Neue Zürcher Zeitung - 30.10.2019

(Michael S) #1

Donnerstag, 31. Oktober 2019 ∙Nr. 253∙240.Jg. AZ 8021Zürich∙Fr. 4.90 ∙€4.


Historikerkommissionen: Die Geschichte darf sich nicht von der Politik vereinnahmen lassen Seite 12


SPOTLIGHT SCHWEIZ
VERLAGSBEILAGE

Mobilfunkanlagen

werden überprüft

Bundesgericht will Einhaltung der Grenzwerte wahren


Das Bundesgericht zweifelt
daran, dass Mobilfunkanlagen
überallkorrektkontrolliert
werden. Es weist das Bundesamt
für Umwelt an, die
entsprechendenSysteme
schweizweit zu überprüfen.

KATHRINALDER

Es kommt nicht alleTage vor, dass das
Bundesgericht direkte Anweisungen
an ein Bundesamt gibt. In einem jüngst
publizierten Urteil erachtet es den Klä-
rungsbedarf aber als so gross, dass es
das Bundesamt für Umwelt (Bafu) in
die Pflicht nimmt: Dieses soll schweiz-
weitkontrollierenoderkontrollierenlas-
sen, ob die sogenannten Qualitätssiche-
rungssysteme (QS-Systeme) der Mobil-
funkbetreiber ordnungsgemäss funktio-
nieren.Das QS-System überprüft, ob
die in einerVerord nung festgeschrie-
benen Grenzwerte für die nichtionisie-
rende Strahlung eingehalten werden.
Das Urteil ist insofern bemerkenswert,
al s das Bundesgericht die QS-Systeme
bis jetzt immer als tauglich und geeig-
netqualifizierthat.Siewerdenauchvom
Bafu empfohlen, dessenAufgabe es ist,
den Vollzug der Strahlenschutzverord-
nung zu überwachen.
Im konkreten Fall ging es um eine
Sendeanlage auf demDach eines Hoch-
hausesim KantonThurgau, welche die
Betreiberin Sunrise ausbauen und da-
mit leistungsfähiger machen wollte.
Die Gegner des Projekts wehrten sich
bis vor Bundesgericht – und verwiesen
in ihrer Begründung auf den Kanton
Schwyz.Dort waren 2015 1 4 Mobilfunk-
anlagen voneinerMessfirma überprüft
worden, bei 8 von ihnen wurden Abwei-
chungen von derBaubewilligung fest-
gestellt. Betroffen war insbesondere die
Höhe oderAusrichtung der Antennen,
was die Strahlung der Anlage beeinflus-
sen kann. Ob dabei auch dieWerte der
Strahlenschutzverordnung überschritten
wurden, ist nicht bekannt.

Fehlerbei Datenübertragung?


Das QS-System erfasst unter anderem
DatenzurSenderichtungundSendeleis-
tung der Antenne. Einmal imTag wer-
den dieserealen Betriebsdaten mit den
Werten verglichen, die für den Betrieb
der Anlage bewilligt wurden. Stellt das
System fest, dass bewilligteWerte über-
schritten sind, so müssendie Betreiber
der Sendeanlagen dieFehler innerhalb
von24Stundenbeheben–sofernsiedies
per Fernsteuerung tunkönnen.Andern-
falls haben sie eine Arbeitswoche Zeit.
Bei Überschreitungen erstellt das QS-
System zudem automatisch Fehler-
protokolle,die denVollzugsbehörden in
den Kantonen alle zweiMonate zuge-
stellt werden.Auch führen die Kantone
jährlich Stichproben durch. Axel Het-
tich, Abteilungsleiter Nichtionisierende
Strahlung beim Lufthygieneamt beider
Basel, sagt auf Anfrage:«Übertretun-
gen der bewilligtenWerte finden statt.
Doch das ist bei dynamischenSystemen
normal.»Werde zum Beispiel ein Kabel

ausgewechselt,könnedieszueinerÜber-
schreitungderbewilligtenSendeleistung
führen. Er h ält aber fest: «Das QS-Sys-
tem ist ein gutesSystem,das schweizweit
täglich zum Einsatzkommt.»
Im konkreten Entscheid zitier t das
Bundesgericht eine ergänzende Stel-
lungnahme desBafu: Neben der Sen-
derichtung erfassten die QS-Systeme
auch die tatsächliche Höhe der Anten-
nen. Diese Höhe sowie andere fixe Ein-
stellungen müssten von den Mobilfunk-
betreibern nach demBau der Anlage
ins QS-System übertragen werden. Und
genau bei dieser Übertragungkönn-
ten Fehler passieren, die vom QS-Sys-
tem nicht erkannt würden. Die im Kan-
ton Schwyz festgestellten Abweichun-
gen seien genau auf solcheFehler bei
der Datenübertragung zurückzuführen.

Politischbrisanter Zeitpunkt


Das Bundesgericht fragt sich deshalb,
ob dieDatenübertragung nicht auch in
anderen Kantonen fehlerhaft ist.Aus
diesem Grund weistes dasBafu an, die
QS-Systeme nun schweizweit zu über-
prüfen.DasBafuschreibtaufAnfrage,es
habe Kenntnis vom Urteil des Bundes-
gerichts.Wie die Überprüfung organi-
siert werde, sei noch nicht bestimmt.Die
QS-Systemewurden 2007 und letztmals
2010/2011 schweizweitkontrolliert.Da-
bei seien festgestellte Unstimmigkeiten
die Ausnahme gewesen und hätten «im
aktuellenBetriebinkeinemFallzueiner
ÜberschreitungdesAnlagegrenzwertes»
geführt.Laut dem Bundesgericht aber
hatsichdieletzteschweizweiteKontrolle
auf die computergesteuertenParameter
und die Angaben in denDatenbanken
beschränkt. Hingegen sei dieDaten-
übertragung von derrealen Anlage in
das QS-System nicht überprüft worden.
Daher sollten die nächsten Stichproben-
kontrollen mit Inspektionen vor Ort er-
gänzt werden.
DasUrteildesBundesgerichtskommt
politisch zu einem brisanten Zeitpunkt,
drängen die Mobilfunkbetreiber doch
auf einen flächendeckendenAufbau der
5G-Netze.Mit diesen 5G-Netzen hat das
Urteil zwar nicht direkt zu tun, dennoch
dürfte esWasser auf die Mühlen der 5G-
Gegner sein. Sie fürchten eine erhöhte
Strahlung und bremsen denAufbau mit
Einsprachen oder kantonalen Morato-
rien.Anfang Oktober wurde zudem die
Initiative «Für einen gesundheitsver-
träglichen und stromsparenden Mobil-
funk» lanciert. Die Initianten wollen da-
mit denAusbauvon 5G stoppen.
Die Mobilfunkbetreiber machen
sich für eine Lockerung der geltenden
Strahlenschutzbestimmungen stark,
doch der Ständerat lehnte eine entspre-
chendeForderungvergangenesJahr ab.
Im Frühling passte der Bundesrat die
Strahlenschutzverordnung in eigener
Kompetenz an. Kritiker monieren nun,
damit sei der bisherige Strahlenschutz
aufgeweicht worden.Das Bafu schreibt
auf seiner Homepage, das heute be-
stehende Schutzniveau bleibe erhalten.
Darüber hinaus sei mit der neuenVer-
ordnung ein Monitoring der nichtioni-
sierenden Strahlung durch dasBafu ein-
geführt worden.

ALDO FEROCE FÜR NZZ

Der grösste


Sozialbau Italiens


Das Hochhaus Corviale am Stadtrand Roms ist der grösste Sozialbau Italiens. Die
Bewohnerinnen und Bewohner des neunstöckigen, knapp einen Kilometer langen
Gebäudes werden vom Staat seit je vernachlässigt. Einst schämten sie sich, in dem
Betonmonster gelandet zu sein, heute sehen es viele von ihnengelassener. Die meis-
ten l eben mittlerweile illegal hier. International, Seite 6, 7

Ungelöstes Problem in der Pflege


Zehntausende Ausländerinnen betreuen Betagte zu Hause –Regelungen existieren kaum


kru.·DieMenschenwerdenimmerälter,
und immer mehr Betagte sind pflege-
bedürftig.Die Politikist damit beschäf-
tigt, dieFinanzierung von Heimen und
Spitälernanzupassen,hatsichbisheraber
nur ungenügend mit der Betreuung von
Betagten befasst, die zu Hause wohnen.
Immer mehr Betreuerinnen aus osteuro-
päischenLändernreisen in die Schweiz,
um sich rund um die Uhr um die Pflege-
bedürftigen zu kümmern und Angehö-
rige zu entlasten. Es dürften mehrere
zehntausendsein,diealssogenanntePen-
delmigrantinnen in Schweizer Haushal-
ten arbeiten. Genaue Zahlen sind nicht
bekannt. Der Schwarzmarkt blüht.


Rechtliche Rahmenbedingungen
fehlen bis heute weitgehend. Nicht ge-
regelt sind insbesondere die Arbeits-
und Ruhezeiten, ebenso die Löhne.
Der Bundesrat hat das Staatssekreta-
riat fürWirtschaft einen Modellvertrag
ausarbeiten lassen, der einen schweiz-
weiten Minimalstandard definiert. Des-
sen Umsetzung erfolgt allerdings nicht
auf Bundesebene, sondern in den Kan-
tonen.Vor Monatsfrist hat der Bundes-
rat vom Stand der UmsetzungKenntnis
genommen.Dabei zeigte sich: Die meis-
ten Kantone hinken hinterher. Erst die
Kantone Genf,Appenzell Innerrhoden,
Tessin undWallis haben den Modellver-

trag übernommen. Als vorbildlich gilt
Genf: Es hat die24-Stunden-Betreuung
schon 2012 als erster Kanton geregelt.
Mehrere Kantone planen eine Umset-
zung auf Anfang 2020. In zehn Kanto-
nen, darunter Zürich, ist offen, wie und
wann die nötigen Schritte erfolgen.
In einer dreiteiligen Serie wirft die
NZZ einen Blick auf die Betreuung
betagter Personen abseits von Hei-
men und Spitälern. Im Fokus stehen
auch die Leistungen, welche die AHV
an Hilfsbedürftige ausrichtet, sowie die
noch immer ungelösteFinanzierung von
St erbehospizen.
Schweiz, Seite 13

Fiat und Peugeot wollen fusionieren


Der italienisch-amerikanische Autohersteller verhandelt mit der französischen Groupe PSA


hdt.·Der KonzernFiat ChryslerAuto-
mobiles (FCA) und die GroupePeugeot
Société Anonyme (PSA) wollen einen
globalenAutogigantenbilden. DerVer-
waltungsrat von PSA hat am Mittwoch-
abend bereits grünes Licht für eine
Fusion gegeben, wie die Deutsche Pres-
se-Agenturaus informierten Kreisener-
fahrenhat.EineBekanntgabederFusion
könntedemnach bereitsan diesemDon-
nerstag erfolgen.
Erst im Sommer war ein Zusammen-
schluss von FCA mit derAllianzRenault-
Nissan-Mitsubishi gescheitert – wegen
des Streits zwischen den französischen
und den japanischenAutoherstellern


und der Einflussnahme durch den fran-
zösischen Staat. Dieser ist zwar nicht nur
an Renault, sondern auch an der Groupe
PSA mit denMarkenPeugeot, Citroën,
DS und Opel/Vauxhall beteiligt, jedoch
hier nur zu gut 12 Prozent, bei einem
Stimmenanteil vonweniger als10 Pro-
zent. Der PSA-Chef CarlosTavare s hat
entsprechend freie Hand, mit dem italie-
nisch-amerikanischenKonzern FCA zu
verhandeln.
DenFranzosenkönnte ein Zusam-
menschluss als Sprungbrett für den ame-
rikanischenMarktdienen;zudemwürden
beide Unternehmen von Skaleneffekten
bei EinkaufundEntwicklungprofitieren.

Wichtiger erscheint eineFusion für FCA.
Die Bemühungen wurden durch denVer-
waltungsratspräsidenten John Elkann
vorangetrieben.InersterLiniesuchtFCA
HilfebeiderSenkungderEmissionender
Flotte,diebesondersab2020nottut,wenn
die CO 2 -Normen weiter verschärft wer-
den. Strafzahlungenkönnte FCA durch
die Fusion umgehen,denn dieFranzosen
sind bei der Elektrifizierung für Gross-
serienautos weiter. Der PSA-ChefTava-
ressoll im 50 Milliarden Euro schweren
Grosskonzern die CEO-Rolle überneh-
men,Elkann denVerwaltungsratsvorsitz.
Wirtschaft, Seite 23
Meinung &Debatte, Seite 11

Redaktion und Verlag: Neue Zürcher Ze itung,Falkenstrass e 11, Po stfach, 8021 Zürich , Telefon: +4144 2581111,
Leserser vice/Abonnemen ts: +4144 258100 0, http://www.nzz.ch
Wetter: 21, TV/Radio: 41, Traueranzeigen: 16, Kino: 8,Imp ressum: 9 9772297 322004

19253

Free download pdf