Der Stern - 07.11.2019

(Kiana) #1
Bevor sich Walter Wüllen-
weber und Fotografin
Julia Sellmann den Zustand
des Öffentlichen Dienstes
genauer ansahen, dachten auch sie: Beamte haben
wir schon genug. Von wegen. Recherche hilft

parat zeitgemäß organisiert wäre. Tatsäch-


lich ist das Symbol der Staatsverwaltung


jedoch noch immer das Postwägelchen, mit


dem die Papierakten in dreifacher Ausferti-


gung über den gelblichen Linoleumboden


geschoben werden. Der öffentliche Dienst


ist noch nicht im digitalen Neuland an-


gekommen. „Die Digitalisierung ist eine


Überlebensfrage des funktionierenden


Staates. Und da können wir uns von der


Verwaltung der Republik Tatarstan ein paar


Scheiben abschneiden“, ruft ein erregter


Bodo Ramelow (Die Linke) seinem Publi-


kum zu. Der Ministerpräsident von Thürin-


gen ist Gast bei einer Veranstaltung des Be-


amtenbundes in seinem Land.


Seine Zuhörer beklagen sich bei ihrem


Dienstherren über ihre unzumutbaren


Arbeitsbedingungen und geben eine Scho-
te nach der anderen zum Besten: über
Akten, die erst eingescannt werden, nur
um sie in der Poststelle auszudrucken.
„Meinen Sie, dem Ministerpräsidenten
geht es besser?“, ereifert sich Ramelow und
berichtet, dass er im ersten halben Jahr sei-
ner Amtszeit das WLAN des Cafés gegen-
über nutzen musste, weil in der Staats-
kanzlei keiner aufzutreiben war, der einen
Router installieren konnte.

Technik allein löst die Probleme nicht


Die digitale Verwaltung gilt vielen als gro-
ße Hoffnung für den öffentlichen Dienst.
Damit könnten tatsächlich die Routine-
arbeiten effizienter erledigt werden und
mit weniger Personal. Allerdings nur die
Routinearbeiten. Doch der weitaus größte
Teil der Aufgaben eines modernen Staates
kann nicht von Automaten erledigt, son-
dern nur unterstützt werden. Zudem gibt
es die Personalnot vor allem bei Fachkräf-
ten, die eben keine Routineaufgaben erle-
digen. Mit besserer Technik allein lassen
sich die Probleme des öffentlichen Diens-
tes also nicht lösen.
Ohne wird es jedoch auch nicht gelin-
gen: Die technische Infrastruktur muss
runderneuert werden; doch eine Orga-
nisation mit fast fünf Millionen Beteilig-
ten umzubauen ist ein Mammutprojekt.
So ein Kraftakt erfordert viele Milliarden
Euro, viele Jahre Umstellung, unendliche
politische Debatten und vor allem: Perso-
nal. Ohne Legionen von IT-Fachleuten,
die eine digitale Verwaltung planen,
programmieren und ständig auf dem
neuesten Stand halten, bleibt die mo-
derne Verwaltung eine folgenlose Talk-
show-Forderung.
Halt, da war doch was: Ausgerechnet
Computerspezialisten sind die größte
Mangelware auf dem Arbeitsmarkt.
Bernd Maßmann, der Personalchef von
Hamm, der die Idee mit dem Kreuzfahrt-
schiff hatte, winkt ab: „IT-Spezialisten?
Vergiss es. Da hat man auch mit Lockange-
boten wenig Chancen. Die kriegen wir so
gut wie nie.“ 2

Viel Platz für neue Mitarbeiter:
Stempelkartenhalter in
einem deutschen Rathaus

DIE DIGITALISIERUNG


IST EINE


FÜR DEN STAAT“



38 7. 1 1. 2 0 19

Free download pdf