Donnerstag, 31. Oktober 2019 SCHWEIZ 13
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BETAGTENPFLEGE
Das graue Geschäft mit den Alten
Pendelmig rantinnen aus Osteuropa betreuen Seniorinnen und Senioren in der Schweiz rund um die Uhr
Immer mehr gebrechliche
Betagte lassen sich zu Hause
vonAusländerinnen betreuen.
Es ist ein Milliardenmarkt, der
satte Gewinne verspricht, aber
kaumreguliert undkontrolliert
ist. In vielen Kantonen lassen
Massnahmen auf sich warten.
JÖRGKRUMMENACHER
«Das ist oft krass,wenn man rund um
die Uhr verantwortlich ist», sagt Mar-
tina M.* Sie lebt in Osteuropa und
kommt immer wieder für wenige
Wochen in die Schweiz, um Betagte zu
betreuen,die in ihren eigenen vierWän-
den leben. Sie macht ihreArbeit gern,
Tag und Nacht, aber manchmalkommt
Martina M., abgesehen vom Einkau-
fen, tagelang nicht aus derWohnung.
«Man fühlt sich dann wie eingesperrt»,
erzählt sie.In zweiWochen habe sie nur
gerade fünf Stunden frei.Das zehrt an
den Kräften, vor allem, wenn die be-
treutePerson nachts aufsteht und etwa
beim Stuhlgang unterstützt werden
muss. Und auch, wenn von den Ange-
hörigen wenig biskeine Unterstützung
kommt.Das passiere immer mal wie-
der:«EsgibtFamilien,da kümmert sich
niemand um die Eltern.»
Mehrere 10 000Migrantinnen
Martina M. istPendelmigrantin. So
heisst im Behördenjargon jene zuneh-
mende Zahl von Betreuerinnen,die sich
um Schweizer Seniorinnen und Senio-
ren kümmern, die stark hilfsbedürftig
sind und oft unter Demenz leiden, die
aber weiterhin zuHauseleben möchten
und nicht dauerhaft von ihren Angehö-
rigen gepflegt werdenkönnen. Die Be-
treuerinnenkommen aus Ostdeutsch-
land, Österreich,Polen, der Slowakei,
aus Ungarn undRumänien. Die meis-
ten sind älter als 45Jahre.
Wie viele für einige Wochen in
die Schweiz und wieder zurück in ihr
Heimatland pendeln, weiss niemand.
«Hierüberkönnen wirkeineAuskunft
geben», antwortet das Staatssekreta-
riat fürWirtschaft (Seco). Der Bran-
chenverband derPersonaldienstleister
(Swissstaffing) bedauert, dass es «lei-
derkeine verlässlichen Zahlen» gebe.
Und die Gewerkschaft Unia spricht
von einem «undurchsichtigen Markt».
Ein vom Bundesrat inAuftrag gegebe-
ner Bericht schätzte 20 16 ihre Zahl
grob auf 50 00 bis 30 000 Personen.«Wir
gehen davon aus, dass es heute mehr
sind: eher gegen 50 000 »,sagt Unia-
SekretärinYolandePeisl-Gaillet.
Das Geschäft mit den Pendel-
migrantinnen spielt sich in einer Grau-
zone ab,die Arbeitsbedingungen sind
höchst unterschiedlich, dieVorgaben
differieren von Kanton zu Kanton und
werden nichtkontrolliert, der Schwarz-
markt blüht.Für Peisl-Gaillet ist klar:
«Der mangelnde Schutz der Migran-
tinnen öffnetTür undTor für Miss-
brauch.»Auch der Bund bemängelte
in einem Berichtdie «teilweise prekä-
ren Arbeits- undWohnsituationender
betroffenen Arbeitnehmerinnen».
Hohe Belastung
All dies findet ineinemrasant wachsen-
den Markt statt. Insgesamt, so schätzt
die Universität St. Gallen (HSG) in
einer Studie, werden sich dieKosten für
dieLangzeitpflege Betagter von gegen-
wärtig15,6 Milliarden auf 31,3 Mil-
liardenFranken imJahr 2050 verdop-
peln.Das ergibt sich allein schon aus
der demografischen Entwicklung: Die
Zahl der pflegebedürftigen Betagten
steigt und steigt. Die Belastung ist hoch.
Auf privaterBasis gilt das insbesondere
dann, wenn die Betreuung Gebrech-
licher zu Hause erfolgtund anPendel-
migrantinnen und weitere Dienste wie
die Spitex delegiert wird.Während Ein-
sätze der Spitex zu grossenTeilenvon
den Krankenkassen übernommen wer-
den, müssen dieKosten für die 24-Stun-
den-Betreuerinnen weitgehend aus
dem privatenPortemonnaie berappt
werden. Hochgerechnet auf die ganze
Schweiz ergibt das eine Summe in Mil-
liardenhöhe.
Das Seco schätzt die Zahl bewillig-
terFirmen, die in diesem Bereich in
der Schweiz tätig sind, auf etwa hun-
dert. Hinzukommt der Schwarzmarkt
und ein Graumarkt, indem Haushalte
über informelle Netzwerke Pendel-
migrantinnen direktrekrutieren– ohne
«Umweg» über eineVerleihfirma. Die
zu grossenTeilen privat finanzierte Be-
treuung zu Hause entlastet das Ge-
sundheitswesen:Alternative wäreder
Aufenthalt in einem Pflegeheim, was
aberdieKosten für die Krankenkassen
und die öffentliche Hand massiv in die
Höhe treiben würde, abgesehen davon,
dass es an Pflegebetten wie an Pflegen-
den fehlte.
Branchenführer ist die international
tätigeFirma HomeInstead. Sie beschäf-
tigtin der Schweiz derzeit rund 20 00
Mitarbeitende,davon 1900 Frauen, mit
einemDurchschnittsalter von 56Jah-
ren. 1800Mitarbeitende wohnen in der
Schweiz;sie werden in derTagesbetreu-
ung eingesetzt. 20 0 sindPendelmigran-
tinnen, die aus demAusland anreisen.
Sie sind ausschliesslich für die 24-Stun-
den-Betreuung zuständig.
Politisch scheint die Betreuungs-
branche bisher einTabu-Thema zu sein.
«Man will nicht darüberreden», sagt
GewerkschafterinPeisl-Gaillet:«Die
Care-Arbeit wird alsWirtschaftszweig
zu wenig anerkannt und geschützt.» Sie
hoffe, dass sich dies mit dem neuenPar-
lament verbessern werde.
Large Umsetzung
Der Bund bemüht sich schon seiteini-
genJahren, etwas Licht insDunkel zu
bringen.Aufgrund eines Entscheids des
Bundesgerichts von 20 14 unterstehen
heutejeneBetreuerinnen, die durch
bewilligte Verleihfirmen zum Ein-
satzkommen, dem Gesamtarbeitsver-
trag Personalverleih.Für die anderen
gilt der Normalarbeitsvertrag (NAV )
Hauswirtschaft des Bundes. Ergän-
zend hat das Seco im vergangenenJahr
einen Modellvertrag für dieRegelung
der 24-Stunden-Betreuung vorgelegt.
Er sieht einen Mindestlohn undRe-
geln zur Bezahlung der Präsenzzeiten
vor, fixiert den Anspruch aufPausen,
eine wöchentlicheFreizeitvoneinein-
halbTagen oder den Zugang zum Inter-
net, der für denKontakt derPendel-
migrantinnen mit ihrenFamilien wich-
tig ist. Allerdings ist der Modellvertrag
nichtverbindlich,sondern dient ledig-
lich alsVorlage für die Kantone. Denn
diese sind verantwortlich für die Um-
setzung: Sie sind gehalten, dieRegeln
in kantonale Normalarbeitsverträge zu
überführen.
Dabei harzt es. Diesen Sommer
haben die Kantone zuhanden des
Bundesrats einen ersten Bericht ab-
liefern müssen, dessenResultate seit
kurzem auf der Homepage des Seco
publiziert sind. Erst die vierKantone
Genf, Appenzell Innerrhoden,Tessin
undWallis habenRegelungen für die
24-Stunden-Betreuung erlassen, im
Kanton Aargau ist die Umsetzung noch
für diesesJa hr geplant, in weiteren elf
Kantonen auf Beginn deskommenden
Jahres. In zehn Kantonen lassenVor-
gaben auf sich warten: Entweder ist
- wie im Kanton Zürich – noch offen,
wann die Umsetzung erfolgt. Oder es
ist noch gar nichts passiert, was auf die
KantoneThurgau, Glarus, Obwalden
undWaadt zutrifft.
Dennoch hat sich in denAugen
des Seco die Situation für diePendel-
migrantinnen in den letztenJahren
etwas verbessert.AuchPaulFritz, der
CEO derVermittlungsfirma HomeIns-
tead, stellt positiveVeränderungen fest,
dasich die meisten Anbieter dank dem
GAVPersonalverleih vermehrt an die
gesetzlichenRegelungen hielten.Laut
Fritz gibt es aber weiterhin eineReihe
schwarzer Schafe: «Ein grosses Pro-
blem sind vor allem ausländische An-
bieter, die unter demRadar der Be-
hörden bleiben und zum Beispiel über
Internet für sich werben».
Der Verband Swissstaffing kriti-
siert denWildwuchs derRegelungen
in den Kantonen. Besser wäre es, sagt
Swissstaffing-Mediensprecherin Blan-
dinaWerren, «wenn die notwendigen
Anpassungen im Arbeitsgesetz oder
in einerVerordnung geregelt worden
wären.Das würde eine gesamtschwei-
zerisch einheitlicheRegelung sicher-
stellen.»Auch die Gewerkschaft Unia
verlangt den Schutz der Arbeitnehme-
rinnen imRahmen des Arbeitsgesetzes.
YolandePeisl-Gaillet zeigt sich ernüch-
tert ob der fehlenden oder stark abge-
schwächten Umsetzung des Modellver-
trags in den Kantonen:«Das geht zu
Lasten der Migrantinnen. Letztlich la-
gert man unbezahlte Care-Arbeit ein-
fachan diese aus.»
Hohe Gewinnspanne
Selbst wenn arbeitsvertraglicheRege-
lungen eingeführt sind, bleibt ungelöst,
wie ihre Umsetzungkontrolliert wer-
den soll.Das gilt insbesondere für den
Schwarzmarkt und für jene 24-Stun-
den-Betreuerinnen, die direkt von den
Haushalten angestellt werden.So oder
so sind die Arbeitsbedingungen we-
nig berauschend – auch bei seriösen
Arbeitsvermittlern wie dem Branchen-
führer HomeInstead, die sichanGAV
undNAV halten. DerModellvertrag
des Bundes sieht einen obligatorischen
Mindestlohn pro Stunde von 19.
Franken vor, zudem wenigstens fünf
Franken für die weiteren Präsenzzeiten.
Wasdas in der Praxis bedeutet, lässt
sich an einem Beispiel skizzieren: Der
Lohn ergibtsich aus einerArbeitszeit
von knapp sieben Stunden und einer
Rufbereitschaft von weiteren neun
Stunden. Er beträgt rund 200 Franken
proTag – inklusive den Anteilen für den
- Monatslohn, dasFeriengeld sowie
die Sonntagsentschädigung. Davon ab-
gezogen werden gemäss Modell-NAV
33 Franken fürKost und Logis, womit
einer Betreuerin167 Franken bleiben.
DerKunde bezahlt bei derVerleih-
firma HomeInstead allerdings deutlich
mehr: nämlich einenTagesansatz von
450 Franken. Der Lohn macht somit
nur rund 37 Prozent desTarifs aus. Die
weiteren 63 Prozent werden für Lohn-
nebenleistungen,Reisekosten,Admi-
nistration, Begleitung,Rekrutierung
und Sachkosten erhoben – und für den
Gewinn.
Der Bericht, den der Bundesrat in
Auftrag gegeben hat, gehtvon teilweise
hohenProfiten in der Branche aus. Pro
Monat dürften diePendelmigrantinnen
zwischen 1000 und im allerbestenFall
6500 Franken verdienen, der übliche
Verdienst dürfte etwa 2500Franken
betragen. Die Preise, die derKunde an
dieVerleihfirmen zahlt,variieren aber
zwischen 2500 und 15000 Franken pro
Monat.
Zureden gibt unterPendelmigran-
tinnen, dass ihnen die Kosten für
Kost und Logis vom Lohn abgezogen,
diese aber nicht von derVerleihfirma
übernommen werden. Es sind näm-
lich dieKunden, die verpflichtet sind,
ein Schlafzimmer wie auch angemes-
seneVerpflegunggratis zurVerfügung
zu stellen – eineRegelung, welche die
Rendite derVerleihfirmen erhöht.
Trotzdem besser als zu Hause
Eine Lobby, die sich für ihreAnliegen
einsetzt, haben diePendelmigrantin-
nen kaum.Jede von ihnen ist weitge-
hend auf sich allein gestellt,Kontakte
untereinander gibt es selten. Einzelne
schliessen sich in einer WhatsApp-
Gruppe zusammen, wenige lassen sich
gewerkschaftlich vertreten. «Die meis-
ten haben Angst, sich zu wehren», sagt
Martina M., «denn sie sind auf denJob
angewiesen».Auch Martina M. wird
weiterhin in die Schweizkommen, um
Betagte zu betreuen. Denn trotz aller
Mühen, trotz desrelativ tiefen Lohns:
Hier ist es besser als zu Hause, hier ver-
dient sie mehr.
*Namegeändert
Zunehmend Normalfall in den HaushaltenBetagter: EineBetreuerin aus Rumänienhilft beim An- undAusziehen. GORAN BASIC/NZZ
BETAGTENPFLEGE
In einer dreiteiligen Seriewerfen wir
einen Blick auf dieBetagtenpflege ab-
seitsvon Heimen und Spitälern. Der
zweiteTeil befasst sich mit der Hilflosen-
entschädigung, der dritte mit der unge-
klärten Situationvon Sterbehospizen.
nzz.ch/schweiz
«Der mangelnde Schutz
der Migrantinnen
öffnetTür undTor
für Missbrauch.»
YolandePeisl-Gaillet
Unia-Sekretärin
«Die meisten haben
Angst, sich zu wehren,
denn sie sind auf
den Job angewiesen.»
Martina M.
Pendelmigrantin