FOTO: MOHAMMED AL-MUMIN
Ich bin heute den ersten Tag hier. Eigentlich wollte ich schon
früher helfen, aber in den ersten Wochen des Aufstands hatten die
Sicherheitskräfte mein Viertel abgeriegelt. Es waren Schüsse
zu hören. Tote vom Tahrir wurden bei uns im Krankenhaus
eingeliefert. In den irakischen Medien wurden die Demonstranten
als Kriminelle dargestellt. Aber wir wussten alle, dass das nicht
stimmt. Ich habe mit meinen Kollegen zusammengelegt. Von
dem Geld haben wir 1000 Gesichtsmasken, Verbände und
Kochsalzlösung gegen das Tränengas gekauft. Brennende Augen
behandeln wir mit Cola oder einem Gemisch aus Joghurt und
Wasser. Was ich mache, ist nichts Besonderes. Ich bin nur eine
einfache Bürgerin, die ihren Mitbürgern helfen will. Die Menschen
hier sind alle wie Brüder und Schwestern für mich.“
Irak
Zainab, 23, Kliniklaborantin
Libanon
Muhammad al-Dschauhari, 50, Fabrikbesitzer
„
Zu Hause in Baalbek könnte ich nicht frei demonstrieren wie hier.
Das erlaubt die Hisbollah nicht. Ihr Anführer Nasrallah sieht die
Libanesen als Verräter. Aber für mich ist er der Verräter, denn er ist
ein Kollaborateur des Iran. Meine Fabrik, die Bewässerungsrohre aus
Plastik hergestellt hat, musste ich schließen. 25 Arbeiter musste ich
entlassen. Fünf meiner Maschinen habe ich seither verkauft, um die
Familie über Wasser zu halten. Die wirtschaftliche Lage ist schlecht.
Billige Rohre werden über die syrische Grenze ins Land geschmug-
gelt. Und wer verdient mit am Schmuggel? Die Hisbollah. Viele reli-
giöse Leute in Baalbek, sogar ein paar Geistliche, haben mir gesagt:
Wir sind auf deiner Seite, aber wir trauen uns nicht zu demonstrieren.
Mein Bruder ist für die Hisbollah den Märtyrertod gestorben.
Und ich soll ein Agent ausländischer Mächte sein?“
„
erreicht haben“, sagt er. „Die korrupte Re-
gierung muss weg.“
Patrick Khalifeh zieht die blaue Out-
door-Jacke hoch und klebt sich zwei dicke
Mentholpflaster auf die Stelle, wo der
Stock seine Rippen traf. Wie aus dem
Nichts waren die schwarz gekleideten
Männer auf den Motorrollern aufgetaucht
und hatten das Camp der Demonstranten
auf dem Märtyrer-Platz im Zentrum von
Beirut verwüstet. Mitten am Tag, vor den
Augen der Polizei, die tatenlos zusah. „Ein
Mädchen neben mir haben sie ins Gesicht
geschlagen“, sagt der 31-Jährige.
Patrick und seine Freunde sind trotzdem
auf dem Platz geblieben, haben die Zelte
neu aufgebaut und planen nun weitere De-
mos und Blockaden – aller Gefahr zum
Trotz. „Unsere Feinde warten nur auf die
Gelegenheit, uns wieder anzugreifen“, sagt
Khalifeh. „Aber dies hier ist unsere letzte
Chance. Wenn dieser Protest nichts ändert,
werden wir das Land verlassen.“
Bagdad und Beirut: Knapp tausend Ki-
lometer trennen die Hauptstädte des
Libanon und des Irak. Und doch verbindet
die Menschen viel, die in beiden Ländern
seit Wochen zu Hunderttausenden auf die
Straßen gehen. Da ist die Wut über die
schamlose Korruption der Regierenden,
die Wut über fehlende Jobs, explodierende
Preise und über die katastrophale Versor-
gung mit Strom und Trinkwasser.
Aber da ist noch etwas anderes, Neues.
Eine Entschlossenheit zur Einigkeit über
religiöse Grenzen hinweg.
Jahrzehntelang haben Sunniten, Schi-
iten und Christen beider Länder einander
blutig bekämpft. Frieden bedeutete im
Irak und im Libanon eigentlich die Fort-
setzung des Bürgerkriegs mit anderen Mit-
teln. Die alten Warlords teilten die Macht
stets unter sich auf. Selbst Wahlen dienten
dem Machterhalt derer, die schon an der
Macht waren. Genau diesen Eliten versa-
gen die Menschen nun die Gefolgschaft.
M
it Vollgas hinein in die Trä-
nengasschwaden auf der
Tigrisbrücke, einen Ver-
letzten auf den Rücksitz
geladen, dann nichts wie
zurück auf den Tahrir-Platz
im Zentrum von Bagdad,
der seit Tagen fest in der
Hand der Demonstranten ist. Viele Male
ist Hassan mit seinem gelben Tuktuk in
den vergangenen Tagen die paar Hundert
Meter hin und her gerast, „um das Volk und
die Revolution zu verteidigen“, wie er sagt.
Nur einmal kam Hassan zu spät. „Eine
Tränengasgranate hatte den Mann am
Kopf getroffen. Wir haben ihn sofort zu
einem Rettungswagen gebracht. Aber er
war schon tot“, sagt der 17-Jährige. Gleich
wird er zum nächsten Einsatz fahren. In
Plastikschlappen und Trainingsanzug, mit
einem Atemschutz aus Papier vor dem
Mund. Aufgeben kommt für ihn nicht in-
frage. „Ich bleibe hier, bis wir unsere Ziele
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