Frankfurter Allgemeine Zeitung - 07.11.2019

(Greg DeLong) #1
W

as genau der Grund ist,
dass das kleine Pekinger
Kulturzentrum The Book-
worm nach vierzehn Jahren nun Hals
über Kopf schließen muss, wird man
vielleicht nie erfahren. So ist es meis-
tens in China. „Wir scheinen der wei-
ter andauernden Säuberungsaktion
gegen ‚illegale Bauten‘ zum Opfer ge-
fallen zu sein“, teilte der Manager Da-
vid Cantalupo auf der Website des
Bookworms mit. Die Säuberungsakti-
on läuft schon seit 2017 und hat offi-
ziell das Ziel, Peking von „Großstadt-
krankheiten“ wie Staus, schlechter
Luft und Dichtestress zu heilen. Chi-
nas Hauptstadt soll „schöner“ wer-
den, Bauten ohne Baugenehmigung
sollen nicht länger geduldet werden,
und die Zahl der Einwohner soll sin-
ken. So will es Präsident Xi Jinping.
Das bekamen als Erstes informelle
Händler und Wanderarbeiter zu spü-
ren, von denen viele in ihre Heimat-
provinzen zurückkehren mussten.
Und nun also der Bookworm. Aus der
früheren Leihbücherei für englisch-
sprachige Bücher hat sich im Laufe
der Jahre ein Ort für interkulturellen
Austausch entwickelt. Es gab Lesun-
gen, Konzerte, Filmvorführungen, De-
batten und sogar ein eigenes Literatur-
festival. Im angeschlossenen Café fan-
den viele Kulturschaffende einen
Raum zum Atmen und Denken. Kriti-
sche China-Bücher gab es dort aller-
dings schon lange nicht mehr zu kau-
fen. Die Nachricht von der Schließung
kam am Dienstag so schnell herum,
dass sich schon ein paar Stunden spä-
ter mehr als hundert Leute im kleinen
Bookworm drängelten, um noch ein
letztes Buch zu kaufen. „Vielleicht soll-
ten wir öfter schließen“, scherzte Ma-
nager Cantalupo. Aufgeben wollen
die drei Bookworm-Betreiber nicht,
sondern sich nach anderen Räumlich-
keiten in Peking umsehen. Leicht
wird das sicher nicht. Der Pekinger
Kulturverlag DuKu sucht gerade zum
sechsten Mal nach einem neuen La-
ger, weil es wieder einmal „unumgäng-
liche Gründe“ für eine Räumung gab.
Und der Autor Xu Zhiyuan gab erst
kürzlich bekannt, dass er eine seiner
Owspace-Buchhandlungen schließen
müsse, die auch als Veranstaltungsort
genutzt wurde. Der Raum für alterna-
tive Kultur und Diskurse schrumpft
merklich in Peking. Das gilt auch für
interkulturelle Begegnungsstätten
wie den Bookworm. Westliches Ge-
dankengut ist der Führung nicht mehr
willkommen. Das ist seit einiger Zeit
auch an den Universitäten spürbar,
wo immer häufiger Gastvorträge von
Ausländern, auch Deutschen, abge-
sagt werden. Ein Land, das entschie-
den in die Welt drängt, verschließt
sich ihr gegenüber zu Hause.

Sauberes Peking


Von Friederike Böge


E

s kommt dieser Tage häu-
fig vor, dass ich auf einem
Podium sitze und über den
Osten rede. Über die Nach-
wende, mögliche Verlet-
zungen, Verwerfungen.
Über den sogenannten Riss, der durch
die Gesellschaft zu gehen scheint und
der vor allem für westdeutsche Beobach-
ter ziemlich genau entlang der ehemali-
gen innerdeutschen Grenze verläuft. Ich
bin dankbar für diese Begegnungen. In
Basel durfte ich Marion Brasch kennen-
lernen, in Rostock Dietlind Glüer und im-
mer wieder, an verschiedenen Orten, un-
terschiedliche Menschen, die ihre Erfah-
rungen aus DDR-Zeiten teilen oder, wie
ich, mehr Fragen als Antworten über die-
ses verschwundene Land und seine in die
Bundesrepublik transformierte Gesell-
schaft haben.
Als Nachwendegeborener befinde ich
mich in der mehr oder weniger komfortab-
len Situation, über ein Sujet reden zu kön-
nen, zu dem ich zwangsläufig, qua Ge-
burt, eine Distanz habe. Offene Rechnun-
gen, Kränkungen oder verborgene revisio-
nistische Sehnsüchte kann man mir nicht
vorwerfen. Aus dieser Position heraus Kri-
tik zu üben oder auch Lob zu äußern fällt
leicht. Älteren Kolleginnen oder Kolle-
gen wird oftmals die eigene Biographie
vor Augen geführt, wie Detlef Pollack,
der in dieser Zeitung (F.A.Z., vom 12.
Juli) über die Rolle der Opposition wäh-
rend der friedlichen Revolution in Leip-
zig schrieb, damit eine Debatte über das
Erbe der Revolution auslöste und in einer
Widerrede von Ilko-Sascha Kowalczuk
(F.A.Z. vom 15. Juli), gespiegelt bekam,
sich im Oktober des Jahres 1989 in der
Schweiz aufgehalten zu haben.
Dieser Form aus biographischer Ver-
flechtung und Kritikmündigkeit entgehe
ich nicht gänzlich. Besonders bei Lesun-
gen im Osten begegne ich zunächst ver-
schränkten Armen und ernsten Gesich-
tern. Die ersten Reihen erweisen sich als
besonders hartnäckig. Es steht die Frage
im Raum: „Was erzählt der uns über unse-
re Geschichte?“ Es dauert eine Weile, bis
deutlich wird, dass ich niemanden vorfüh-
ren oder verhöhnen möchte – da scheint
es eine grundsätzliche Besorgnis zu ge-
ben – und dass ich aus dem Osten kom-
me, also Eltern habe, die in der DDR ge-
boren und aufgewachsen sind. Dreißig
Jahre nach der Revolution spielt das im-
mer noch eine Rolle.
Unsere Geschichte, meine Geschichte.
Kontinuitäten, Erbe; vor einiger Zeit
spielte das für mich noch keine Rolle, kei-
ne vordergründige, mir bewusste zumin-
dest. Ich bemerke jedoch, dass ich begin-
ne, mich mit dem Ende der DDR und den
damaligen politischen Umbrüchen zu
identifizieren.
Drei große Narrative hat der Westen
über meine Eltern gesponnen. Das erste,
beginnend nach dem Mauerfall, dauerte
bis in die zweitausendzehner Jahre an
und lautete: Deine Eltern sind rückständi-
ge Höhlenmenschen, die in ihrem Leben
noch nie eine Banane in der Hand gehal-
ten und für die Stasi gearbeitet haben.
Trifft Letzteres nicht zu, waren sie Opfer
der Stasi. Dieses Narrativ wurde abge-
löst, etwa von 2014 an, von einem neuen,
das noch immer andauert und besagt:
Deine Eltern sind nach der Wende arbeits-
los geworden, waren frustriert und wü-
tend und wurden deswegen rechtsextrem.
Kinder, denen man ihr Spielzeug wegge-
nommen hat. Bemitleidenswerte, trauri-
ge Gestalten.
Menschen, die ich liebe, kränkte das
zweite Narrativ mehr als das erste. Erst
kam das Mitleid, dann geheuchelte Hilfs-
angebote. Ausgestreckte Arme, zur Unter-
stützung hingehalten, die eigentlich aus-
gestreckte Zeigefinger waren. Lebensleis-
tung anerkennen, das war so ein Beispiel,
so eine Phrase, die sich der Westen ausge-
dacht hatte.

Vergiss deine
Lebensleistungsurkunde nicht
„Muss ich da jetzt zum Amt und krieg da
einenStempel für?“
„Nur wenn du deine Lebensleistungsur-
kunde mitbringst“, sagte ich. Wir lachten.
„Da muss ich mal in meiner Lebensleis-
tungszeugnismappe suchen.“
So ging das hin und her. Lachen oder
weinen, die ewige Frage.
Keine Worte über Revolution, keine
Worte über Erfolg. Das dritte Narrativ
möchte ich an späterer Stelle behandeln.
Als ich kürzlich bei einer Podiumsdis-
kussion eingeladen war und die Frage
nach den Umbrüchen der Jahre
1989/1990 aufkam, sagte mein Mitdisku-
tant, Professor einer westdeutschen Uni-
versität, geboren in der Bundesrepublik
der fünfziger Jahre, dass die Proteste der
DDR-Bürger nicht zum Ende der SED-
Herrschaft geführt hätten, sondern dass
der Staat aufgrund seiner wirtschaftli-
chen respektive seiner unwirtschaftlichen
Lage zusammengebrochen sei. Die Rolle
der Bürgerbewegung, wie sie in der Debat-
te in dieser Zeitung breit diskutiert wur-
de, erwähnte er mit keinem Wort.
Seine Analyse war einleuchtend, er
mochte, abgesehen von seiner monokau-
salen Begründung, auch in einigen Punk-
ten recht haben. Dennoch musste ich ihm
widersprechen, weil mich das Bild störte,
dass ein westdeutscher Professor mir und
dem Publikum, das zu Teilen aus Ostdeut-
schen bestand, das Ende der DDR erklär-
te. Dass mich das erzürnen würde, kannte
ich bislang noch nicht von mir. Ich fand,
dass es genügte. Ich hatte keine Lust auf
eine weitere Geschichte, kein Interesse
an einer weiteren Erzählung, die im Kern
lautete: Deine Eltern kriegen nichts auf
die Kette.
Ich weiß nicht, ob das gut war. Nie-
mand hat von mir verlangt, ihn oder sie in

Schutz zu nehmen oder gar verteidigen zu
müssen. Das könnte den Anschein erwe-
cken, dass ich mich über meine Eltern
stelle. Dass ich sie als schwach wahrneh-
men würde. Das Gegenteil ist der Fall.
Die Debatte in der F.A.Z. über die wah-
ren Wegbereiter der Revolution von
1989, Bürgerbewegung contra Massen-
proteste, ist gut und wichtig. Dass sie
jetzt oder immer noch oder aufs Neue
von unterschiedlichen gesellschaftlichen
Gruppen aus dem Osten geführt wird,
zeigt, dass es noch keinen Konsens über
diesen Teil der Geschichte zu geben
scheint oder er momentan mühsam er-
rungen wird. So oder so ist das ein span-
nender Befund über Deutschland dreißig
Jahre nach dem Mauerfall.
Ich schreibe diesen Text in Bamberg,
wo ich derzeit für ein Aufenthaltsstipendi-
um in der Villa Concordia wohne. Anfang
Oktober zog ich hierher, den Tag der
Deutschen Einheit habe ich hier ver-
bracht. Seit ein paar Jahren wünsche ich
Menschen an diesem Tag nicht einfach ei-
nen „schönen Feiertag“, sondern einen
„schönen Tag der Deutschen Einheit“.

Noch so eine Entwicklung der vergange-
nen Jahre, natürlich hängt das mit der Art
und Weise zusammen, wie ich mich mit
Ostdeutschland beschäftige. Vor allem
möchte ich herausfinden, wie mein Ge-
genüber darauf reagiert.
In Bamberg begegnete mir auffallend
oft die Aussage: „Stimmt, das ist ja heu-
te!“ Das unterstützt den Eindruck, den
ich seit Jahren gewinne und der für mich
besonders am dreißigjährigen Jubiläum
der Revolution offensichtlich wird: Dem
Westen ist der Tag der Deutschen Einheit
eigentlich egal. Damit spiele ich nicht auf
die Tatsache an, dass es im Westen 1989
keine Demonstrationen für die deutsche
Einheit gab oder dass Westdeutsche qua
Geburt und der Trennung der beiden deut-
schen Staaten an den Umbrüchen jener
Monate nicht beteiligt waren, nicht betei-
ligt sein konnten. Das konnte ich auch
nicht. Und natürlich war nicht jeder Ost-
deutsche automatisch Systemgegner, Re-
volutionär, Bürgerrechtler, wie in der
Nachbetrachtung jener Jahre und heute
seitens der AfD gern suggeriert wird. Die-
ses Bild ist in keiner Weise stimmig. Wor-
auf ich hinaus möchte, ist an dieser Stelle
noch einmal Aspekt der Identifikation.
Es gibt ein drittes Narrativ, das der Wes-
ten gern bemüht. Es lautet: Ihr wolltet
doch die Einheit, jetzt beschwert euch
nicht, seid dankbar. Angesichts der ost-
deutschen Zustimmungswerte für Kohl
und die Wirtschafts-, Währungs- und So-
zialunion mag die Aussage zutreffen. Al-
lerdings stimmten, nach einer Umfrage
von Infratest im Mai/Juni 1990, auch 47
Prozent der befragten Westdeutschen der
WWSU „voll und ganz“ zu, 44 Prozent
„mit Vorbehalten“.

Die Revolution gehört meinen
Eltern und Großeltern
In der gleichen Umfrage äußerten fast
zwei Drittel der befragten Ostdeutschen
(61 Prozent), dass sie sich eine langsame-
re Gangart beim Einigungsprozess wün-
schen würden. Sie befürchteten, dass die
in der DDR der Bundesrepublik gegen-
über als positive Errungenschaft wahrge-
nommenen sozialen Leistungen wie Kin-
dertageseinrichtungen oder das Recht
auf Schwangerschaftsabbruch sonst un-
ter die Räder kommen würden. Sie soll-
ten Recht behalten.
Es ist dem Westen gelungen, nach der
Revolution und bis heute andauernd,
dem Osten einzureden, dass die Einheit
vor allem für die Bürger und Bürgerinnen
der ehemaligen DDR eine Befreiung war.
Das gelobte Land. Ossipendence Day,
wie die „heute-show“ alle Jahre wieder
proklamiert. Der Westen hingegen hatte
einzustecken, für ihn gab es nur Nachtei-
le, nur Einbußen. Soli-Beitrag, Rechtsex-
tremismus, Arbeitslosigkeit, schlecht ge-
kleidete Menschen mit komischem Dia-
lekt (Soli zahlen wir alle, Neonazis gab
es im Westen schon vor dem Mauerfall
und immer noch, Arbeitslosigkeit eben-
so, den letztgenannten Aspekt spare ich
mir in der Ausführung).
Diese Geschichte des überforderten,
immerzu gebenden Westens und des for-
dernden, immerzu nehmenden Ostens
ist unzutreffend. Ausgeblendet wird da-
bei unter anderem die Bereitschaft der
Ostdeutschen, mehrheitlich Mieterhö-
hungen, Lohnkürzungen und Arbeits-
platzverlust in Kauf zu nehmen (Infratest
1990), um unter anderem Verbesserun-
gen der Lebensqualität, im Umwelt-
schutz und bei der Sanierung der DDR-
Wirtschaft zu erreichen. Ausgeblendet
werden auch die immensen vor allem fi-
nanziellen Aufwendungen des Westens,
diese Ziele kurzfristig und langanhaltend
umzusetzen. Die Transferleistung wäh-
rend des Einigungsprozesses und nach
wie vor stattfindend, sucht weltweit un-
ter gesellschaftlichen Gesichtspunkten
ihresgleichen. Unter wirtschaftlichen, fi-
nanziellen Aspekten betrachtet, ist sie
mindestens die umfangreichste des zwan-
zigsten Jahrhunderts.
Als Nachwendegeborener wuchs ich
im Resultat dieser Prozesse auf. Ich durf-
te in Kassel studieren und schreibe die-
sen Text in Bamberg. Fünf Jahre vor mei-
ner Geburt wäre das noch undenkbar ge-
wesen. Ich befürworte die Debatte der
Wissenschaftler in der F.A.Z. über die
wahren Beweggründe des Aufkommens
der Protestbewegung im Herbst 1989.
Das sind Etappen auf dem Weg zu einer
ostdeutschen Meinungssouveränität und
einer selbstbewussten Artikulation der
eignen Geschichte, die es viel zu lange
nicht gegeben hat.
Im dreißigsten Jahr des Mauerfalls –
(ein sehr passiver Begriff übrigens, als
wäre das Ding marode gewesen und von
selbst eingebrochen) möchte ich den Blick
weiten. Ich erwähnte die Momente, in de-
nen so etwas wie eine ostdeutsche Identi-
tät in mir aufblitzte. Gleichzeitig versuche
ich, in bundesrepublikanischen Schuhen
im vereinten Deutschland laufen zu ler-
nen. Meine Geschichte, unsere Geschich-
te. Kontinuitäten, Erbe. Wie umgehen mit
einem historischen Moment, an dem ich
und der westliche Teil unseres Landes
nicht oder nur peripher beteiligt waren?
Ich erwarte nicht, dass der Westen die
Revolution von 1989 für sich bean-
sprucht. Das wäre falsch und heuchle-
risch. Die Revolution, friedlich und ge-
glückt, gehört den Ostdeutschen. Meinen
Eltern und Großeltern. Darauf bin ich
stolz. Der Einigungsprozess gehört der
bundesrepublikanischen Gesellschaft.
Das feiere ich, und ich wünschte, der Wes-
ten würde das auch tun.

Lukas Rietzschel, 1994 in Räckelwitz in der
Oberlausitz geboren, studierte in Kassel
Politikwissenschaft und Germanistik und lebt
heute in Görlitz. 2018 erschien sein
vielbeachtetes Romandebüt „Mit der Faust in
die Welt schlagen“ bei Ullstein.

Was will


der uns über


die DDR


erzählen?


Flatterte biszur
Wiedervereinigung
am 3. Oktober
1990: die Staats-
flagge der DDR
Foto Mauritius

Die Rechtsauffassungen über das soge-
nannte „Ibiza-Video“ könnten unter-
schiedlicher nicht sein. Die Hambur-
ger Staatsanwaltschaft will gegen des-
sen Verbreiter nicht ermitteln, weil
das Video in Spanien gedreht wurde
und die Verbreitung in Deutschland
nicht strafbar sei. Das Oberlandes-
gericht Wien (OLG) hingegen sieht
das ganz anders: Das Gericht hat jetzt
in zweiter Instanz dem FPÖ-Politiker
Johann Gudenus recht gegeben, der
den Wiener Anwalt Ramin M., der als
Drahtzieher des Videodrehs gilt, auf
Unterlassung verklagt hatte. Dem An-
walt wird untersagt, das gesamte,
sechs bis sieben Stunden lange Video
ganz oder in Teilen zu verbreiten. Da-
mit bestätigt das OLG ein Urteil des
Wiener Landesgerichts für Zivilsa-
chen (25Cg 39/19t -12), gegen das der
Anwalt Beschwerde eingelegt hatte.
„Zusammenfassend“, heißt es in
dem Urteil (13 R 157/19g), könne
dem beklagten Ramin M. „nicht abge-
sprochen werden, dass die Informatio-
nen im Video von öffentlichem Inter-
esse waren, der Kläger eine absolut be-
kannte Person ist und das Video – so-
weit bisher in der Öffentlichkeit be-
kannt – nur Themen im Zusammen-
hang mit seiner politischen Tätigkeit
betraf. Andererseits war die Methode
der Informationsbeschaffung im be-
sonderen Maße unredlich und in
mehrfacher Hinsicht rechtswidrig
und die Art der Weitergabe im beson-
deren Maße geeignet, die Persönlich-
keitsrechte des Klägers zu verletzen.“
Geprüft haben die Wiener Richter
auch, ob die Weitergabe des Videos
„an deutsche Medienunternehmen“
nicht durch das Recht auf Informations-
freiheit nach Artikel 10 der Europäi-
schen Menschenrechtskonvention ge-
rechtfertigt sein könne. Sie verneinen
auch dies: Die Weitergabe des Videos
bleibe wegen Verstößen gegen das Zi-
vilrecht, das Urheberrecht und Para-
graph 120 Absatz 2 österreichisches
Strafgesetzbuch, der heimliche Tonauf-
nahmen verbietet, rechtswidrig.
Rechtskräftig ist das Urteil noch nicht,
eine Revision vor dem Obersten Ge-
richtshof Österreichs ist möglich.
Damit widersprechen die Wiener
Richter auch der Rechtsauffassung,
die an dieser Stelle die Anwältin Ste-
fanie Schork vorgetragen hatte
(F.A.Z. vom 12. Oktober), welche für
die Berliner Kanzlei Eisenberg König
Schork den Privatdetektiv Julian H.
vertritt, dem zur Last gelegt wird, das
Video auf Ibiza gedreht zu haben.
Was sich dort im Juli 2017 auf ei-
ner Finca zutrug, listen die Wiener
Richter noch einmal in allen Details
auf: Johann Gudenus, damals Klub-
obmann der FPÖ, und Heinz-Christi-
an Strache, seinerzeit Obmann der
FPÖ, später österreichischer Vize-
kanzler, redeten sich in Gegenwart ei-
ner vermeintlichen russischen Oligar-
chen-Nichte, die ihnen unter dem Na-
men Aljona Makarow vorgestellt wor-
den war, um Kopf und Kragen. Aljo-
na Makarow, in Wahrheit eine Schau-
spielerin, hatte vorgegeben, sie wolle
350 Millionen Euro investieren und
suche politische Schützenhilfe. Stra-
che stellte gegen Wahlkampfhilfe
staatliche Aufträge in Aussicht und fa-
bulierte, dass man die „Kronenzei-
tung“ übernehmen und auf FPÖ-
Kurs trimmen könne. Am 17. Mai die-
ses Jahres hatten der „Spiegel“ und
die „Süddeutsche Zeitung“ Ausschnit-
te aus dem Video veröffentlicht, infol-
ge des Skandals verloren Gudenus
und Strache ihre Ämter, die Regie-
rungskoalition aus ÖVP und FPÖ zer-
brach.
Als Beweggrund für die Aktion, die
all dies auslöste, hatte der Anwalt Ra-
min M. über seinen Anwalt Richard
Soyer zwischenzeitlich mitteilen las-
sen, es habe sich „ um ein zivilgesell-
schaftlich motiviertes Projekt“ gehan-
delt, „bei dem investigativ-journalisti-
sche Wege beschritten wurden“. Bei
der Einschätzung der Angelegenheit
seien allein „demokratiepolitische
und rechtliche Überlegungen betrach-
tenswert“, der Einsatz verdeckter Ka-
meras sei „zur Aufdeckung von Miss-
ständen zulässig und durch die Mei-
nungsfreiheit geschützt“. Auch das
sieht das OLG Wien anders: Das Ge-
spräch auf Ibiza sei heimlich mitge-
schnitten worden, „um das Video ge-
winnbringend zu verkaufen“, es sei
verschiedenen Interessenten angebo-
ten worden und schließlich bei „Spie-
gel“ und SZ gelandet (die angeben,
nichts bezahlt zu haben).
Die Generalstaatsanwaltschaft
Hamburg hat indes auf Beschwerde
Heinz-Christian Straches hin die Hal-
tung der Hamburger Staatsanwalt-
schaft bestätigt, die ein Verfahren ge-
gen Verbreiter des Videos mangels Tat-
verdachts eingestellt hatte. In einem
dritten Verfahren wiederum hat die
„Zeit“ Berufung gegen ein Urteil des
Berliner Landgerichts beantragt, das
der Zeitung Veröffentlichungen zu den
Hintergründen des Videos und seiner
potentiellen Macher wie etwa dem Pri-
vatdetektiv Julian H. weitgehend unter-
sagt – mit erstaunlicher Begründung:
Daran bestehe kein öffentliches Inter-
esse. MICHAEL HANFELD


Die Sanierung des 1912 erbauten Stutt-
garter Opernhauses sowie der Neubau
eines Kulissengebäudes sollen erst-
mals belastbaren Voranschlägen zufol-
ge bis zu 960 Millionen Euro kosten.
Der Bau von zwei Hochhäusern, in de-
nen die Interimsbühnen für das Thea-
ter sowie für das Ballett über die sie-
ben Jahre währende Bauzeit unterge-
bracht werden sollen, wird mit weite-
ren 104 Millionen Euro veranschlagt.
Die Zahlen legte der Verwaltungsrat
der Württembergischen Staatstheater
diese Woche vor, sie beruhen auf Be-
rechnungen des baden-württembergi-
schen Finanzministeriums. Die Wis-
senschafts- und Kunstministerin The-
resia Bauer (Grüne) sprach von einer
„ehrlichen Zahl“. Damit spielte sie dar-
auf an, dass die Stadt und die grün-rote
Landesregierung, die sich die Kosten
teilen, bei der Kalkulation so zuverläs-
sig wie irgendwie möglich rechnen
wollten. Ein Kostensteigerungsdesas-
ter wie beim Bau der Elbphilharmonie
oder Stuttgart 21 soll vermieden wer-
den (F.A.Z. vom 2. September). Einem
Neubau, wie ihn die Bürgerinitiative
„Aufbruch Stuttgart“ ins Gespräch
brachte, erteilte der Verwaltungsrat
eine Absage. Für die Kostenberech-
nung hat die Landesverwaltung ein
neues zweistufiges Verfahren entwi-
ckelt, durch eine größere Planungstiefe
sollen mögliche Risiken und Kosten-
steigerungen exakter kalkuliert wer-
den. Im März will der Verwaltungsrat
einen Grundsatzbeschluss fällen, Land-
tag und Gemeinderat müssen eben-
falls noch zustimmen. rso.

Unsere Geschichte, meine


Geschichte – das spielte lange


Zeit keine Rolle. Inzwischen ist das


anders, auch für mich als


Ostdeutschen, der fünf Jahre nach


dem Fall der Mauer geboren wurde.


Von Lukas Rietzschel


Urteil zum


Ibiza-Video


Wiener Gericht


untersagt Verbreitung


Die Oper wird


noch teurer


Stuttgart rechnet mit


knappeiner Milliarde


FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Feuilleton DONNERSTAG, 7. NOVEMBER 2019·NR. 259·SEITE 11

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