Donnerstag, 31. Oktober 2019 SCHWEIZ
Sozialausbau im Eilverfahren
Der Bundesrat drückt bei den Zahlungen anältere Arbeitslose aufs Tempo und lockert die Regeln
FABIAN SCHÄFER
Man kann dem Bundesrat nicht vorwer-
fen, errede um den Brei herum. In der
Botschaft zu den neuen Sozialleistungen
für ältere Arbeitslosekommt er ohne
Umschweife auf dasThema zu sprechen,
um das es vor allem geht: diePersonen-
freizügigkeit mit der EU. Deren Schick-
sal steht wegen der Begrenzungsinitiative
derSVP auf dem Spiel, die voraussicht-
lich im Mai an die Urnekommt.Weil sich
gerade auch ältere Bevölkerungsgruppen
gegenüber der Zuwanderung skeptisch
zeigen, will der Bundesratrechtzeitig vor
dem Urnengang signalisieren, dass er ihre
Sorgen ernst nimmt.
Nur die SVP ist dagegen
In Zukunft sollen Arbeitslose, die mit
über 60Jahren ausgesteuert werden, bis
zurPensionierung grosszügiger unter-
stütztwerden.Dafür hat der Bundesrat
eine neue Sozialversicherung aufgesetzt:
die Überbrückungsleistungen(ÜL). Am
Mittwoch hat er die Botschaft ansParla-
ment verabschiedet. Dort soll es im Hau-
ruckverfahren weitergehen. Der Stände-
rat diskutiert dieVorlage im Dezem-
ber. Somit ist denkbar, dass das Geschäft
schon unterDach undFach ist, wenn die
SVP-Initiative an die Urnekommt. Dies
wäre einerekordverdächtige Leistung,
wenn man bedenkt, dass der erste Ent-
scheid für das neue Sozialwerk im Mai
2019 gefällt wurde.
Das Projekt ist breit abgestützt. Fun-
damentaloppositionkommt nur von der
SVP. Die FDP will den Sozialausbau
ebenso mittragen wie die Linke und die
CVP. Die Gewerkschaften und dieWirt-
schaftsverbände stehen grundsätzlich
ebenfalls dahinter, sie haben diesenVor-
schlag ursprünglich selber erarbeitet.
Der Bundesrat hat am Mittwoch nur
noch ein Detail geändert:Auf Antrag von
Sozialminister Alain Berset (sp.) hat er
den Zugang zur neuen Sozialleistung in
einem Punkt vereinfacht. Ursprünglich
war geplant, dass man unmittelbar vor
dem Stellenverlust 10Jahre gearbeitet
haben muss, um ÜL zu bekommen.
Nun hat der Bundesrat eine flexi-
blere und grosszügigereLösung ge-
wählt: Man muss in den letzten 15 Jah-
ren mindestens 10Jahre gearbeitet
haben.Damit wirdder Kreis der Bezü-
ger grösser. Nach dem ersten Entwurf
wärenPersonen zum Zug gekommen,
die ab 48 Jahren ununterbrochen arbei-
ten und ihre Stelle frühestens mit 58
verlieren. Sie erhalten zweiJahre lang
Arbeitslosengelder und sindmit 60 aus-
gesteuert. Neu sind auch andereKon-
stellationen mit Unterbrüchen möglich.
Berset sagte, die ursprünglicheRege-
lungsei zurestriktiv.Vielfachkönne sie
nicht erfüllt werden, etwa weil die Be-
troffenen krank werden oder einen Un-
fall haben. In solchenFällen soll dank
der neuenRegelung der Zugang zu den
ÜLtrotzdem möglich sein. Umgekehrt
lässt dies den Schluss zu, dass der «klas-
si sche»Fall von Angestellten,die jahr-
zehntelang am selben Ort arbeiten und
im Alter entlassen werden, seltener ist
als angenommen.
BevorzugteWohneigentümer
DieKosten sollen trotzAusweitung tie-
fer ausfallen als geplant. Erwartet wer-
den jährlicheAusgaben von 30 Millionen
Franken, die später auf 220 bis 230 Mil-
lionen ansteigen. Zuletzt war der Bund
noch von bis zu 270 Millionen ausgegan-
gen. Im Gegenzug sollen dieAusgaben
bei den Ergänzungsleistungen und der
Sozialhilfeum50 Millionen sinken.Vor-
aussichtlich haben etwa 4400Personen
Anrecht auf die ÜL.ImDurchschnitt er-
halten sie rund 3500Franken im Monat
(Verheiratete: 4600Franken). Der Maxi-
malbetrag ist 4900Franken (Verheiratete:
7300 Franken).
An derVermögensschwelle hält der
Bundesrat fest: Anspruch hat, wer weni-
ger als 10 0000 FrankenVermögen hat
(Ehepaare: 20 0000 Franken). Haus-
besitzer geniessen eineVorzugsbehand-
lung, da selbst bewohntesWohneigen-
tum nicht angerechnet wird. Hingegen
werden Einkäufe in diePensionskasse
ebenso berücksichtigt wie dieRück-
zahlung von Hypotheken, da sich die
Vermögensschwelle sonst leicht unter-
laufenliesse. In Betracht fallendie drei
Jahre vor derAussteuerung. Sprich:Wer
seine Hypothek früher abbezahlt hat, hat
Glück gehabt.
Wenn ältere Angestellte ihrenArbeitsplatzvorzeitig verlassen müssen, sollen sie grosszügiger unterstütztwerden. ANNICK RAMP / NZZ
Grosses Vakuum
bei der SVP
Silvia Bär tritt auf EndeJahr
als Vizegeneralsekretärin zurück
MICHAEL SURBER
Ein «Goldstück» sei SilviaBär,sagte
Adrian Amstutz kürzlich während einer
Buchpräsentation in Bern. «Sie war für
mich alsFraktionschef,aberauch als
Wahlkampfleiter Gold wert», sagt der aus
dem Nationalrat zurücktretende Amstutz
auf Nachfrage. Der stellvertretenden
Generalsekretärin derSVP dürfte dieses
öffentliche Lob nicht geheuer sein.Denn
der Zürcherin war dieRolle im Hinter-
grund stets lieber.AmMittwoch wurde
publik, dassBärnach langenJahren bei
derSVP gekündigt hat und per 20 19 das
Generalsekretariat verlässt. «Ich möchte
mich mehr dem Privaten widmen.» Sie
brauche Zeit, um sich um ihre Eltern zu
kümmern. Zudem führesie ja noch eine
Golfanlage. DerRücktritt sei schon län-
ger geplant und mit demParteipräsiden-
tenabgesprochen gewesen. Und trotzdem
dürftedieserVerlust dieSVPschmerzen.
Amstutz lobtBär in den höchstenTö-
nen. Sie sei «absolut verlässlich» in der
Zusammenarbeit, zudem «grundehrlich».
In Diskussionenkönne es zwar vorkom-
men, dassman teilweise hartaneinander-
gerate, doch schon bei der Besprechung
des nächsten Geschäftes gehe es einver-
nehmlich undkonstruktiv weiter.
Zu weit gegangen
Doch nicht alle in derSVP konnten mit
Bärs Art gleich gut umgehen. Sie weise
unumwunden auf Missstände hin,könne
auch barsch sein, heisst es. «Ich habe mich
überall, wo ich gearbeitet habe, voll ein-
gebracht», sagtBär. Gleiches verlangt sie
von ihrem Umfeld. Es ist dieser Einsatz
und die Hartnäckigkeit, die ihrRespekt
einbrachten. Denn bei aller Kritik an der
teilweiseschroffen Art ist klar,dassBär
diePartei mitgestaltet hat. Bei denWahl-
kämpfen und Kampagnen derPartei war
sie eine der zentralenFiguren. «Frau Bär
hat grosse Erfahrung, denkt voraus und ist
strategisch gewandt», sagtAmstutz.
Einer breiteren Öffentlichkeit wurde
Bär bekannt, als sie 20 17 für das Inse-
rat «Kosovaren schlitzen Schweizer auf»,
das dieSVP im Zug der Masseneinwande-
rungsinitiative geschaltethatte, mit dem
damaligenSVP-Generalsekretär Martin
Baltisser vom Bundesgericht wegenRas-
sendiskriminierung verurteilt wurde.
Bewusst in der zweiten Reihe
Bär, die auf einemBauernhof im Säuli-
amt aufgewachsen ist, trat nach einer
Banklehreund einem Studium derPoli-
tikwissenschaften 1998 ein Praktikum auf
dem Generalsekretariat derSVP an. Zwi-
schendurch wechseltesie zur StadlerRail
des damaligenSVP-NationalratsPeter
Spuhler.2 00 7war sie dann aber wieder
zurück bei derSVP.
Bäramtete auf dem Generalsekreta-
riat stets als Nummer zwei.Während ihrer
Zeit in derParteizentrale wechselte die
Leitung mehrere Male.Gerüchteweise
auch wegenBär selbst, die sich über die
Jahre eine dominante Stellung erarbeitet
hat. DieFrage, weshalb sie angesichts des-
sen nie selbst in dievordersteReihe wech-
seln wollte, beantwortetBär damit, dass
sie das damit einhergehende verstärkte
Rampenlicht nie gesucht habe.
Ihre jetzigeFunktion alsVizegeneral-
sekretärin ist in denParteistatuten gar
nicht vorgesehen.Dass es denPosten
trotzdem gibt, sagt viel über die Stellung
Bärs aus. Ob es dieFunktion nach dem
AbgangBärs noch geben wird, sei Gegen-
stand laufender Diskussionen in derSVP-
Geschäftsleitung, sagt Präsident Albert
Rösti.Bär selbst schliesst eineRückkehr
in eine politische Tätigkeit nicht aus. Kon-
kretes sei aber noch nicht geplant.
Silvia Bär
Vizegeneralsekretärin
PD SVP
Fehlanreize für Arbeitgeber und Arbeitnehmer
Die geplante Überbrückungsrente kannkontraproduktiv sein – einevomBundbestellte Studie relativiert Befürchtungen
HANSUELI SCHÖCHLI
1964 ist in der Schweiz der Spitzenjahr-
gang. Zumindest zahlenmässig. Fast
137000 Einwohner haben diesenJahr-
gang und sind damit heuer 55Jahre alt.
SchwächereJahrgänge bringen es auf
80000 bis 120 000 Personen. DieVe r-
treterdergeburtenstärkstenJahrgänge
sind nun 50- bis 60-jährig und auch in
derPolitik stark präsent.Das Schick-
sal der Älteren spielt deshalb politisch
heute eine grosseRolle. So ist es Mode
geworden, dieSchwierigkeiten von Älte-
ren am Arbeitsmarkt zu beklagen. Der
Bundesrat will mit der Überbrückungs-
rente für ältereLangzeitarbeitslose vor
allem die Skepsis gegenüber derPerso-
nenfreizügigkeit Schweiz-EU dämpfen.
Den Älteren geht es gut
Laut denDaten gibt eskein spezielles
Arbeitslosigkeitsproblem für Ältere.
Gemessen an der Arbeitslosenquote,
der breiter definierten Erwerbslosen-
quote (dieAusgesteuerte voll umfasst)
und der Sozialhilfequote geht es den
Älteren eher etwas besser als denJün-
geren. So belief sich zum Beispiel 20 18
die Erwerbslosenquote bei den 55- bis
64-Jährigen auf 4,0 Prozent und in der
Gesamtbevölkerung auf 4,7 Prozent.
Ältere brauchen aber nach einer Ent-
lassung im Mittel länger, bis sie wieder
eine Stelle finden. Deshalb gilt für Äl-
tereeine höhere maximale Bezugsdauer
für Arbeitslosengelder – was laut Bun-
desrat zur längeren Arbeitslosigkeit der
Älteren beiträgt. Insgesamt war aber in
den letztenJahren das Risiko, arbeitslos
und späterausgesteuert zu werden, für
55- bis 64-Jährige etwas tiefer als für den
Durchschnitt der Bevölkerung.
Vertreter vonPersonalvermittlern
und Arbeitsmarktbehörden betonen
im Gespräch, dass die den Älteren zu-
gewiesene Opferrollekontraproduktiv
seinkönne, weil sie bei den Betroffenen
die Haltung «ich habe ja ohnehinkeine
Chance» fördere. Die grosse Mehrheit
der über 55-jährigen Arbeitslosen findet
wieder eine Stelle. Selbst fürAusgesteu-
erte ist dieLage nicht hoffnungslos; laut
Bundesdaten für 2013 bis 20 17 war bei
den55-bis64-Jährigen einJahr nach der
Aussteuerung knapp dieHälfte wieder
erwerbstätig.Allerdings finden gemäss
einer Studie nur etwa 14 Prozent der
ausgesteuerten 55- bis 64-Jährigen eine
dauerhafte Beschäftigung mit Monats-
lohn über 2500Franken.
DieWirkung von Statistiken ist be-
schränkt, dennPolitik ist ein Geschäft
mit Emotionen. Die vorgeschlagene
Überbrückungsrente soll für ausge-
steuerte Arbeitsloseeine Art «Mittel-
standsgarantie» liefern und damit ver-
breitete Ängste lindern. Doch dieser
Ausbau der Sozialleistungen könnte
kontraproduktiv sein und die Erwerbs-
tätigkeit der Älteren senken. Dies be-
fürchtet das Staatssekretariat fürWirt-
schaft, das intern vor «negativenAuswir-
kungen auf den Arbeitsmarkt» gewarnt
hatte.Wie jederAusbau der Sozialleis-
tungen dürfte auch dieser zuVerhal-
tensänderungen führen, aber dasAus-
mass ist offen.
Laut Studienur geringe Effekte
Arbeitgeber mögen künftig das Gefühl
haben, dass mit der Überbrückungs-
rente die sozialeVerantwortung für äl-
tereMitarbeiter an den Staatabgescho-
ben ist; dies kann die Hemmung zur
Entlassungvon Älteren und zur Be-
vorzugung von jüngeren Stellenbewer-
bernreduzieren. Es geht hier nicht um
rasche Massenentlassungen, sondern um
die Summe vieler künftiger Einzelfall-
abwägungen bei Einstellungen und Ent-
lassungen. Dies kann auch Einfluss auf
Weiterbildungsinvestitionen der Arbeit-
geber in Ältere haben.
Seitens der Arbeitnehmer kann
dieAussicht auf eine Überbrückungs-
rente die Motivation zur Stellensuche
und auch zurWeiterbildungreduzie-
ren. Die Bundesökonomen sagten esso:
«Die vorgesehene Überbrückungsleis-
tung schwächt die Erwerbsanreize und
schmälert ab einem bestimmten Alter
die Motivation zum Erhalt der eigenen
Arbeitsmarktfähigkeit.»
Das Bundesamt für Sozialversiche-
rungen versuchte, solche Befürchtungen
durch eine externe Studie des Berner
BürosBass zu zerstreuen.Das Papier
kommt zum Schluss, dass die geplante
Überbrückungsrente negative Effekte
habenkönnte, diese aber nur gering sein
dürften. Sorechnen dieAutoren zwar
alsFolge der Überbrückungsrente mit
einer längeren Arbeitslosigkeit für ge-
wisse potenzielle Anspruchsberechtigte,
aber nur ein kleiner Effekt sei zu erwar-
ten, da nur einTeil der älteren Arbeits-
losen die neue Sozialleistung beanspru-
chenkönne, diese Leistung tiefer liege
als mögliche Erwerbseinkommen und
die meisten Arbeitslosen sich um eine
Stelle bemühen müssten.
Ähnliches sagt dasPapier in Bezug
auf die Arbeitgeber: Einige Arbeitgeber
mögen Ältere wegen der Überbrü-
ckungsrente eher entlassen oder weni-
ger einstellen, aber eine solcheWirkung
sei nur bei einer «kleinen Minderheit»
zu erwarten.Laut demPapier hatdie
seit 2011 geltende Überbrückungsrente
für ältereArbeitslose im KantonWaadt
bisherkeine sichtbaren Negativreaktio-
nen der Arbeitgeber gezeitigt.
Dass eher nicht mit einem dramati-
schen Effekt am Arbeitsmarkt zurech-
nen ist, spiegelt dieTatsache, dass die
geplante Sozialleistung auf einerelativ
kleine Gruppe beschränkt ist und damit
auch der Nutzen nicht dramatisch sein
wird.Für die einzelnen Direktbetroffe-
nen mag das Bild anders aussehen, aber
dies gilt für dieKosten ebenso wie für
den Nutzen – mit dem Unterschied, dass
dieKosten möglicherFehlanreize ver-
steckt bleiben werden, weil sichkeine
konkreten Namen und Gesichter damit
verbinden lassen. Die Erfahrung lehrt
überdies: Ist die neue Sozialleistung ein-
mal eingeführt, wird sie wohl bis zum
Untergang des Abendlandes bleiben.
Der Sozialausbau im
Eiltempoistfragwürdig
Kommentar auf Seite 11