Die Zeit - 07.11.2019

(Elle) #1

Frau Sudjic, Sie haben einen Roman darüber geschrieben,
wie das Internet im digitalen Zeitalter unsere Beziehungen
prägt. Haben Sie mich vor diesem Interview eigentlich ge-
googelt?
Nein, ganz bewusst nicht. Ich mag es, instinktiv zu han-
deln. Hätte ich mich vorab über Sie informiert, wäre ich
voreingenommen in dieses Gespräch gegangen. Ich würde
versuchen, bestimmte Erwartungen zu erfüllen.
Alice, die 23-jährige Protagonistin Ihres Romans »Sym-
pathie«, schleicht sich mit fragwürdigen Methoden in das
Leben einer zehn Jahre älteren Frau ein, von der sie faszi-
niert ist. Sie schnüffelt ihrem Idol online auf allen mög-
lichen Kanälen hinterher und nutzt die dort gefundenen
Informationen, um der Frau nahezukommen, plappert bei-
spielsweise deren Ansichten nach und lädt sie zu Spazier-
gängen an ihre Lieblingsorte ein. »Wir teilten eine DNA
aus Bildern«, heißt es in dem Roman. Wie sind Sie auf das
Thema gekommen?
Während meines Literaturstudiums in Cambridge habe
ich in meinem Freundeskreis einen extremen Fall von Stal-
king erlebt. Es ging um unerwiderte Liebe. Die Person, die
zurückgewiesen wurde, hat einer Freundin von mir jahre-
lang das Leben zur Hölle gemacht: E-Mail- und Instagram-
Konten wurden gehackt, Fotos heruntergeladen und unter
falschem Namen mit herabwürdigenden Botschaften ver-
schickt. Sämtliche Personen, die jemals mit meiner Freun-
din zu tun hatten, erhielten gefälschte E-Mails, im Laufe
der Jahre waren es Tausende.
»Sympathie« gilt als Schlüsselroman der Millennials – also
derjenigen, die zwischen den frühen Achtziger- und den
späten Neunzigerjahren geboren wurden. Sie selbst sind
30 Jahre alt. Erinnern Sie sich an den Moment, als das In-
ternet Teil Ihres Lebens geworden ist?
Ich war elf oder zwölf, als ich meine erste E-Mail-Adresse
bekam. Ich nannte mich [email protected], und
mein Vater sagte, ich solle das sofort ändern. Dann gab
es dieses Chatprogramm MSN Messenger auf dem Com-
puter, es war das Erste, wonach ich süchtig wurde, denn
plötzlich konnte man online mit den Jungs sprechen, mit
denen man vorher schweigend an der Bushaltestelle rum-
gestanden hatte. Meine Eltern hielt ich damals für lang-
weilige Bedenkenträger – während meine Freunde und ich
mit dem Internet aufwuchsen und wussten, dass es harmlos
ist. Später wurde mir dann klar: Wir beherrschen zwar die
Benutzeroberfläche, haben aber keine Vorstellung von den
Kräften dahinter.


Spätestens 2018 sind die Kräfte dahinter sichtbar geworden


  • durch den Skandal um Cambridge Analytica, als bewiesen
    wurde, dass Face book die Daten seiner Nutzer verkauft. Als
    das an die Öffentlichkeit kam, war Ihr Roman gerade er-
    schienen. Sie hatten offenbar einen Riecher für das Thema.
    Als ich mit Sympathie 2014 begann, arbeitete ich noch in
    einer Werbeagentur und beschäftigte mich mit Marken-
    strategie. Technologie schien vor Cam bridge Analytica die
    Lösung für alles bereitzuhalten, es war die positive Utopie
    schlechthin. Aber was mich damals schon beunruhigte, war
    das ungeheure Tempo, mit dem sich beispielsweise Face-
    book verbreitete. Die Schere zwischen technologischer
    Entwicklung und mangelhaftem Verständnis für die Fol-
    gen öffnete sich rasant. Wer beherrscht hier wen? Ich hatte
    das Gefühl, dass uns das Ding, das wir für magisch hielten,
    langsam entglitt.
    Als Millennial im Jahr 2014 den Kontrollverlust im Inter-
    net zu thematisieren war ziemlich unpopulär, oder?
    Klar. Aber es ging mir gar nicht darum, das Internet oder
    den technologischen Fortschritt zu verurteilen. Plötzlich
    wurde mir klar, wie extrem die Entscheidungen, die ich
    online treffe, mich selbst verändern. Man schafft auf Insta-
    gram neue Versionen von sich selbst, und diese Parallel-
    identitäten interessieren mich als Schriftstellerin: die Frage,
    wie die Daten, die wir online hochladen, auf unser Selbst-
    bild zurückwirken. Das Internet gibt vor, uns zu kennen,
    aus seiner Perspektive sind wir ein Haufen gesammelter
    Daten. Daraus wird ein Bild von uns, und daraus werden
    angebliche Bedürfnisse abgeleitet – etwa welches Buch wir
    kaufen und wo wir Urlaub machen sollen.
    Was stört Sie daran?
    Unsere Identität wird durch unsere Herkunft und unser
    kulturelles Umfeld bestimmt, aber auch durch Zufälle.
    Ich mag es, in einem Buchladen herumzustöbern und un-
    erwartet auf ein Buch zu stoßen, das mir einen neuen Weg
    weist. Aber je mehr wir Empfehlungen aus dem Netz ver-
    trauen, desto mehr verselbstständigt sich dieser Mechanis-
    mus: Weil mir bestimmte Dinge gefallen haben, werden
    mir auf dieser Grundlage automatisch andere Dinge an-
    geboten. Alles geschieht scheinbar folgerichtig und lässt
    keinen Platz für Irrtümer oder Veränderungen. Der Raum,
    sich zu entwickeln, schrumpft.
    Ist bedingungsloses Vertrauen das Problem?
    Schlimm ist vor allem das Unwissen, aus welcher Absicht
    die neue Technologie entwickelt wurde und wird, die wir
    jeden Tag so vertrauensvoll nutzen. Dass Smart phones, so-
    ziale Netzwerke und Apps unser Verhalten manipulieren
    und nach den gleichen Mechanismen wie eine Spielhölle
    funktionieren, ist gewollt. Face book existiert nicht als Zeit-
    vertreib. Es ist dazu gemacht, dem Nutzer Daten zu rau-
    ben, um sie weiterzuverkaufen.
    Warum wird darüber vergleichsweise wenig gesprochen?
    Aus einem Gefühl der Resignation heraus: Ist eh alles zu
    spät, ich mach jetzt einfach weiter. Zum Beispiel was die
    Datensicherheit betrifft: Wir haben akzeptiert, dass Re-


Olivia Sudjic, 31, wurde in London geboren und
studierte Englische Literatur in Cambridge. Mit ihrem
Debütroman »Sympathie« gelang ihr 2 017 auf Anhieb
ein literarischer Erfolg, 2 018 folgte der Essayband
»Exposure«. Derzeit arbeitet sie an ihrem dritten Buch
und schreibt Gastbeiträge für britische Zeitungen

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