Süddeutsche Zeitung - 07.11.2019

(nextflipdebug5) #1

Grenzreise


Der EiserneVorhang trennte
Jahrzehnte die Lebenswelten
von Ost und West. Die sichtba-
re Grenze ist schon lange auf-
gehoben, doch wie steht es um
die unsichtbare? Autorin Lena
Gorelik reiste in die ehemali-
gen Grenzgebiete und erzählt
von Erinnerungsorten und von
der Globalisierung. Montag,
18.11., 19 Uhr, Gasteig.

Poesie hilft


Gedichte können eine Brücke
sein, und dazu dienen, die
Fremdheit zu überwinden –
und so hat Spiegel-Korrespon-
dentin Susanne Koelbl das
„Poetry Project“ für geflüchte-
te Jugendliche initiiert. In den
Gedichten geht es um Krieg
und Liebe oder Angst.
Samstag, 23.11., 16.30 Uhr,
Gasteig.

Büchner-Preisträger Lukas
Bärfuss hatseinen Essayband
Krieg und Liebe genannt – frei
nach dem Sprichwort, dass in
beiden Fällen alles erlaubt ist.
Eine Schmerzgrenze gibt es bei
ihm nicht. Im Gegenteil, uner-
bittlich zeigt er Handeln,
Folgen und Wirkungen auf.
Dienstag, 19.11., 20.30 Uhr,
Literaturhaus.

Reisen ist leicht, wenn Geld
und Grenzen keine Rolle spie-
len. Reisen ist lebensgefähr-
lich, besonders für Kinder, die
versteckt auf Zügen und ohne
Geld irgendwie zu ihren Eltern
nach Nordamerika wollen.
Davon erzählt Valeria Luisellis
Roman „Archiv der verlorenen
Kinder“. Mittwoch, 27.11.,
20 Uhr, Literaturhaus.

Dissident, Dichter, Filme-
macher: Thomas Brasch, Sohn
eines SED-Funktionärs und
stellvertretenden Kulturminis-
ters, konnte weder in der DDR
noch in der BRD heimisch wer-
den. Seine Schwester Marion
Brasch und der Schauspieler
Andreas Keller widmen ihm
einen Abend. Montag, 18.11.,
20.30 Uhr, Literaturhaus.

von lothar müller

D

en Abend des 9. November
1989 verbrachte der Schrift-
steller Reinhard Jirgl in der
Volksbühne am Rosa-Luxem-
burg-Platz in Ostberlin. Das
war sein Job, er war dort Beleuchtungstech-
niker. Gegeben wurde „Drei Schwestern“
von Tschechow, und es kam Unruhe auf
bei den Sehnsuchtsworten „Nach Mos-
kau!“ Das Gerücht, die Grenze sei geöffnet,
die Mauer passierbar, war in den Saal ge-
drungen.
Jirgl, Jahrgang 1953, war zu diesem Zeit-
punkt ein Schriftsteller ohne Öffentlich-
keit, ohne sichtbares Werk. Er hatte in der
DDR für die Schublade geschrieben. Nun
wurde er zum Autor, in dichter Folge er-
schienen seine Romane, zwanzig Jahre
nach dem Ende der DDR wurde er Büchner-
preisträger. Er steht für die Auflösung ei-
nes politisch verursachten Publikations-
staus, für die Öffnung, den Zugewinn an
Zukunft in der Literatur nach 1989.
Aber natürlich gab es auch die Schlie-
ßungen, die Abbrüche, das Zugleich von
Verlagskrisen und Verlagsneugründungen
auf dem Gebiet der untergegangenen

DDR. Die Eigentümerwechsel des Aufbau
Verlags, als Verlag von Bertolt Brecht das
Flaggschiff der DDR-Verlage in den vergan-
genen dreißig Jahren ist dafür ein Beispiel.
Reclam Leipzig ist heute Geschichte, der
Lehmstedt Verlag und die Connewitzer Ver-
lagsbuchhandlung, beides Neugründun-
gen im alten deutschen Buchzentrum Leip-
zig, haben es geschafft.

Und der Christoph Links Verlag in Ber-
lin, schon vor dem 3. Oktober 1990 gegrün-
det, setzte zu Recht auf die Vermutung, es
werde im wiedervereinigten Deutschland
ein Bedürfnis nach Zeitgeschichte geben,
nicht zuletzt nach Büchern über den gera-
de untergegangenen Staat DDR.

Es wäre provinziell, die Geschichte des
Ineinanders von Zukunft und Abbruch,
Aufbruch und Inventur einschließlich der
giftigen Abrechnungen im deutsch-deut-
schen Literaturstreit um Christa Wolf, der
schon im Sommer 1990 begann, als rein in-
nerdeutsche Geschichte zu erzählen. Denn
der Echoraum all dessen, was in Deutsch-
land geschah, hatte sich grundlegend ver-
ändert. Der Systemwechsel, der im Herbst
1989 begann, fand ja auch in Polen, in der
Tschechoslowakei, in Ungarn, im zerfallen-
den Jugoslawien statt.
Zu den wichtigsten Effekten des System-
wechsels gehörte auf dem Gebiet der Lite-
ratur die Öffnung des deutschen Marktes
für die Literaturen Mittel- und Südosteuro-
pas. Nicht, dass sie vorher nicht dagewe-
sen wären, aber nun traten sie auf intensi-
vere Weise in den Fokus des Interesses.
Schon beim Aufbruch in die Moderne um
1900 war die deutsche Sprache ein Kataly-
sator gewesen bei der Vernetzung der „gro-
ßen“ und „kleinen“ Literaturen Europas.
Nun trat Deutschland, ein Übersetzungs-
land seit dem 18. Jahrhundert, in diese alte
Funktion wieder ein.
Libuše Moníková, lange schon Exilantin
in Deutschland, literarische Botschafterin

des niedergeschlagenen Prager Frühlings,
rückte nun in den kulturellen Raum ein,
dem sie entstammte. Die „große“ französi-
sche Literatur verlor in den Neunzigerjah-
ren relativ an Gewicht, nicht nur einzelne
Autoren machten ihr Konkurrenz, sondern
ganze Literaturen. Ein markantes Beispiel
ist die ungarische Literatur. Ihre Autoren –
etwa Péter Nádas oder Péter Esterházy –
gehörten schon in den Achtzigerjahren zur
literarischen Szene in Westberlin, György
Konrád war eine Schlüsselfigur der Diskus-
sionen über Mitteleuropa vor 1989.
Nun entstand eine Infrastruktur, in der
die einzelnen Bücher sich wechselseitig
stützen. Rowohlt gründete Rowohlt Berlin
als Dependance für den Import osteuropäi-
scher Autoren, den in Westberliner Zeiten
etwa der Rotbuch Verlag mit Herta Müller
und György Dalos betrieben hatte. Als Un-
garn 1999 Gastland der Internationalen
Frankfurter Buchmesse war, wurde dieser
Vorlauf honoriert. Christina Viraghs Neu-
übersetzung des zuvor unbeachteten
„Roman eines Schicksallosen“ von Imre
Kertész wurde über den deutschen Markt
ein internationaler Erfolg – und der Autor
erhielt im Jahr 2002 den Nobelpreis für
Literatur.

Reisen und fliehen


Jubelnddrängten DDR-Bürger im Sommer 1989 über die ungarische Grenze nach Österreich. Das Ende des Ostblocks zeichnete sich ab. FOTO: AP

Die große
französische
Literatur verlor
in den Neunzigern
an Gewicht.
Ungarn wurde
zur Konkurrenz

Schreiben, bleiben Krieg und Liebe


Ein enger Raum wird weit


Seit 1989fungiert Deutschland wieder als Katalysator


mittel- und südosteuropäischer Literatur


4 LITERATURFEST MÜNCHEN Donnerstag, 7. November 2019, Nr. 257

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