen. Es
entlastet sie zugleich davon, sich kritisch
mit der eigenen Geschichte auseinander-

zusetzen. Stattdessen macht sich
DDR-Nostalgiebreit. Essei so viel solida-
rischer zugegangen im Osten, es habe tie-
fere Freundschaften gegeben, niemand
hätteumseinen Arbeitsplatzbangen müs-
sen. DieKostendererinnertenIdylle wer-
den ebenso ausgeklammert wie die Geg-
ner und Opfer des Regimes.
Die angebliche ostdeutsche Demüti-
gungserfahrung bietet sich hier als kom-
mode Deckerzählung an. Anstatt die ost-
deutschenBinnendifferenzenaufzuarbei-
ten, konstruiert man eine flächende-
ckende Identität, die die Brüche kittet
und den Gegensatz von Stasi-Mitarbei-
tern und Stasi-Opfern einebnet. Dass
viele SED-Kader ihr Herrschaftswissen
nach 1989 nutzten, um sich am Volksver-
mögenzubereichern,bleibtebenfalls aus-
gespart.
Selbst unter den Nachgeborenen gibt
es viele, die solchen Geschichtsklitterun-
gen aufden Leim gehen. Oder täuscht der
Eindruck? Melden sich bloß diejenigen
zu Wort, die den Ost-West-Gegensatz
schüren, um daraus politisches Kapital
zu schlagen? Hören wir ihnen nur des-
halb so aufmerksam zu, weil sie so laut
sind – und weil andere schweigen, die
ihre ambivalenteren Geschichten für sich
behalten? Von diesen Geschichten würde
ich gern mehr hören. Ein Traum?

Freuen


wir uns


Eingeebnet


Ute Frevertist Historikerin und
forscht zur Neueren und Neues-
ten Geschichte sowie zu Sozial-
und Geschlechterthemen.
Sie ist Geschäftsführende
Direktorin am Max-Planck-
Institut für Bildungsforschung.



  1. Mai – der alte
    Kampftag der
    Arbeiterklasse
    wird von der Linken
    als Tradition weiter
    gepflegt. Hier hat
    man sich am
    Neptunbrunnen in
    Mitte versammelt.


Manfred Stolpewar bis
1989 für die Evangelische
Kirche in der DDR tätig.
Von 1990 bis 2002 war
er Ministerpräsident des
Landes Brandenburg.
2002 bis 2005 amtierte
er als Bundesminister
für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen.

Aus der angeblichen ostdeutschen Demütigungserfahrung wird


eine Opferrolle konstruiert, die die öffentliche Debatte beherrscht.


DDR-Nostalgie macht sich breit. Dabei gibt es so viel mehr


Geschichten zu erzählen. Ich möchte sie endlich hören.Von Ute Frevert


Fotos: Sebastian Hesse, Mike Wolff (Frevert), Volker Tanner / promo (Stolpe)

16 DER TAGESSPIEGEL WOVON TRÄUMST DU? NR. 24 000 / SONNABEND, 9. NOVEMBER 2019

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