Süddeutsche Zeitung - 14.11.2019

(Michael S) #1
von thomas kistner

E


s war ein großer Aufschlag Anfang
des Jahres, der erste seiner Art, als
während der Ski-Nordisch-WM in
Seefeld deutsche und österreichische
Strafbehörden eine ziemlich ergiebige
Doping-Razzia vollzogen; das Bild des
heillos verdatterten Langläufers Max
Hauke, den die Bundespolizisten auf fri-
scher Tat noch mit der Infusionsnadel im
Arm ertappt hatten, ging um die Welt. Im
Zuge der „Operation Aderlass“ wurde ein
Blutdoping-Netzwerk rund um den Erfur-
ter Sportmediziner Mark Schmidt ausge-
hoben, bisher 21 Betrüger konnten ermit-
telt werden über Dutzende fachmän-
nisch eingefrorene Blutbeutel und ande-
re Beweismittel. Und abgeschlossen sind
die Untersuchungen noch immer nicht.


Wie hilfreich es ist, wenn staatliche
Instanzen den Dopingmachenschaften
auf den Grund gehen, zeigt sich soeben
an der Entlassung des Eisschnelllauf-
Trainers Robert Lehmann-Dolle am
Olympiastützpunkt Berlin (OSP). Der
35-jährige Erfurter soll ebenfalls in die Af-
färe verwickelt sein, Lehmann selbst hält
sich dazu bisher sehr bedeckt. Doch wäh-
rend das sportrechtliche Verfahren der
nationalen Anti-Doping-Agentur Nada
noch läuft, hat sich sein Arbeitgeber via
Akteneinsicht um detailliertere Infor-
mationen bei der parallel ermittelnden
Staatsanwaltschaft bemüht. Auf einer
derartigen Grundlage lassen sich auch
knifflige arbeitsrechtliche Fragen schnel-
ler abhandeln. Insbesondere, steht zu ver-
muten, wenn ein Betroffener intensiv mit
Nachwuchssportlern zu tun hatte.
Operation Aderlass bleibt also ein wich-
tiger Trailer für die Zukunft der Betrugs-
bekämpfung – auch wenn zwischen deut-
schen und österreichischen Vertretern
mittlerweile leise Spannungen auftreten.
Letztere bemängeln ein allzu schleppen-
des Arbeitstempo im Nachbarland, sie
selbst sind ja flott zur Tat geschritten und
haben erste Urteile verhängt. Langläufer
Hauke erhielt eine fünfmonatige Bewäh-
rungsstrafe, vor dem Landesgericht Inns-
bruck hatte er Blutdoping und die Einnah-
me von Wachstumshormon gestanden.
Zuvor kassierte die Mountainbikerin
Christina Kollmann-Forstner eine Bewäh-
rungsstrafe von acht Monaten.


Aus deutscher Sicht wirken die Straf-
maße recht dezent, die da im österreichi-
schen Ski-Bundesland Tirol gepflegt wer-
den. Im Übrigen liegt die Sache hierzulan-
de anders: Während in Austria einfache
Verfahren zu einzelnen Athleten, deren
Vergehen teilweise bildhaft belegt sind,
stattfinden, muss sich die deutsche Straf-
justiz mit dem komplexen, grenzübergrei-
fenden Netzwerk hinter der Affäre befas-
sen. Sollte also die Münchner Staats-
anwaltschaft tatsächlich, wie ihr Chef Kai
Gräber jüngst ankündigte, um die Jahres-
wende Anklage gegen den Arzt erheben,
wäre dies ein wahrhaft rasantes Tempo.
Und sicher ist: Käme es zu einer Verur-
teilung des seit Februar in U-Haft sitzen-
den Arztes und seiner mutmaßlichen Hel-
fer, würde dies wesentliche Fingerzeige
auch in der Frage liefern, wie die österrei-
chische Justiz ihr Anti-Doping-Gesetz an-
wendet: wirklich entschlossen – oder
doch eher in mildtätiger Nachsicht.


Macau/München– Sophia Flörsch hat zu-
letzt viel Zeit im Simulator verbracht. Die
Tage, an denen Motorsportler ihre Autos
auf der Strecke testen können sind knapp
geworden, auch in den Nachwuchsklassen.
Also hat sich Flörsch in einem Raum in
einen Fahrersitz gesetzt, die Füße auf den
Pedalen, die Hände am Lenkrad, vor sich
einen Bildschirm. Sie ist immer dieselbe
Strecke gefahren, drei Stunden täglich, ein-
einhalb Wochen lang. Es ist eine Strecke,
die für die Münchnerin besonders bleiben
wird, auf die sie sich besonders gut vor-
bereiten will. Dort hätte nicht bloß ihre Kar-
riere auf tragische Weise enden können,
sondern ihr ganzes Leben. In dieser Woche
ist sie dorthin zurückgekehrt, zum Stadt-
kurs von Macau.
Für Flörsch war das Weltfinale der For-
mel 3 am 18. November 2018 in der chinesi-
schen Sonderverwaltungszone der Höhe-
punkt. Sie hatte zuvor ihr Abitur priori-
siert, ihre erste Saison in der Nachwuchsse-
rie war mehr ein Testlauf. Die Aufmerk-
samkeit der Szene ist beim Formel-3-Ren-
nen von Macao größer als sonst, ideal also,
um mit Schnelligkeit und guten Überhol-
manövern für sich zu werben. In der vier-
ten Runde fuhr Flörsch unmittelbar vor
dem Anbremsen der Lisboa-Kurve auf das
Auto von Jehan Daruvala auf, der plötzlich
verlangsamt hatte. Bei dem Unfall wurden
die linken Räder von Flörschs Auto abge-
knickt, woraufhin sich ihr Fahrzeug um
180 Grad drehte und entgegen der Fahrt-
richtung an der inneren Leitplanke ent-
lang rutschte. Flörsch hatte auf einmal kei-
ne Möglichkeit mehr, das Auto zu verlang-
samen: Auf der Innenseite der Lisboa-Keh-
re rutschte sie rückwärts über einen Rand-
stein, hob ab – und streifte deshalb das Au-
to des Japaners Sho Tsuboi nur am Über-
rollbügel, anstatt mit diesem zu kollidie-

ren. Tsuboi hatte Glück – aber Flörsch se-
gelte rückwärts und schlug in mehreren
Metern Höhe in die Streckenbegrenzung
ein. Mit einem Tempo von mehr als 270 Ki-
lometern pro Stunde.
Kann jemand, der so einen schlimmen
Unfall überlebt hat, jemals wieder Rennen
fahren? Überwiegt da nicht die Angst, die
Erinnerung an das schreckliche Erlebnis?
Flörsch hat sich diese Fragen nie gestellt.
Schon kurz nachdem sie elf Stunden lang
von Ärzten operiert wurde, die ihr ein
Stück ihres Hüftknochens in den gebroche-
nen Halswirbel einsetzten, stand für sie
fest: Sie will wieder beim Weltfinale dabei
sein. „Dass es nur ein Jahr später klappt,
hätte ich nicht gedacht. Ich freue mich

enorm auf meine Rückkehr“, sagt die 18-
Jährige vor ihrer Abreise am Telefon: „Bis
zu meinem Unfall hat mir die Woche dort
so viel Spaß gemacht. Die Strecke ist
unglaublich und hat Kultstatus, man muss
in einen guten Rhythmus finden bei den
19Kurven, das ist herausfordernd.“
Erst wenige Wochen vor dem Weltfinale
stand fest, dass sie an den Ort ihres Unfalls
zurückkehren würde. Quereinsteiger sind
vom Reglement nicht vorgesehen, und zu
denen zählt Flörsch. Weil die Formel-3-Se-
rie „Formula European Masters“ kurz vor
dem Saisonstart im Frühjahr abgesagt wor-
den war, musste sie umdisponieren und
entschied sich für die italienische For-
mel3. Sie bekam dennoch die Erlaubnis

für Macau und vom deutschen Team HWA
Racelab ein Cockpit in Aussicht gestellt. An
Flörschs einzigem Testtag in dem mit
einem bis zu 400 PS starken Saugmotor
ausgestatteten Wagen der Formel-3-Meis-
terschaft regnete es ununterbrochen. Sie
kannte das Auto kaum, sie ist einen 270 PS
starken Turbomotor gewohnt. Aber sie war
schnell genug, bekam von HWA die Zusage


  • und fand innerhalb von zwei Wochen ge-
    nug Sponsoren. „Ich bin die Einzige, die bis
    zu den Trainingsläufen in Macau noch kei-
    nen einzigen Meter im Trockenen gefah-
    ren ist. Das wird interessant“, sagt sie:
    „Aber ich fühle mich gut vorbereitet.“
    Für sie wird Macau wieder zu einem
    Höhepunkt. Weil es für sie der endgültige
    Beweis ist, dass sie sich zurückgekämpft
    hat. Vier Tage nach der Operation damals
    konnte sie nur wenige Schritte laufen,
    einen Monat später mit leichtem Training
    beginnen, im März kehrte sie ins Auto zu-
    rück und arbeitete von da an im Kraftraum
    und auf der Strecke, als sei nichts gewesen.
    Im September lief sie in Berlin ihren ersten
    Marathon. „Wieder zu fahren hat sich ange-
    fühlt, als würde ich nach Hause kommen“,
    sagt Flörsch, „und ich glaube, ich habe da-
    mit vielen gezeigt, dass ich wirklich über
    den Unfall hinweg bin.“ Sie hat zwei Sicht-
    weisen darauf: Mental haben sie die Erleb-
    nisse stärker gemacht, „sportlich aber hat
    das meine Karriere zurückgeworfen. Ich
    musste mich von Null heranarbeiten und
    konnte nicht in der Formel-3-Meister-
    schaft fahren, weil ich die Vorbereitungs-
    tests verpasst habe. Eine Teilnahme hätte
    so keinen Sinn gemacht.“ Wer in die
    Formel 1 will, hat keine Zeit zu verlieren, da
    ist Flörsch ganz pragmatisch.
    2020 soll wieder alles nach Plan laufen.
    Mit HWA und potenziellen Sponsoren lau-
    fen noch Gespräche, entscheiden wird sich


ihre Zukunft wohl bis Anfang Januar. Aber
erst einmal fokussiert sich Flörsch auf Ma-
cau. Sie wird die Ärzte besuchen, die sie vor
einer Querschnittslähmung bewahrt und
ihr die Fortsetzung ihrer Motorsportkarrie-
re ermöglicht haben. Das ist Flörsch wich-
tig. Und dann will sie am Rennwochenende
gute Leistungen zeigen. Vier Deutsche wer-
den in Macau starten, darunter auch David
Schumacher, der Neffe des siebenmaligen
Formel-1-Weltmeisters Michael Schuma-
cher. Unter 33 Piloten ist Flörsch die einzi-
ge Frau. Sie sagt, auf der Strecke wolle sie
allein durch Schnelligkeit herausstechen
und nicht als diejenige wahrgenommen
werden, die dort vor einem Jahr diesen
schlimmen Unfall hatte.

Als sie am Montag in Macau ankam, ist
sie gleich zur Unfallstelle gegangen. Sie hat
das mit ihrem Handy gefilmt, auf dem
Video schwenkt sie nach links zur Geraden
und dann nach rechts zu der Stelle, wo sie
mit ihrem Wagen eingeschlagen ist. Sie
kann inzwischen mit Humor darauf zu-
rückblicken. Sophia Flörsch hat das Video
mit dem Satz kommentiert: „Hier habe ich
letztes Jahr versucht zu fliegen.“ Bei die-
sem einen Versuch würde sie es gerne be-
lassen. anna dreher

von jean-marie magro

I


n Frankreich sind nicht etwa ein stol-
zer Adler oder ein kräftiger Bär das
Nationalsymbol, sondern der Hahn.
Warum, verrät ein Sprichwort: „Weil
er das einzige Tier ist, das mit den Füßen
im Mist singt.“ Wahrscheinlich trifft dieses
Wort auf niemanden so zu wie auf Ray-
mond Poulidor.
Poulidor war, das lässt sich aus seinem
Spitznamen „l’éternel second“ (der ewige
Zweite) nicht schließen, ein sehr erfolgrei-
cher Radsportler. Er gewann große Rennen
wie Paris-Nizza, Mailand-Sanremo und die
Spanien-Rundfahrt. Nur stand er eben
beim größten Rennen der Welt, der Tour de
France, achtmal bloß auf dem Podium, fünf-
mal als Dritter, dreimal als Zweiter. Kein ein-
ziges Mal streifte er das Gelbe Trikot über.
Doch genau diese Geschichte machte aus
einem einfachen Radrennfahrer den wohl
beliebtesten Sportler Frankreichs.
Einfach ist wohl das Adjektiv, das Pouli-
dor am besten beschrieb, und es ist nicht
despektierlich gemeint. „Poupou“, wie ihn
seine Landsleute nannten, wuchs im
Departement Creuse auf, eine der ärmsten
Gegenden in Zentralfrankreich. Weit weg
von Paris und wirtschaftlich prosperieren-
den Städten. Die Eltern waren Landwirte.
Er selbst half schon als Kind auf dem Hof.
Poulidor stand sinnbildlich dafür,
berühmt sein zu können und doch mit bei-
den Füßen im Leben zu stehen. Das Gegen-
beispiel dafür war sein großer Konkurrent
Jacques Anquetil. Ein ungemein eleganter
und attraktiver Fahrer, der – anders als
Poulidor – fünfmal die Tour gewann. An-
quetil war zwar wie sein Kontrahent Fran-
zose, doch er wirkte unnahbar und arro-
gant. Poulidor war Poulidor. Ein Mann, der
mit den Schwierigkeiten des Lebens wie zu-
rechtkommen musste, wie alle anderen.
Die Rivalität der beiden Franzosen gip-
felte 1964 auf dem Puy de Dome, Ellen-
bogen an Ellenbogen rauschten sie den Vul-
kan im Zentralmassiv hinauf. Anquetil war
müder als Poulidor, doch der hatte eine fal-
sche Übersetzung aufgelegt und musste

viel schwerer treten als er eigentlich woll-
te. Poulidor nahm seinem Widersacher
trotzdem Zeit ab, verpasste das Gelbe Tri-
kot aber um 14 Sekunden. Beim abschlie-
ßenden Zeitfahren in Versailles fieberten
600000 Zuschauer mit, und als Anquetil
ins Ziel rollte, feierten sie Poulidor. Für ei-
nen Moment glaubte er sogar, die Tour end-
lich gewonnen zu haben. Doch der beste

Zeitfahrer seiner Generation hatte ihm kei-
ne Chance gelassen. Mit 55 Sekunden Vor-
sprung verwies ihn Anquetil, wieder ein-
mal, auf den zweiten Platz.
Nach dem Rücktritt Anquetils war der
immer noch junge Poulidor dessen natür-
licher Nachfolger. Doch immer wieder kam
etwas dazwischen. Neue Talente wie Lands-
mann Roger Pingeon oder der Italiener Fe-

lice Gimondi etwa. 1968 sah Poulidor wie
der Sieger aus, doch dann überfuhr ihn ein
Motorradfahrer, er musste aufgeben.
Schließlich ist Sport auch immer eine
Frage des Timings, und an Poulidor klebte
das Pech, dass er es in seiner Generation
gleich mit zwei Jahrhundertfahrern zu tun
bekam. Der zurückgetretene Anquetil war
der erste, ab 1969 brach dann das Zeitalter

des Eddy Merckx an. Gegen den „Kanniba-
len“ hatte „Poupou“ immer wieder das
Nachsehen, egal wie laut sie ihn die Berge
hinauf schrien. Trotzdem probierte er es
noch bis ins hohe Alter: 1976, mit 40 Jah-
ren, schaffte er es sogar noch einmal aufs
Podium. Es war ein würdiger Tour-Ab-
schied, der zu ihm passte: kein Sieg, kein
Gelb, aber die eigenen Grenzen auslotend.

Seine Leistungsfähigkeit in diesem Al-
ter erklärte Poulidor damit, dass er nie ge-
dopt habe. In einem TV-Interview vor drei
Jahren räumte er jedoch ein, Amphetami-
ne geschluckt zu haben. Nicht viel, nur um
die Moral am Laufen zu halten. Poulidor
wusste nicht, dass die Kamera noch lief. Zu
seiner Ehrenrettung lässt sich sagen, dass
er 1966 der erste Radprofi war, der sich
einem Dopingtest unterziehen ließ. Ande-
re verweigerten diesen und revoltierten.
Nach seiner aktiven Karriere blieb Pouli-
dor seiner Heimat und dem Radsport treu.
Er zog etwa 30 Kilometer in den Südwes-
ten, nach Saint-Leonard-de-Noblat und ar-
beitete in einer Fahrradmanufaktur, die
unter anderem Räder seiner eigenen Mar-
ke baute. Die Leidenschaft strahlte auf die
Familie ab. Eine von Poulidors Töchtern
heiratete den erfolgreichen Profi Adrie van
der Poel, ihr gemeinsamer Sohn Matthieu
ist heute eines der vielversprechenden Ta-
lente seiner Sportart.
Seit 2001 besuchte Raymond Poulidor
jedes Jahr die Tour de France im Namen ei-
nes Sponsors des Gelben Trikots. Poulidor
fiel in der Mixed Zone dann oft durch ein
knallgelbes Poloshirt auf. Es war seine
Form, mit den Füßen im Mist zu singen,
und einer der Gründe, warum ihn selbst
Jahrzehnte nach seinem aktiven Schaffen
die Franzosen nie vergaßen und liebten. In
der Nacht zum Mittwoch ist Raymond Pou-
lidor im Alter von 83 Jahren in seiner Hei-
mat Saint-Léonard-de-Noblat gestorben.

Berlin– Der mutmaßlich in den Blutdo-
pingskandalum den Erfurter Sportarzt
Mark Schmidt verwickelte Eisschnelllauf-
Trainer Robert Lehmann-Dolle muss sich
einen neuen Job suchen. Der Olympiastütz-
punkt Berlin (OSP) hat Lehmann-Dolle ge-
kündigt, wie dessen Leiter Harry Bähr auf
Anfrage am Mittwoch mitteilte. Aufgrund
des laufenden Verfahrens vor dem Arbeits-
gericht werde man die Sache nicht weiter
kommentieren, hieß es weiter.
Die Nationale Anti-Doping-Agentur (Na-
da) hatte gegen den 35 Jahre alten Erfurter
im Sommer ein Verfahren vor dem Deut-
schen Sportschiedsgericht eingeleitet. Bis
zu diesem Zeitpunkt hatte Lehmann-Dolle
die hoffnungsvollsten Nachwuchsläufer
der Deutschen Eisschnelllauf-Gemein-
schaft DESG am Stützpunkt in Berlin be-
treut. Offensichtlich haben die Ermittlun-
gen nun Verstöße gegen die Anti-Doping-
Bestimmungen belegt. Im Januar hatte die
ARD-Dopingredaktion berichtet, dass ein
Eisschnellläufer in die „Operation Ader-
lass“ verwickelt sein soll. Lehmann-Dolle
wollte zu seiner Situation bis zuletzt nichts
sagen. Der ehemalige Mittelstreckenexper-
te nahm 2006, 2010 und 2014 an Olympi-
schen Winterspielen teil, seine beste Plat-
zierung verbuchte er in der Teamverfol-
gung 2006 als Siebter. Später war er unter
anderem Athletensprecher.
Der Sportmediziner Schmidt sitzt wei-
ter in Untersuchungshaft. Mindestens 21
Sportler aus acht Nationen sollen bei ihm
Blutdoping praktiziert haben. Am Mitt-
woch wurde Radprofi Kristijan Durasek
wegen seiner Involvierung in die Affäre
vom Weltverband UCI für vier Jahre ge-
sperrt. Der Kroate war fünfmal bei der
Tour de France am Start, zuletzt fuhr er für
das UAE Team Emirates. dpa, sz


Manchester/München– Nachdem es rund
zwei Stunden darum gegangen war, ob er
ein Lügner, Doper und/oder Tyrann sei, ob
er außerdem unter einer erektilen Dys-
funktion leide und was das alles mit einer
angeblich versehentlich georderten Testos-
teronpackung zu tun haben könnte, da sag-
te der Radsporttrainer Shane Sutton: „Zeit
für ’ne Zigarette.“
Nun wäre Sutton nicht der Erste, der in
eine vermeintliche Raucherpause flüchtet
und danach nie mehr gesehen wurde, aber
der 63-Jährige musste tatsächlich etwas
Dampf ablassen. Nach einer Viertelstunde
kam er auch wieder zurück, um vor einem
Ärztetribunal in Manchester Stellung zu je-
ner Frage zu beziehen, warum vor acht Jah-
ren ein Paket mit Testosteron-Gels am Sitz
des britischen Radsportverbands in Man-
chester angeliefert wurde. War es für Pro-
fis des langjährigen britischen Parade-
teams Sky bestimmt, was schwer gegen
das Anti-Doping-Protokoll verstoßen wür-
de? Oder hatte Sutton, der damals als Chef-
trainer einer der Architekten des Sky-Er-
folgs war, die Lieferung veranlasst, um
sein Liebesleben zu revitalisieren, wie der
damalige Teamarzt Richard Freeman zu-
vor vor dem Tribunal insinuiert hatte? „Ich

hätte kein Problem zuzugeben, dass das
Testosteron für mich war“, sagte ein, man
muss es leider sagen, sichtlich erregter Sut-
ton – aber Freemans Version stimme halt
nicht: „Sie behaupten hier, ich könne kei-
nen hochkriegen – meine Frau kann aussa-
gen, dass das eine verdammte Lüge ist“,
polterte Sutton. Die Testosteron-Order ha-
be er auch nicht veranlasst, das schwöre er
beim Leben seiner dreijährigen Tochter.
Dann stürmte Sutton aus der Verhand-
lung. Zurück blieben die Scherben, in de-
nen die Reputation des zuletzt so erfolgrei-
chen britischen Radsports mal wieder lag.
Um die Geschichte hinter dieser denk-
würdigen Verhandlung halbwegs zu verste-
hen, muss man in den Mai 2011 zurückspu-
len: Damals traf das Päckchen mit 30 Beu-
teln Testosteron-Gel am Verbandssitz ein,
geordert vom Verbands- und Sky-Arzt
Freeman. Der behauptete später zunächst,
die zuständige Firma habe das Paket verse-
hentlich geschickt und den Irrtum sofort
zugegeben. Das wirkte schon damals merk-
würdig – eine Firma, die ein Radsportteam
versehentlich mit Dopingstoff beliefert?
Sky und Freeman waren bald jedenfalls
von weiteren Vorgängen umrankt. So hatte
ein Sky-Trainer, ebenfalls 2011, unter gro-

ßen Mühen eine Arznei von Manchester
nach Frankreich transportiert, für Bradley
Wiggins, der ein Jahr später als erster Brite
die Tour de France gewann und in London
beim olympischen Zeitfahren reüssierte.
Angeblich war darin ein Hustenlöser, be-
hauptete Sky-Teamboss Dave Brailsford,
den konnte man halt nicht in jeder Apothe-

ke erwerben. Die entsprechenden Belege
befänden sich auf Freemans Laptop. Der
sei ihm aber, welch blöder Zufall, im Ur-
laub in Griechenland gestohlen worden.
Als Freeman dann vor die Ärztekammer in
Manchester zitiert wurde, wegen mögli-
cher Verfehlungen, sträubte er sich erst –

die Affären hätten ihn in schwere Depressi-
onen gestürzt, sagte er. Schließlich gab er
zu, gelogen zu haben. Fortan wolle er aber
die Wahrheit sagen: Und zwar unter ande-
rem, dass Sutton ihn zur ominösen Testos-
teronbestellung gedrängt habe, wegen des-
sen Problemen beim Liebesspiel.
Als Sutton am Dienstag vor dem Tribu-
nal erschien, begann eine Schlamm-
schlacht, die selbst schlammschlachter-
probten britischen Reporter im Saal den
Atem raubte. Freemans Anwältin Mary
O’Rourke zitierte anonyme Zeugen, die be-
haupteten, Sutton sei ein „Lügner, Doper,
und Tyrann“. Ein weiterer Zeuge habe ihr
bestätigt, dass er gesehen habe, wie Sutton
sich einst Testosteron spritzte. „Interes-
sant“, giftete Sutton zurück, das sei wohl
die Lüge eines neidischen Konkurrenten.
Als Sutton dessen Namen nannte, entgeg-
nete Freemans Anwältin: Nein, das sei
nicht ihr Zeuge. Dann verlas sie Textnach-
richten, die Sutton an Freeman geschickt
hatte: „Sei vorsichtig, was du sagst – ich
kann dich und andere in die Sache reinzie-
hen.“ Sutton reagierte nun immer ungehal-
tener; Freeman sei unglaubwürdig, be-
hauptete er, der Arzt sei mehrmals betrun-
ken zum Dienst erschienen. Freeman saß

derweil neben Sutton, aber hinter einer
Wand, die das Tribunal auf Freemans An-
trag hin aufgestellt hatte. „Richard“, brüll-
te Sutton die Wand an, „sei ein Mann!
Schau mir in die Augen!“ Dann stürmte er
mitten in der Vernehmung aus dem Saal,
verbunden mit der Bitte, man möge ihn ge-
fälligst nicht mehr belästigen. Sutton war
nach seinem Sky-Engagement bis 2016
Sportdirektor im britischen Rad-Verband


  • er trat damals zurück, weil er Para-Sport-
    ler als „Krüppel“ und Athletinnen sexis-
    tisch beleidigt haben soll.
    Bei allem Schmutz, den die Verhand-
    lung aufwirbelte – die drängendsten Fra-
    gen blieben ungeklärt. Das Tribunal hält
    Freemans jüngste Version ebenfalls für we-
    nig glaubwürdig; es vermutet, dass das Tes-
    tosteron für die Sky-Profis bestimmt war.
    Freeman bestreitet das vehement. Und Sut-
    ton? Der behauptete vor seinem Abgang,
    er könne sich die Bestellung auch nicht er-
    klären. Team Sky, das mittlerweile Ineos
    heißt und sieben der jüngst acht Tour-de-
    France-Sieger hervorgebracht hat, sei je-
    denfalls das sauberste Programm über-
    haupt gewesen. Das Verfahren soll an die-
    sem Donnerstag fortgesetzt werden –
    dann ohne Sutton. johannes knuth


Abgehoben: Nach einem Kontakt mit einem Randstein schießt der Wagen von So-
phiaFlörsch(oben) über den des Japaners Sho Tsuboi hinweg. FOTO: TONY WONG / DPA

Das Gefühl, nach Hause zu kommen


Ein Jahr nach ihrem spektakulären Unfall kehrt die Formel-3-Rennfahrerin Sophia Flörsch nach Macau zurück. Die 18-Jährige sagt: „Ich freue mich enorm.“


OPERATION ADERLASS

Münchner


Fingerzeige


Eiszeit
Olympiastützpunkt Berlin entlässt
Eisschnelllauf-Trainer Lehmann-Dolle

Geliebter Zweiter


Weiler nacheinander zwei Jahrhundert-Fahrer zum Gegner hatte, gewann Raymond Poulidor in seiner langen Karriere nie die Tour de France.
Doch wahrscheinlich wurde der Radprofi und Bauernsohn gerade deswegen zum beliebtesten Sportler Frankreichs – nun starb er mit 83 Jahren

Schlammschlacht unter Männern


Was hat es mit einer ominösen Testosteron-Lieferung nach Manchester auf sich? Ein Prozess lässt tief in die Abgründe des britischen Radsports blicken


Lehmanns Fall zeigt, weshalb der


Staat im Sport ermitteln sollte


Die bisherigen Strafmaße in der


Affäre wirken recht dezent


Nach der Karriere blieb er dem
Sport auf seine Weise treu:
Er baute Fahrräder

DEFGH Nr. 263, Donnerstag, 14. November 2019 (^) SPORT HMG 23
Sophia Flörsch FOTO:KIRCHNER-MEDIA / IMAGO
Trotz aller Anfeuerung: Gegen Jacques Anquetil und Eddy Merckx hatte Raymond Poulidor keine Chance. FOTO:SIMON / IMAGO
Erbost: Ex-Sky-Coach Sutton fühlt sich
von Arzt Freeman beleidigt. F.: HUGHES / GETTY

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