Der Tagesspiegel - 09.11.2019

(Darren Dugan) #1

E


s ist der 19. November 1986. Ber-
lin-Mitte. Auf dem Dach eines 75 Me-
ter hohen Hochhausesmit25Stockwer-
ken in der Leipziger Straße haben zwei
junge Männer die Nacht verbracht. Un-
bemerkt von den Bewohnern. Sie war-
ten,rauchenKette.VolkmarKienölund
sein Freund Klaus Kuschmierz kauern neben zwei
selbst konstruierten Flugdrachen. Ihr Landeplatz ist
nur200Meterentfernt.Abererliegtineineranderen
Welt: Sie wollen mit ihren Drachen direkt vor dem
Axel-Springer-Hochhaus im Westen Berlins zu Bo-
densegeln.Siewartenundwarten.Dochirgendwann
müssen sie es ja wagen, bevor es hektisch und hell
wird amBoden.
UmvierUhrmorgensziehensieStreichhölzer.Kei-
ner will zuerst springen, aber einer muss ja. Es er-
wischtKienölsFreund.SiehabendieDracheninPosi-
tiongebracht.KlausKuschmierzmussnunspringen,
sonst war alles umsonst, waren die Wochen der Vor-
bereitung vergebens. In mühevoller Kleinarbeit ha-
ben sie die Segel für die Drachen zusammengenäht,
heimlich an der polnischen Grenze in der Nacht ge-
übt, sich blaue Flecken geholt und an ihren Drachen
gefeilt. Die Flucht in den Westen sollte eine Flucht
mit Musike werden, gibt Kienöl heute zu. „Wir woll-
ten das schon spektakulär machen, zu Fuß konnte ja
jeder.“
Kurz nach vier Uhr. Nach stundenlangem Zögern
schnapptKlausKuschmierzalsoseinenDrachen.Die
Bedingungen sind gut, wenig Wind und die Distanz
musste zu schaffen sein. Kuschmierz läuft an, er-
reichtdieDachkante–undbleibtmiteinemFußhän-
gen. Er stürzt in die Tiefe, der Drachen trudelt. Ku-
schmierzhatGlück,erkanndenDrachennochstabili-
sieren – und hat Pech: Er landet im Hof der Theo-
dor-Winter-Oberschule,direktnebendemHochhaus
inder LeipzigerStraße.
VolkmarKienöleiltzuseinemFreund,deristunver-
letzt. Sie lassen alles liegen, steigen in ihren Trabbi


und fahren weg. Die beiden Mauersegler fliehen.
Vier Tage später wird ihre Fahrt in der Tschechoslo-
wakei gestoppt. Sie werden festgenommen. Die ver-
patzteFluchtendetfürdieFreundeinderDDRimGe-
fängnis. Wochenlang werden sie von der Stasi ver-
hört,eineTortur.
HeuteweißVolkmarKienölnatürlich,woranesge-
legen hat, dass sie die wenigen MeterSegelstrecke in
den Westen nicht geschafft haben. Die Dachkante,
aber vor allem ein simpler technischer Fehler stand
der Flucht nach Kreuzberg im Wege. Der Winkel für
den Flug und die äußeren Bedingungen hätten ge-
passt, nur das mit dem Anlauf hätte Kienöls Freund
nichtmachen dürfen.
Es war ein sogenannter „Klippensprung“, wie die
Drachenflieger sagen. Und da erfolgt der Start direkt
an der Kante, ohne Anlauf. Aber Kienöl und Ku-
schmierzhabendasebennichtgewusst.Woherauch?
Drachen- und Gleitschirmfliegen war in der DDR
nicht erlaubt. Fliegen! Wo doch niemand fliehen
sollte? Esgabkeinen Sport,der so wenig zumSystem
passte.„Weilersichsowenigkontrollierenließ“,sagt
Volkmar Kienöl.
Hauptmotiv der Oberen, diesen Sport zu verbie-
ten, war natürlich die Angst vor fluchtwilligen Bür-
gern.TrotzdemetabliertesichinderDDRindensieb-
ziger Jahren eine kleine Szene an Drachenfliegern.
Claus Gerhard hat die Geschichte vieler dieser Men-
schen in seinem Buch „Der begrenzte Himmel“ be-
schrieben. Rund 100 Drachen- und Gleitschirmflie-
ger gabes inder DDR, inBerührung mit der Sportart
seien aber wohl ein paar 100 DDR-Bürger gekom-
men, glaubt Gerhard. Die wenigsten von ihnen be-
trachteten ihren Sport als Vorbereitung für eine
Flucht. Das machte es ihnen aber nicht einfacher.
Denn wer mit dem Flugsport in Berührung kam,
konnte sich intensiver Überwachung sicher sein. Da-
bei fing alles ganz harmlos an. Es war 1973, als der
US-AmerikanerMikeHarkermitseinemFlugdrachen
vonderZugspitzeherabsegelteundimselbenJahrRo-

ger Moore als James Bond in „Live and Let Die“ mit
dem Drachen durch die Lüfte glitt. Der Westen hatte
einenneuenTrendsport–fürdie,diemutiggenugwa-
renundessichleistenkonnten.AusläuferderWelleka-
men auch im Osten Europas an. In Tschechien, Un-
garnundPolenversuchtensichdieerstenDrachenflie-
ger.In der DDR waren eszunächst nur wenige.
Es war der Auftakt der Schikanen, mit der die Dra-
chenflieger fortan in der DDR leben mussten. Sie
mündeten1980indasVerbotderSportart,dieinfast
allen sozialistischen Staaten weiterhin erlaubt war.
Das Verbot hatten sich die Drachenflieger – motori-
siert war es ohnehin nie erlaubt – allerdings nicht al-
lein verdient. Ausschlaggebend war die Flucht
zweier Familien im Heißluftballon im September


  1. Der Flug in den Westen wurde in westdeut-
    schenMedienausgiebigausgeschlachtetundschließ-
    lich1981als Hollywood-Kitschfilmverklappt.Allen
    Flugbegeisterten in der DDR wurde fortan das Aus-
    üben ihrer Sportarten erschwert. In der Zeit nach
    „MitdemWindnach Westen“seiesinden Flugschu-
    lenderGSTerstrechtzugegangenwieaufdemKaser-
    nenhof, hat Gerhard recherchiert.Mit Morgenappell
    in Reih und Glied. „Im Wesentlichen haben wir die
    Übungen auf dem Boden gemacht“, sagt Claus Ger-
    hard.„UndwennjemandindieLuftdurfte,dannhatte
    er mindestens einen Beobachter.“ Nach der Bal-
    lon-Flucht von 1979 wurde alles dafür getan, den
    FlugdrangderBürgereinzudämmen.VolkmarKienöl
    sagt: „Nach der Ballonflucht war das Material, eine
    Art Anorakstoff, der keine Luft durchlässt, nicht
    mehr in großen Stücken zu bekommen.“ Und diesen
    StoffbrauchtendieDrachenbastler,sagtKienöl.Aber
    werwiedieDDR-BürgeranMangelgewohntwar,der
    konnte improvisieren.
    Manchmal nervt es schon, alle Jahre wieder, ge-
    rade mit Blick auf den 9. November, auf den Flucht-
    versuch von 1986 angesprochen zu werden, sagt
    Kienöl. Aber es war eben ein spektakuläres Erlebnis,
    das ihn immer begleiten wird. „Ich habe schon mal


darüber nachgedacht, einen Schlussstrich zu ziehen,
was meine Erzählungen zu der Geschichte betrifft.
Aberichseheesnun anders–esistinOrdnung,esist
ja meine Geschichte. Ich ärgere mich aber immer
noch,dass esnicht geklappt hat.“
DerFluchtversuchvomNovember1986fandauch
im Westen Widerhall – als kleine Randnotiz. Kienöl
sagt: „Ich weiß nicht, ob und wie das passieren
konnte. Ich denke, dass vielleicht irgendjemand mit-
bekommen hat, dass 100 Meter entfernt von der
Mauer einDrachenruntergegangen ist.
Am 9. November 1989, fast genau drei Jahre nach
ihrem Fluchtversuch in der Leipziger Straße, sind
Klaus Kuschmierz und Volkmar Kienöl schon seit
zwei Jahren im Westen. Kuschmierz wurde freige-
kauft, Kienöl kam nach einer Amnestie in den Wes-
ten. Er ist heute Mitarbeiter der Nachrichtenagentur
AP. Der heutige Kameramann war erst nach dem
Fluchtversuchzueinem begeistertenDrachenflieger
geworden.
1983 hatte Volkmar Kienöl auf der auch in der
DDRpubliziertensowjetischenZeitschrift„Sputnik“
einenDrachengesehen.DashabeihnzumFluchtver-
such inspiriert, erzählt er. Eine seltsame Ge-
schichte: In der Sowjetunion war Drachenfliegen er-
laubt, in der DDR nicht. Heute wisse er, wie „wir das
damals erfolgreicher hätten gestalten können“, sagt
Kienöl und lacht. „Wir kannten die Entfernung vom
Hochhaus zur Mauer.“ So eine Distanz wie die 200
Meter von der Leipziger Straße bis zum Axel-Sprin-
ger-HochhauswärenfürihnimJahr2019beientspre-
chendenBedingungenundmitdemmodernenMate-
rialwohl eher eineAufwärmübung.
Zwei, drei Stunden gleitet Volkmar Kienöl bei gu-
ten Bedingungen schon mal durch die Luft – aller-
dings nicht nach einem Klippensprung. Heute ist er
60 Jahre alt und fliegt noch immer, besser als am 19.
November 1986. Volkmar Kienöl sagt: „Wir haben
damals zu wenig nachgedacht, daran waren wohl
der Druck und Adrenalinschub schuld.“

„ZuFuß,


daskonnte


jajeder.“


Die Grenze? Der Himmel


Volkmar Kienölarbeitet heute
als Kameramann für eine große
internationale Nachrichtenagentur.
Sein größtes Hobby ist das
Drachenfliegen.

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Traum von Freiheit.
In der DDR war das Drachenfliegen verboten,
einige riskierten den Start trotzdem.

Fotos: promo, privat

Drei Jahre vor dem Mauerfall versuchen Volkmar Kienöl und ein Freund, mit Drachenfliegern


in den Westen zu gelangen. Doch der spektakuläre Fluchtversuch scheitert.


Trotzdem ging die Geschichte für Kienöl am Ende gut aus, erzählt er heute.Von Claus Vetter


SONNABEND, 9. NOVEMBER 2019 / NR. 24 000 30 JAHRE MAUERFALL DER TAGESSPIEGEL 35


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