Der Tagesspiegel - 09.11.2019

(Darren Dugan) #1

K


arinMergnerfühltsichfastan
die Zeit damals erinnert. Die
Geschichte ihres Dorfes ist so
besonders,dasszum30-jähri-
gen Jubiläum des Mauerfalls
nun sogar US-Außenminister Mike Pom-
peodem48-Einwohner-DorfMödlareuth
seineAufwartunggemachthat-miteiner
Kolonnne von rund 40 Wagen. „Wegen
der Sicherheitsvorkehrungen mussten
wirimmerdenPersonalausweisdabeiha-
ben, wenn wir vor die Tür gingen. Das
warjawiezuDDR-Zeiten“,sagtMergner.
Bis 1989 lief auch durch ihr Dorf eine
Betonmauer, Mödlareuth, das Mini- Ber-
lin, Nachbarn waren plötzlich wegge-
sperrt.Sieistmüde,immerwiedervonda-
malszuberichten,sogareinTV-Teamaus
SüdkoreastandmalaufihremBauernhof.
„Lasst uns in Ruhe, das ist der Traum von
ganzMödlareuth“, sagt Mergner.
Die 72-Jährige hat ein Archiv der Be-
richte angelegt. Sie ärgert sich zum Bei-
spiel über die Geschichte, dass die Ein-
wohnerdurchdiedeutscheTeilungangeb-
lich so verfeindet gewesen seien, dass sie
mit Mistgabeln aufeinander losgehen
wollten. Einige Platten der 1966 gebau-
ten, 700 Meter langen Grenzmauer
nutzte sie auf ihrem Hof zur Silo-Befesti-
gung: „Irgendwo mussten sieja hin.“
Mergner kam durch die Heirat eines
LandwirtsnachMödlareuth.Heuteleben
hierzweiDrittelderEinwohnerimthürin-
gischen Teil mit der Vorwahl 036649,
Mergnerwohntimkleinerenbayerischen
Teil, Vorwahl 09295 – die Telefonnum-
mernsindhier nochdreistellig.
Sienervtauch,dassdieAfDdiesensym-
bolträchtigen Ort an der Grenze zwi-
schenBayernundThüringenfürsichent-

deckt und hier schon öfter Veranstaltun-
gen abgehalten hat. Genauso wie es im
OrtKopfschüttelngibt,wiedieLinkedrü-
ben in Thüringen wieder stärkste Kraft
seinkann-istdas SED-Regimeschonver-
gessen? Auch am Tag der Deutschen Ein-
heit gab es letztens einen großen Aufga-
lopp,CDU-ChefinAnnegretKramp-Kar-
renbauer und CSU-Chef Markus Söder
alsStargäste.„WennjemanddenFriedens-
nobelpreisverdienthat,dannsinddasdie
Menschen,diedamalsmitMutundHerz,
mit Vergebung und Kraft, mit Leiden-
schaft und Ehrbarkeit dafür gesorgt ha-
ben, dass auf deutschem Boden diese
friedlicheRevolutionstattfand“,sagteSö-
der an die Adresse auch der Menschen in
Mödlareuth. Mergner betont, hier stehe
es außer Frage, dass man wieder zusam-
mengewachsen sei. Zum Jubiläum wird
andiealte Grenzemiteiner Lichtinstalla-
tionnoch einmalerinnert.
EinTeilderaltenMaueristimmernoch
zu sehen, als Teil des deutsch-deutschen
Museums.AuchOriginalteile desMetall-
gitterzaunes und den Beobachtungsturm
von „Little Berlin“ gibt es dort. Am 9. De-
zember,vierWochennachdemMauerfall
inBerlin,wurdeauchdieMauerinMödla-
reuth löchrig, es wurde ein Grenzüber-
gangfür Radfahrer und Fußgängereinge-
richtet.Am17.Juni1990wurdesieeinge-
rissen.Für23JahrewarMödlareuthkom-
plett getrennt, es gab keinen Checkpoint

als Grenzübergang. Die Ursache geht auf
denTannbachzurück,derdasDorfschon
1810 teilte, ein Teil gehörte fortan zum
Königreich Bayern, der andere zum Kö-
nigreich Reuß. Nach dem Ersten Welt-
kriegkamderWestteilindenneugegrün-
deten Freistaat Bayern, der Ostteil ge-
hörte zu Thüringen. „Der Tannbach als
Grenzverlauf blieb aber weiterhin beste-
hen,alsreineVerwaltungsgrenze,diedas
Alltagsleben der Mödlareuther kaum be-
einträchtigte: Wirtshaus und Schule be-
fanden sichim thüringischenTeil Mödla-
reuths, zum Gottesdienst ging man ge-
meinsam ins benachbarte bayerische Tö-
pen“,heißtes imMuseum.
Nach dem Zweiten Weltkrieg bildete
derTannbachplötzlichdieDemarkations-
liniezwischensowjetischerundamerika-
nischerBesatzungszone.DieSowjetsmar-
schiertenein,von„Stalinburg“warplötz-
lich die Rede – und der kleine Tannbach
wurde ein Teil des Eisernen Vorhangs,
auch wenn nur ein kraftvoller Sprung
zum Überwinden notwendig gewesen
wäre. Anfangs gab es noch einen kleinen
Grenzverkehr, ab1952 wurden Stachel-
draht-Sperranlagen errichtet und Men-
schen umgesiedelt, 1966 folgte die 3,30
Meter hohe Mauer. 1973 gelang die ein-
zigeFlucht–einemThüringer,dermitei-
ner Leiter auf seinem Autodach die
Mauer überwand. Im bayerischen Teil ist
das Museum, im thüringischen das Gast-
haus „Zum Grenzgänger“. 2015 kamen
mit 96300 besonders viele Besucher
nachMödlareuth,danachgingdieZahlet-
was zurück, 2018 wurden 78900 Besu-
chergezählt.MuseumsleiterRobertLebe-
gernbetont,MödlareuthseieinMikrokos-
mos der deutschen Teilungsgeschichte,
ein „authentischer außerschulischer
Lernort,vorallemauchfürjüngereGene-
rationen“. Karin Mergner dagegen ist
froh, dass diese Geschichte Stück für
Stück immer weniger präsent ist: „Wir
sindheute ein ganznormalesDorf.“

Herr Oberbürgermeister, träumen Sie manchmal
von einem Aufbau West?
Die Deutsche Einheit ist ein Glücksfall für Deutschland.
DerMauerfallunddieMonatedanachwarenhochemotio-
nale Momente. Es war richtig, dass mit einer gewaltigen
Kraftanstrengung die Infrastruktur im Osten stark ge-
machtwurde,eineriesigeSolidaritätsleistungallerDeut-
schen.Jetzt,wovielesimOstengeschafftist,wirdesZeit,
dassSolidaritätauchindieandereRichtunggezeigtwird.
Bei uns im Ruhrgebiet ist teilweise über 20 oder 30 Jahre
nichtin dieInfrastruktur investiert worden.

Was muss passieren?
Da, wo Bedarf ist, muss das Geld hin. Wir reden da nicht
über Almosen, sondern über Gerechtigkeit. Deshalb
muss der Bund nun endlich handeln. Von unseren 1,3
Milliarden Euro Kassenkrediten gehen über 700 Millio-
nenEuroSchulden auf das Konto desSolidaritätszuschla-
ges, also auch auf das Konto des Aufbau Ost.

Was sind die Folgen der Verschuldung für Duis-
burg?
Wir sind seit den späten 1990er-Jahren ununterbrochen
ineinerSparrundenachdernächsten.WirhabenKredite
aufgenommen, um den Aufbau Ost mitzufinanzieren.
WirbauenununterbrochenPersonalabundsindlängstin
einer absoluten Mangelverwaltung. Wir versuchen das
zwar mit einer kreativen Verwaltung aufzufangen, aber
auchhiergibtesGrenzen.Tatsacheist,dassmancheSchu-
lenhierineinemerbärmlichenZustandsind,genausowie
viele Straßen, Schleusen und Brücken. Das Ruhrgebiet
braucht dringend neue wirtschaftliche Impulse. Durch
diese finanzielle Schieflage mussten wir in Duisburg an
der Steuerschraube drehen und haben deswegen eigent-
lich viel zu hohe Grund- und Gewerbesteuern. Das ist
schlichtweg kontraproduktiv, wenn wir Unternehmen
fürden Standort Duisburg begeistern wollen.

Hört sich fast nach einem Albtraum an.
Dadurch,dasswirsowenigfreiesKapitalhaben,weilwir
Zinsen und Tilgung für hohe Kassenkredite haben, kön-
nenwirnichtgenuginunsereZukunftinvestieren,inDigi-
talisierung, ÖPNV, die Universitätslandschaft und mo-
derneGewerbegebiete.UndaußerdemistvielGeldinSo-
zialleistungen gebunden, auf die wir keinen Einfluss ha-
ben. Die Menschen im Ruhrgebiet haben gleichwertige
Lebensverhältnisse genauso verdient wie der Rest von
Deutschland. Gute Bildung für ihre Kinder, ordentliche
Straßen. Aber ohne Unterstützung von Bund und Land
könnenwir dasnichtleisten. Das istungerecht.

Sie wettern gern gegen die Berliner Blase, alles
Traumtänzer da?
Da scheint es tatsächlich ein Wahrnehmungsproblem zu
geben. Wenn man sich in so einer bundespolitischen
Blase befindet, dann hat man seine eigene Agenda. Aber
warum können wir uns nicht an eine ganz einfache Regel
halten: Wer bestellt, der bezahlt. Zum Beispiel bei den
Asylleistungen.Dableiben60ProzentderGesamtkosten
beiunsalsStadt!Rund20MillionenEurosinddasimlau-
fendenJahr.DassindkeinePeanuts,dasisteinenationale
Aufgabe, aber Bund und Land machen sich einen schlan-
ken Fuß. Damit hängt auch die hohe Verschuldung einer
Stadt wie Duisburg zusammen. Ich möchte, dass der
Bund für die Gesetze, die er beschließt, die finanziellen
Auswirkungen berücksichtigt und komplett bezahlt.

Sie setzen für mehr Wachstum auch auf China.
Hiertutsich was –abereskönnte vielmehrsein.InDuis-
burglebenüber160 Nationalitäten sehrfriedlich zusam-
men.China istfür unsein wichtigerPartner,geradewirt-
schaftlich durch die neue Seidenstraße. Rund 80 Unter-
nehmensindhiergemeldetundeineExistenzgründungs-
initiative soll helfen, dass chinesische Studenten nach
ihrem Abschluss in Deutschland, idealerweise in Duis-
burg, bleiben wollen. Die Logistik im Duisburger Ha-
fen wächst gut. Wir haben knapp 40 Prozent mehr
Unternehmensansiedlungen aus China und gerade die
Zugverbindung von China hierher ist ein Wachstums-
bringer. Auch von der Kooperation mit Huawei beim
Thema Smart City können wir profitieren. Wichtig für
uns ist, dass es eine Partnerschaft auf Augenhöhe ist.

Little Berlin will Ruhe


Nicht


gerecht


Die frühere innerdeutsche
Grenze in Mödlareuth.
Das Dorf war zu DDR-Zeiten
in eine West- und eine
Ost-Hälfte geteilt. Heute
führen Bustouren entlang der
ehemaligen deutsch-
deutschen Grenze und stoßen
auf großes Interesse.

Sören Linkist seit
2012 der Oberbürger-
meister von Duisburg.
Der SPD-Politiker wurde
auch in der an der
Mündung der Ruhr in
den Rhein gelegenen
Großstadt geboren.

Auch mitten durch


Mödlareuth verlief


früher die Mauer.


Einem gelang in der


Zeit der Trennung


per Leiter die Flucht


aus der DDR.


Heute gehört das Dorf


teils zu Thüringen


und teils zu Bayern.


Von Georg Ismar


Fotos: Martin Schutt / dpa, imago

Duisburgs Oberbürgermeister


Sören Link über eineVernachläs-


sigung des Westens –und Hoff-


nung aus China.


Interview von Georg Ismar


38 DER TAGESSPIEGEL WOVON TRÄUMST DU? NR. 24 000 / SONNABEND, 9. NOVEMBER 2019

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