Der Tagesspiegel - 09.11.2019

(Darren Dugan) #1

Unterschiede machen stark


M


ich hat mal ein Journalist ge-
fragt, ob ,Coming Out‘ ein
Schwulenfilm ist. Das ist er
nicht. In allererster Linie ist
es ein Liebesfilm“, sagt Mat-
thias Freihof, während er sich in einen der
roten Sitze fallen lässt. Hier im Kleinen
Theater in Friedenau probt er derzeit für
sein neues Stück „Drei Männer im Schnee“.
„Coming Out“ ist nicht nur der einzige
DDR-Film, der Homosexualität themati-
siert. Darüber hinaus fand die Premiere aus-
gerechnet in jener Nacht statt, in der die
Mauer fiel.
„Vieledenken, dass der Filmim Jubelüber
denMauerfall untergegangensei, aberdas
Gegenteilwar derFall“, sagt Freihof.„Der
Film lieflangeund erfolgreichim KinoInter-
national,und nach demMauerfall kamenna-
türlichauchMenschenaus dem Westen, um
ihnsichanzuschauen.“
DerFilmhandelt vonPhilipp (Matthias
Freihof), einem jungenLehrer inOst-Berlin,
dermit KolleginTanja (Dagmar Manzel)
eineBeziehungführt; seine Homosexualität
haterverdrängt. Philipplernt den jüngeren
Matthias (Dirk Kummer) kennen,beide ver-
lieben sich.WedergegenüberTanja,die von
ihmein Kinderwartet,noch gegenüber Mat-
thiasöffnet er sichvollständig. Als sichdie
dreiauf einemKonzert begegnen, kommtes
zumBruch.
Andie Premierevor30 Jahrenerinnert
sichFreihof genau.Nachder Filmvorführung,
beimPublikumsgespräch, seidenAnwesen-
dender dichte Verkehrvor demKino aufgefal-
len.„Aber nur in eineRichtung: Trabbi-Lawi-
nenRichtungBornholmer undInvaliden-
straße.“ Nochinder Nachtseienerund seine
Kollegenzur BornholmerStraßegelaufen,
umsich davonzu überzeugen, dassdie
Grenzetatsächlichoffenwar. „Wenn man
überlegt, wierepressivdas Systemund wie
scheinbar unüberbrückbar dieseMauer war,
kannmangar nichtfassen, aufwelch banale
Weise die DDR endete.“
Eineshat mitdemhistorischenEreignisal-
lerdings nichts zutun:dass „ComingOut“im
Februar 1990 auf der Berlinalelief. DieEinla-
dungkamschon vor demMauerfall.Wäh-
rendes im Osten überwiegend positivesFeed-
back gab(Freihof:„Ich wurde sogarvonfrem-
denMenschen auf der Straße umarmt“), fie-
lendie Reaktionenim Westennüchterner
aus.„Es gabLeute, die sagten, dassunser Film
altbackenund langweiligseiim Gegensatzzu
dem,was bereitsim Westengezeigt wurde.“
Inder DDRsei „ComingOut“ aber nicht
nurwegendes Themas provokant gewesen,
sagt Freihof,sondern auchwegen der Haupt-
figur desLehrers. Dieser ruftseine Schüler
dazuauf,selbstbewusstzu sein.„In der DDR
hießesimmer: VomIch zumWir.Aber unser
Film proklamiert das Gegenteil – vom Wir
zum Ich.“ Der Film sei eine Einladung an die
Zuschauenden, sich mit den Figuren zu iden-
tifizieren.

Von denPlänenfür denFilm hatteder
Schauspielerüber eine BekanntebeimThea-
tererfahren. „Fürmich wareswichtig, dass
derFilm gemachtwird, weil ich selbst schwul
bin.DieDDR hatteindieser Hinsicht einiges
versäumt.“Und esseieinegroße Chance ge-
wesen, eineRollevon„einemder besten,
wenn nichtsogar dem besten Defa-Regis-
seur“angeboten zubekommen.
HeinerCarow („Die Legende vonPaulund
Paula“) sei eszu verdanken,dass der Film
überhauptzustande kam– was von derers-
ten Idee biszurPremiere sieben Jahre dau-
erte. Immerwieder habe sichCarow mutig
gegen staatlicheVersuche gestellt, den Film
zuzensieren.Dabei habees ihmgeholfen,
dass ersowohlin Ost-als auch inWest-Berlin
Mitglied inder Akademieder Künste war.
Trotzdem habedie Stasi– so war ein allge-
meinesGefühl beiderFilmcrew – ein Auge
aufdie Dreharbeitengehabt,sagt Freihof.

AberBedenken, dieRolle anzunehmen,habe
erkeinegehabt.„ZumGlück wurden unswe-
derdie Wohnungstüren beschmiert,noch
wurden wir verprügelt.Denn auchinder
DDRgab esSkinheads,diesogar ineiner
Filmszene gezeigtwerden.“ RechtesGedan-
kengutsieht erbisheute als großeBedro-
hung.In den 90er Jahren habesich zwar eine
Liberalisierung abgezeichnet, wodurch im-
mermehr Menschenden Mutgefunden hät-
ten, sichzu outen. Dochheute sei dieGesell-
schaftkonservativerdenn je. „Nachwievor
zeigen Statistiken,dass homosexuelleTeen-
agerhäufiggemobbtwerden und inden
schlimmsten FällenSuizidbegehen.“
Vor der Wende träumte Freihof davon,
die Alpen, die er nur von Bildern kannte, ein-
mal mit eigenen Augen zu sehen. Dieser
Wunsch erfüllte sich nach dem Mauerfall,
als ihm plötzlich die ganze Welt offen stand.
Heute hat Freihof andere Träume: Er

wünscht sich, dass die Menschen in
Deutschlandwieder mehr fürihre politi-
schenRechte kämpfen.
Erappelliertbesonders an jungeMen-
schen,sichfür ihre Interesseneinzusetzen:
„NehmteureRechtenicht alsgegebenhin,
denndiese könneneuchgenauso schnellwie-
dergenommenwerden.“Veranstaltungen
wieder Christopher StreetDaysolltennicht
nurals Partys wahrgenommenwerden, son-
dernmüsstenBezug zu aktuellen gesellschaft-
lichenEntwicklungennehmen. Dazugehöre
auch,sich klargegen rechteParteien wiedie
AfDzupositionieren. „Dennwenndie AfDin
die Regierung kommt, dann war’s das endgül-
tig mit den Rechten schwuler und lesbischer
Menschen.“

— „Coming Out“ wird am 9. November
um 20.30 Uhr im Kino International gezeigt,
in Anwesenheit der Hauptdarsteller.

Als die Mauer fiel, war ich elf. Wir lebten in Moabit, in der Lehrter


Straße, keine 500 Meter Luftlinie von der „Vorderlandmauer“ am


Schifffahrtskanal entfernt. Aber dass es eine Mauer gab, wusste ich


nur, weil mein Vater immer wieder erzählte, wie er als palästinensi-


scher Flüchtling aus dem Libanon mit dem Flugzeug nach Berlin-Schö-


nefeld gekommen und über die Friedrichstraße nach West-Berlin ge-


langt war. Das Schicksal meiner 15-köpfigen Familie – Vater, Mutter


und 13 Kinder – war nicht von der deutschen Teilung, sondern von


anderen weltpolitischen Verwerfungen geprägt.


Trotzdem saß am Tag des Mauerfalls die ganze Familie vor dem Fern-


seher. Wir waren sehr aufgeregt. Irgendwas würde sich auch für uns


ändern, dachten wir. Tatsächlich brachteuns der Mauerfall ebensowie


den Ostdeutschen mehr Bewegungsfreiheit. Wir waren Flüchtlinge,


staatenlos, Aufenthaltsstatus: Duldung. Das bedeutete, dass wir die


Bundesrepublik nicht verlassen durften. Ein Schwager erzählte, man


könne in Ost-Berlin günstig essen gehen, vor allem Steaks. Also lud er


uns in das Restaurant des Fernsehturms ein. Die Steaks schmeckten


komisch. Aber ich war glücklich: Zum ersten Mal in meinem Leben in


einem richtigen Restaurant zu essen. Und dieser Blick auf meine


Stadt – ein unvergessliches Erlebnis, ein Abenteuer! Echte Reisefrei-


heit kam für mich aber erst vier Jahre nach dem Mauerfall, als wir


eingebürgert und damit endlich echte Deutsche wurden. Heute bin ich


als Staatssekretärin im Berliner Senat unter anderem für das Proto-


koll und die internationalen Gäste rund um die Jubiläumsfeier verant-


wortlich. Ich bin viel rumgekommen, auch als Sprecherin des deut-


schen Außenministers. Doch keine Stadt verzaubert mich so sehr wie


meine Heimatstadt. Berlin ist heute nicht nur ein Symbol für Freiheit,


sondern auch dafür, dass man überwinden kann, was lange als unum-


stößlicheTatsache galt: dieTeilungunserer Stadt. Ichbin West-Berline-


rin und überzeugte Charlottenburgerin. Das Bewusstsein für die Ge-


schichte und die verschiedenen Biografien und Identitäten in meiner


Stadt ist mir bis heute sehr präsent. Aber Berlin beweist, wie eine


Stadt zusammenwachsen kann, trotz – oder gerade wegen – dieser


verschiedenen Identitäten. Unsere Unterschiede trennen uns nicht


mehr, sie machen uns sogar stärker. In Zeiten extremer gesellschaftli-


cher Polarisierung und spalterischer Freund-Feind-Rhetorik im ganzen


Land macht mir das sehr viel Mut und Hoffnung. Und im Fernsehturm,


der am 2. Oktober sein 50-jähriges Jubiläum gefeiert hat, bin ich noch


einige Male gewesen und habe köstlich gegessen. Die Aussicht be-


rührt mich noch immer.Sawsan Chebli


Doppelt einmalig


Matthias Freihoffwar einer
der Hauptdarsteller in Heiner
Carows „Coming Out“. Für ihn
ist es kein Schwulen-, sondern
ein Liebesfilm.


Ort mit Geschichte.
Im Kino International
an der Karl-Marx-Allee
wurde am 9. November
1989 die Premiere
von „Coming Out“
gefeiert. Im Februar
1990 lief Heiner
Carows Film auf
der Berlinale.

Sawsan Chebliist Staatssekre-
tärin für Bürgerschaftliches
Engagement und Internationales
in der Berliner Senatskanzlei.
Sie wurde in West-Berlin geboren.

„Coming Out“ war der einzige DDR-Film über Schwule. Premiere hatte er ausgerechnet am Tag des Mauerfalls.


Hauptdarsteller Matthias Freihof über einen Abend, an dem plötzlich eine Trabbi-Lawine alle mitriss.Von Inga Hofmann


Fotos: Peter Timm, Thilo Rückeis, Jens Kalaene/dpa

22 DER TAGESSPIEGEL WOVON TRÄUMST DU? NR. 24 000 / SONNABEND, 9. NOVEMBER 2019

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