38 FEUILLETON Mittwoch, 13.November 2019
Geschicktes Marketing hilft auch guter Literatur
Elena Ferrantes neuer Roman ist in Italien ein Ereignis. Die Kritiken reichen v on höchstemLob bis zum Verriss,je nach Blatt und Partei
FRANZ HAAS
In der Nacht auf den7. November hatte
das Rätselraten um das Pseudonym
ElenaFerrante seinen Siedepunkt er
reicht. Pünktlich ab Mitternacht wurde
ihr neues Buch verkauft, «La vita bu
giarda degli adulti», begleitet von lan
desweit organisierten Happenings.
Dementsprechend war derRummel in
den Medien, und so mancheRezension
wurde in eiliger Nachtarbeit fabriziert.
Die Urteile sind meist positiv, doch
lässt sich einPolitTrend ausmachen,
der fast auf einenKulturkampf deutet:
Von ganz links bis ganzrechts nimmt der
Enthusiasmus langsam ab und franst aus
in Gehässigkeiten gegen diesen gross
teils hervorragendenRoman, der im
letztenTe il allerdings schwächelt.
ImVergleich zu ElenaFerrantesWelt
bestseller, der vierbändigenNeapelSaga
«Meine genialeFreundin», ist er tatsäch
lich ein wenig blass. Und offenbar ist er
genauso aufFortsetzungen angelegt.
Die kleinen Mängel werden dem Erfolg
nichts anhaben, denn das schlaue Mar
keting desVerlags hat bereits die maxi
maleAufmerksamkeit erreicht.
Anfang September wurde überTwit
ter das Erscheinungsdatum mitgeteilt,
zeitgleich auch die ersten zwölf Zeilen
des fulminantenRomans – nicht aber
dessenTitel, der erst Ende Oktober ver
raten wurde. Die wiederholte Anfrage
wegen einesRezensionsexemplars blieb
unbeantwortet, was zwar den italieni
schen Sitten entspricht, wohl aber auch
Te il der Strategie war. Denn das Hin
halten steigerte dieErwartung, bisam
- November einer handverlesenen Schar
von Kritikern eine elektronischeVersion
mit Geheimcode zugesandt wurde, am - November war derRoman dann für das
Fussvolk in den Buchhandlungen.
GanzohneAmazon
Die Nacht davor hatte es in sich – ein
Werbefeldzug landauf, landab: Im Lese
zirkel vonTu rin war derAutor und Buch
messenDirektor NicolaLagioia höchst
persönlich der Zeremonienmeister.Ab
Mitternachtkonnte man dann das Buch
kaufen, in der grössten Buchhandlung
vonRom wurde vor dem Startschuss der
Dokumentarfilm «FerranteFever» pro
jiziert. Der Clou der Nacht war aberder
Auftritt desVerlagschefs SandroFerri
in einemKellerBuchladen vonRom
im Stil der schmuddelseligen siebziger
Jahre. Stolz sagte derVerleger,das Buch
sei «ganz ohne die Hilfe von Amazon»
lanciert worden, mit einer Startauflage
von 250 000 Stück – die natürlich derart
schnell wegsein werden.
Auch auf dem internationalenPar
kettsteht der einstigeRömer Kleinver
lagimposant da: Unter demTitel«T he
Lying Life OfAdults» wird derRoman
am 9.Juni 2020 bei Europa Editions in
London erscheinen, die deutscheAus
gabe bei Suhrkamp «voraussichtlich im
Herbst 2020».
DerRoman «La vita bugiarda degli
adulti» (Das verlogene Leben der Er
wachsenen) ist nicht ganz so geglückt wie
ElenaFerrantes weltberühmteTe tralo
gie, hat mit dieser aber vieles gemein.
Es fehlen ihm vor allem zwei Dinge: die
zeitgeschichtlicheVerankerung und das
nötige Knowhow für denJugendslang.
Der grandiose Streich «Meine geniale
Freundin» hält dem hässlichen Italien
einen Spiegel vor, von der Nachkriegs
zeit bis fast in die Gegenwart.
Im neuenRoman, der nun nach fünf
Jahren erschienen ist,fehlt hingegen jeg
licher direkte Bezug zur Erzählgegen
wart, denJahren1992 bis1995, zu den
politischenTu rbulenzen nach dem Ende
der Christlichdemokraten und demAuf
klaffen des Schwarzen Lochs des Ber
lusconismus. Und die 13 bis16jährige
IchErzählerin, eine Gymnasiastin aus
dem neapolitanischen Bildungsbürger
tum, denktund spricht oft wie einFräu
lein aus den fünfzigerJahren.
Dieses Mädchen aus der Oberstadt
belauschtdenVater, als dieser zur Mut
ter sagt, dass ihreTochter «sehr hässlich»
sei, genau wie seine vulgäre Schwester
ausjener Unterschicht, der er mit Mühe
und Studium entkommen ist. DieseTa nte
und ihr Milieu, «ganz,ganz unten an den
Rändern Neapels», werden dann für die
Halbwüchsige zum Faszinosum und
zur Plage. Sie öffnet dem Mädchen den
Blick für das Lügengebäude ihrer Eltern,
zerrt sie aber auch hinunter in jeneple
bejische Zwickelwelt,eingeklemmt zwi
schenBahnhof,Autobahnzubringer und
Schlachthof, wo schon «Meine geniale
Freundin» grossteils spielte und alles
«dieFarbe von verbrannter Erde» hat.
ItaliensGräben
DieReaktionen auf dieses Buch zei
gen einmal mehr den ideologischen
Riss durch das heutige Italien und seine
Medien: Im sehr linken «Manifesto» lobt
eineFeministin die «meisterhaften Dia
loge» und führt als BezugsgrössenBalzac
und Stendhalan sowie die Italienerinnen
Elsa Morante und Anna Maria Ortese.
Voll des Lobes ist auch die gemässigt
linke«Repubblica», in derein Rezensent
und eineRezensentin zweistimmig Flau
bert bemühen. Die liberale «Stampa»
enthält sich des Urteils durch eine peni
bel wohlwollende Nacherzählung. Im
liberalkonservativen «Corriere della
Sera» verweist eine Kritikerin aufPar
allelen zu «L’Education sentimentale»,
und ein Kritiker bemängelt doch einige
Aspekte, hört aber auch das Echo aus
«Madame Bovary» – wo diese über ihre
Tochter sagt: «Seltsam, wie hässlich die
ses Kind ist!» Flaubert ist überhaupt in
vieler Munde, zuRecht. Doch sollte man
bedenken, dass seitdem mehr als einein
halbJahrhunderte der literarischästhe
tischen Entwicklungdurch die Schreib
stuben gezogen sind.
Einhellig geschimpft wird auf Elena
Ferrante von derrechten Männerseite
Italiens. Für das einstige Berlusconi
Parteiblatt«Il Giornale»ist derRoman
wegen seiner Sexszenen ein «schmieri
ges Kammerspiel» und «ein (genialer)
Jahrmarkt der Banalitäten» sowieso.
Auf einer OnlinePlattform (mitSympa
thien für dierechtspopulistische Lega)
wird dieAutorin zunächst als «ein Nie
mand» beschimpft, ihr Buch als «belie
bigerPopulismus aufPapier»,dann hat
die übliche, internetkompatible Hass
rede freienLauf.
Der gewiefteWerberummel rund
um diesen voraussichtlichen Bestseller
mag auf die Nerven gehen, zumal «La
vita bugiarda degli adulti» nicht ganz an
ElenaFerrantes bisheriges Glanzstück
heranreicht, doch zählen sein psycholo
gischer Scharfsinn und seine sprachliche
Brillanz immer noch zum Besten, was
derzeit in Italien geschrieben wird. In
möglichenFortsetzungen wird dann hof
fentlich so manche Scharte ausgewetzt.
Bärfuss’ Vergesslichkeit
Wie der Büchnerpreisträgermit seiner Dankrede die Bundesrepublik diffamiert.Von Peter Reichel
In seinerLaudatioaufFriedrichDürren
matt,der1986 spät mit dem Büchner
preis geehrt wurde, erinnerte derThea
terkritiker Georg Hensel daran, dass
der Schweizer«WeltAutor» schon mit
einunddreissig «durch seine ‹Ehe des
Herrn Mississippi› berühmt» war und
vierJahre später «durch seinen ‹Be
such der altenDame› weltberühmt»
wurde. So attackierte Hensel die Deut
sche Akademie für Sprache und Dich
tung, warf ihr vor,sie hätte spätestens
damalsDürrenmatt den Preis «verleihen
müssen und risikolos verleihenkönnen»,
hielt ihr allerdings zugute,dass es dafür
«nie zu spät» sei.
Der diesjährige Empfänger des
Büchnerpreises, LukasBärfuss, hat nun,
nicht ohneKoketterie, in seinerDank
rede bekannt, dass diese Ehrung für
ihn zu frühkomme. Dennkeines von
seinen «ausgezeichneten Büchern und
Stücken» genüge den «eigenen Ansprü
chen». Ursprünglich habe er bei aller
Freude «nicht übel Lust» verspürt, mit
derJury «hier zu schimpfen».Warum er
dieAuszeichnung,samt Preisgeld und
werbewirksamer öffentlicherAufmerk
samkeit, dann aber doch annahm, ver
schwieg er.
Thema ist am 2. November die Erin
nerung an die Geschichte der Gewalt
verbrechen in den beiden grossen tota
litären Diktaturen Europas des 20.Jahr
hunderts.Jedenfalls hätte dies der ge
danklicheRahmen vonBärfuss’Rede
seinkönnen. Unvermittelt beginnt er
miteinem kurzenRückblick auf die
zweite Hälfte jener Zeit, die wir den
Kalten Krieg nennen.Jahre der Ent
spannung, der neuerlichen Eskalation
und schliesslichenAuflösung des Ost
blocks, Jahre der andauernden Bewe
gung also. Der1971 inThun geborene
Schriftsteller undAutodidakt behauptet
schlichtweg: «Es gab nicht die kleinste
Aussicht, dass sich in unserer Lebens
zeit etwas ändernkönnte. DieVerhält
nisse waren betoniert, der Hass der bei
denLager existenziell und so unüber
windlich wie der EiserneVorhang.»
EinWunder
In zwei Sätzen skizziert er das wirklich
keitsferne Zerrbild eines ausserordent
lichen Zeitalters. Sie lassen das Happy
End vielmehr alsWunder erscheinen:
«Ein Imperium fiel, ohne Gewalt, fried
lich, über Nacht», fährtBärfuss fort, «die
Mauern fielen wie die Grenzen,Rake
ten wurden überflüssig, undalle, die es
erlebt haben, werdenein Leben lang mit
Rührung und mit Stolz an diese Stern
stunde der Menschheit denken.»Bärfuss
kann dort nicht stehen bleiben. Seine
«Fäden» führen ihn, so heisst es imTi
tel derRede,nicht ohne prahlerischen
Unterton, stets «zu einem Massengrab».
Mit zwei, drei Sätzenkommt er über
Erinnerungen an Srebrenica undAusch
witz zu der ihn seither umtreibenden
Frage, «wie das alles nur hatte geschehen
können». Ohne auch nur denVersuch zu
machen, dieserFrage an einem einzigen
Fallbeispiel nachzugehen, beruhigt er
sein Publikumsogleich mit einer «guten
Nachricht»: «DasBöse ist nicht in uns,
es ist zwischen uns.» Denn es ist immer
schon da, «man kann es lesen, man kann
es hören, es ist in den Beschlüssen, den
Anordnungen, den Dienstvorschriften,
denFunktionszusammenhängen, den
Einreiseformalitäten, denFahrplänen,
den Beförderungsbestimmungen».
Bärfuss glaubt offenbar, das Böse
des umfassend organisierten Prozes
ses der Judenvernichtung an einem
belanglosen Detail illustrieren zukön
nen: «Nur Kinder unter sechsJahren
reisten perFreifahrt nachAuschwitz
Birkenau»,teilt er dem Publikum mit.
Verzichtet allerdings darauf, den gesell
schaftlichen Zusammenhang von Stig
matisierung,rechtlicherAusgrenzung,
Enteignung, Aushebung,Deportation,
Vernichtung,Verwertung und Spuren
beseitigung derJudenvernichtung auch
nur anzudeuten und so den bürokra
tischzynischen Charakter jener Bestim
mungverstehbarzumachen.
Umstandslos leitet er aus seiner be
gründungslosen Definition des Bösen
auch eine zweite gute Nachricht ab:
Die Gewalt sei zu überwinden, wenn
wir ihr nur mit Mut, mit «wachen Sin
nen und empfindsamen Herzen» be
gegnen.Dazu aber müsse der Mensch
aus der Geschichte lernen, was voraus
setze, dass er sich dieser Geschichte er
innere. Vertrackt sei nur, dass er so leicht
vergesse – und oft vergesse er ja «ge
rade die entscheidenden Lektionen».
Abermals macht sich derAusgezeich
nete klein – und gemein mit dem Publi
kum beziehungsweise der allgemeinen
Öffentlichkeit. Erneutkokettiert der
knapp 50Jährige, nun mit seinerVe r
gesslichkeit. Er habe vergessen, gesteht
er, «dass es so etwas wie eine Entnazifi
zierung nicht gegeben» habe.
Eine sachliche Begründung bleibt
er schuldig,nennt allerdings zwei Bei
spiele. ProminentePersonen mit belas
teten Lebensgeschichten, die eine, den
Grundgesetzkommentator Theodor
Maunz, mit Namen, die andere ohne; es
ist der IndustrielleFritz Ries, Schwieger
vater des CDUPolitikersKurt Bieden
kopf. Bernt Engelmann hat darüber in
seinemTa tsachenroman ‹Grosses Bun
desverdienstkreuz› berichtet. Statt auch
nur denVersuch zu machen, die wider
spruchsvollen Lebensgeschichten beider
Personen in biografischenKurzporträts
einzufangen, begnügt sichBärfuss mit
plakativerVerurteilung.
«Die Nazis»
Mehr noch. Er versteigtsich zu Schluss
folgerungen, mit denen er die Bundes
republik diffamiert. Allen Ernstes be
hauptet er, «DieKontinuität der natio
nalsozialistischen Elitennach 1945 (war)
ungebrochen»,und bekräftigt den Satz
mit einer zweiten, dieWirklichkeit ver
fälschendenVerallgemeinerung: «Die
Nazisund ihr Gedankengut sind über
haupt nie weg gewesen.»Dazu passt
allerdings, dassBärfuss, der so vehe
ment dieVergesslichkeit des Menschen
beklagt, ausgerechnet jene Einrichtun
gen ignoriert, die dem gesellschaftlichen
Vergessenentgegenarbeiten.
Gemeint ist das inJahrzehnten ge
wachsene, den öffentlichenRaum mit
prägende kulturelle Gedächtnis in
Deutschland. Gewiss, er beklagt, dass
wir auf die Zeugen der Gewaltverbre
chen schon bald ganz werden verzich
ten müssen. Aber die vielen NSDoku
mentationen und Gedenkstätten,die
Museen, Denkmäler, Gedenktafeln,
Stolpersteine scheint er nicht zuken
nen. Er erwähnt sie so wenig wie die
unüberschaubare Vielfalt und Viel
zahl von gerichtlichenVerfahren, lite
rarischen, filmischen, künstlerischen
und wissenschaftlichen Werken, wie
die umfänglicheschulische und univer
sitäreAufklärungs,Ausbildungs und
Forschungsarbeit und nicht zuletzt die
materiellen Entschädigungsleistungen
der vergangenen siebzigJahre.
Man hätteBärfuss tatsächlich die
Kraft gewünscht, ohne grossenAuftritt
auf die Annahme des Büchnerpreises zu
verzichten, um sich und dem Preis diese
ganzePeinlichkeit zu ersparen.
Peter Reichelist emeritierter Profess or für
historische Grundlagen der Politik an der Uni-
versität Hamburg. Von ihm ist u. a. ersc hienen:
«Politik mit der Erinn erung – Gedächtnis orte
im Streit um die nationalsozialistischeVergan-
genheit» (1999).
Will der Menschaus der Geschichte lernen,muss er sichandiese erinnern. CARLO POLITO/GETTY