Der Tagesspiegel - 09.11.2019

(Darren Dugan) #1

I


ch bin auf dem Bauernhof in Löberitz, zwischen
Dessau, Halle und Leipzig, groß geworden. In der
Saison hatten wir Gemüse und Früchte im Über-
fluss. Ich erinnere mich gerne daran, wie ich mir
im Sommer immer eine Schale geschnappt habe
undObst pflückte,Himbeeren,Erdbeeren, Brombeeren,
und die mit viel Zucker und Milch übergossen habe – da
tropft mir heute noch der Zahn. Und wenn die ersten
Kirschen kamen und ich mich auf den Baum setzte und
mir den Bauch vollschlug.
Im Winter gab es Eingewecktes, Kirschen, Aprikosen
oder Marmelade und Kartoffeln aus der Miete, einem
Erdloch, in dem Rüben und Knollen haltbar blieben. An
Jakobsmuschel und so etwas habe ich damals nie ge-
dacht, bei uns wurde gut gekocht. Meine Mutter hat je-
den Sonntag einen Braten gemacht, Kaninchen, Dam-
wild, Gänse, Tauben. Wir haben gejagt, gefüttert, ge-
schlachtet, alles selbst verarbeitet und nichts unbenutzt
gelassen. Rückblickend begeistert mich das, weil man
sich heute erst wieder dazu zwingen muss, alles zu ver-
werten. Damals war das keine Küchenphilosophie, wir
hatten es einfach in Hülle und Fülle, unbehandelte, na-
turbelassene Produkte. Es war eine unbeschwerte Zeit
voller Genuss, das hatte nichts mit der DDR zu tun, es
war Glück, dass wir das alles hatten.
Vor allem imWinterwardie Zeit, inder wir vonSüßig-
keiten träumten. Bei uns war es etwas Besonderes, wenn
es zu Ostern, am Geburtstag oder zu Weihnachten etwas


Süßesgab.Ich kann mich an„Bambina“ erinnern,da war
Kokos drin, das mochte ich, aber ich habe das zehn Jahre
nach der Wende noch mal probiert, es war schrecklich.
Wennwir malWestgeldhatten,konnten wir inden Inter-
shop gehen, da gab es Jeans, ab und zu die „Bravo“ und
Süßigkeiten: Westschokolade, „Raider“, „Bounty“, da
leuchteten die Kinderaugen. Am meisten mochte ich die
Haribo-Erdbeeren – ich habe noch in der Nase, wie
künstlich die rochen. Und sie waren so voller Ge-
schmack: Zucker, aber auch Säure, Aromen und die
Farbe! Es war einfach viel mehr von allem. Ich habe den
Geschmackdamals garnicht mitErdbeerezusammenge-
bracht. Wenn man so eine Süßigkeit hatte, hielt die Tüte
keinen Tag und geteilt wurde nicht. Noch heute, wenn
ich ein Stück Schokolade esse, muss ich aufpassen, dass
ich nicht die ganze Tafel esse.

Ich war 15, als die Mauer fiel, am Tag danach bin ich
ganz normal in die Schule gegangen. Da war die Hälfte
nicht da, aber ich bin gar nicht auf die Idee gekommen,
mit meinem Vater gleich loszufahren. Erst vier Wochen
später sind wir zum Grenzübergang in Bad Harzburg
gefahren, da war eine riesige Schlange, und wir hatten
keine Lust, den ganzen Tag anzustehen. Drei Monate
später haben wir es noch mal versucht. Ich kann mich
erinnern, dass wir bei einem Bäcker in Goslar waren –
was für eine Auswahl! Da gab es Sachen, die ich in unse-
ren Bäckereien noch nie gesehen hatte. Wir haben da-
nach auf dem Markt ein Stück Rauchaal gekauft, bei uns
auf dem platten Land gab es das ja nicht, ein Rostocker
hätte uns dafür ausgelacht. Später, als ich die Bilder von
leeren Supermarktregalen gesehen habe, fand ich dieses
Nachholen des Konsumierens aber befremdlich: Zuerst
kämpften die Leute auf den Straßen für ihre Gedanken-,
Rede- und Reisefreiheit. Aber dann, als die Grenze auf
war, ging es nur noch ums Einkaufen. Da habe ich mich
schon ein bisschen geschämt.
Wenn ich etwas aus dieser Zeit vermisse, dann ist es
der direkte Zugang zu absolut naturbelassenen und fri-
schenProdukten. Zu Hausehabe ich wiedereinen Apfel-
baum, leider habe ich da Mist gesägt, er treibt nur ganz
wenige Äpfel. Aber diesen Sommer gab es dochein paar,
einen davon habe ich frisch vom Baum gegessen. Das
war ein Gefühl wie früher, ich habe mich gleich wieder
mit Äpfeln vollgestopft.

M


eine Großmutter war Rentnerin und
durfteviel reisen.Icherinnere michda-
ran, ich muss damals acht Jahre alt ge-
wesen sein,wiesie mir ausHawaiieine
Ananas mitbrachte, die hatte drei Tage
vorher noch am Strauch gehangen. Es war ein Erleb-
nis, da reinzubeißen: vollreif, süß, ihr Saft lief mir die
Wangen runter. Ich dachte: Solche Früchte will ich
essen. Ich denke auch oft an ihre grandiosen Thürin-
ger Klöße und Kohlrouladen. Und andie Pfirsiche aus
Bulgarien, wenn es die mal gab. Die haben noch rich-
tig nach Pfirsich geschmeckt, weil sie fast reif und
nicht knochenhart geerntet wurden.
Als Kind, solange du noch nicht gemerkt hast, dass
sie dich mit den blauen und roten Tüchern verarscht
haben, hattest du ein tolles Leben in der DDR. Stern-
warte, Sommerlager,ich hatte eine ganzabenteuerrei-
che, glückliche Kindheit. Erst später, so mit 13, hat es
mit den Fragen und den Problemen angefangen. In
der Schule war ich ein freier Geist, meine Klassenka-

meraden freuten sich,wennichimStaatsbürgerunter-
richt mit dem Lehrer diskutierte, in Metaphern. Man
konnte ja nicht sagen,was man dachte. Das war zuerst
ein intellektuelles Spiel, aber irgendwann hat es ein-
fach nur noch genervt.
Mit 15 dachte ich noch, dass ich mal Diplomat wer-
den wollte wie mein Großvater. Aber der riet mir ab:
„Da musst du so viel Papier fressen, das ist nichts für
dich, bist doch ein praktischer Mensch.“ Durch Groß-
vaters Beziehungen – es lief ja nichts, ohne dass man
jemand kannte, der einen kennt – konnte ich in den
Ferien drei Wochen im „Palast Hotel Berlin“ an der
Spree gegenüber dem Berliner Dom arbeiten. Die Kü-
che war nichts für mich, ich kann nicht mit Leuten
umgehen, die rumschreien. Also spülte ich Teller und
Töpfe oder arbeitete als Kofferträger. Die Kellner wa-
ren immer das fröhlichste Volk im Hotel, sie tranken
Bier und hatten Spaß bei der Arbeit. Ich fand das cool
und beschloss, dass ich auch Kellner werden wollte.
Meine Eltern waren entsetzt.

1984 begann ich im Palast Hotel eine Kellnerlehre.
Ich erinnere mich noch, dass ein Gast mir mal eine
ganze Flasche 1979er Château d’Yquem überließ, ei-
nen Süßwein, der bei uns 590 Westmark kostete – ein
Vermögen! Mirwarer zu süß,ich habe ihn nurgetrun-
ken, weil er so teuer war. Aber ich hatte den Ge-
schmack noch nach einer halben Stunde auf der
Zunge. Ab da wollte ich mehr über Wein erfahren, das
war wie ein Virus, der mich infiziert hatte, eine Frage
führte zurnächsten, eswar wieein Sog. Ich habe mich
überBücher, die mir Gäste aus dem Westen mitbrach-
ten, weitergebildet.Aber trockenzulernen ist schwie-
rig, man muss Weine nicht nur trinken, sondern sie
auch vor Ort kennenlernen und Winzer besuchen.
Es wurde zu meinem größten Traum, die Freiheit
zu haben, überall hinreisen zu können und die Welt
zu entdecken. Lesend habe ich Burgund zum Beispiel
nie verstanden, erst als ich viel später eine Fahrrad-
tour entlang der Côte d’Or machen konnte, bekam ich
ein Gefühl für Boden, Klima und Geografie dieser Re-

gion. Heute bin ich viel unterwegs, treffe Winzer, um
mit ihnen meine eigenen Weine zu erzeugen.
Am 9. November 1989 musste ich arbeiten. Als die
Meldung vom Mauerfall im Radio kam, haben wir
Kellner es den Gästen mitgeteilt, fast alle sind gleich
losgestürmt, nur zwei Tische blieben und orderten
Champagner für alle.Dann sindwir allezurInvaliden-
straße, wir waren das vierte oder fünfte Auto, das die
Grenze dort überquerte. Wir feierten bis in den Mor-
gen. Ich sehe noch einen Amerikaner vor mir, wie er
am Brandenburger Tor auf der Westseite mit freiem
Oberkörper rumrannte und mit einer Axt auf die
Mauer einschlug.
Mit Ostalgie kann ich überhaupt nichts anfangen.
Natürlich hätte man manches aus der DDR überneh-
men können, es gab ja auch jede Menge gute Einrich-
tungen und Ideen, aber alles in allem wiegt nichts die
positiven Aspekte der Wiedervereinigung auf: Rede-
freiheit, Reisefreiheit, das Recht, frei zu denken. Das
alles würde ich gegen nichts eintauschen.

Wir hatten es ja nicht schlecht zu DDR-Zeiten.


Einprivater Fleischerladen inEichwalde am Ber-


linerStadtrand, besser konnte man es gar nicht


treffen, da warst’e auf der Sonnenseite,


Träume hast du da keine gebraucht. Da hast du


die Tür aufgemacht, und sofort standen die


Leute links und die Leute rechts. 130 halbe


Tiere, vor allem Schweine, haben wir die Woche


verkauft und 25 Viertel, und trotzdem hat’s


nicht gereicht. Als privater Handwerker durftest


du nur zehn Angestellte haben, wir konnten gar


nicht verarbeiten, was wir an Ware bekamen.


Und wir konnten auch nichts zukaufen. Wenn


du Pech hattest, waren bei den 130 Hälften nur


noch 100 Filets, weil die anderen rausgekloppt


worden waren auf dem Schlachthof, und auch


bei den Rindern haben die Zungen oft gefehlt.


Heiligabend 1989 haben wir zugemacht, das


Gitter runtergezogen und gesagt, jetzt ist


Schluss. Dann haben wir alles rausgeworfen,


denn wir wussten, dass die alten Geräte im


neuen Deutschland nichts mehr wert sind. Wir


dachten, wir machen so eine Art kleines Bistro


mit Delikatessenverkauf, von 9 bis 19 Uhr.


Dann kam die Währungsunion am 1.Juli 1990,


dann haben wir gesagt, machen wir lieber am


1.August auf. Und dann sind die Tränen geflos-


sen, weil natürlich keiner kam, die hatten ganz


andere Sorgen, mussten Zimbo-Wurst probie-


ren und Pfennigs-Salate, am ersten Tag hatten


wir 27Mark Umsatz. Da brachenWeltenzusam-


men! Dann kam eine positive Rezension im Ta-


gesspiegel, das brachte plötzlich unvorstellba-


ren Andrang und hat uns gerettet. Dann habe


ich richtig zu kochen angefangen, 28 Jahre lang


haben wir durchgehalten, darauf bin ich stolz.


Und mein Traum, nicht mehr arbeiten zu müs-


sen, ist endlich in Erfüllung gegangen.


Die Welt entdecken


Früchte vom Baum


Freie Zeit


Peter Stegerstammt aus
Lichtenberg, er arbeitete schon
in der DDR als Sommelier.
Heute ist er geschäftsführender
Inhaber von „Peter Steger Wine“
und „Sash & Fritz Wodka“.


Schmeckt nach
Weltniveau: Dem
1963 eröffneten
„Operncafé“ im
Prinzessinnenpalais
Unter den Linden
verpasste der
Gropius-Schüler
Richard Paulick
einen modernen
Look. Bis zum Ende
der DDR galt es als
Szenetreff.

In der DDR blieben viele Wünsche offen – auch, was das Essen anging. Hier erinnern


sich drei Genuss-Handwerker an den Geschmack der Kindheit, die ersten Schritte im


Beruf und ihre Träume nach dem Mauerfall.Protokolliert von Bernd Matthies und Kai Röger


Hendrik Ottowurde
1974 in Wolfen bei
Bitterfeld geboren,
heute ist er Küchenchef
in dem mit zwei Michelin-
Sternen ausgezeichneten
„Lorenz Adlon
Esszimmer“.

Carmen Krügeraus
Eichwalde hat 1990
ihre Fleischerei durch
ein Bistro ersetzt.
Lange galt sie als eine
der besten deutschen
Köchinnen. Jetzt ist
sie im Ruhestand.

Fotos: Wilfried Glienke / picture alliance / ZB, Kitty Kleist-Heinrich, Kai Röger, Hotel Adlon/ promo.

24 DER TAGESSPIEGEL 30 JAHRE MAUERFALL NR. 24 000 / SONNABEND, 9. NOVEMBER 2019

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