Frankfurter Allgemeine Zeitung - 07.11.2019

(Greg DeLong) #1
Wien erinnert sich, das Langzeit-
gedächtnis ist intakt. Die Stadt hat ihn
wieder, und er ist zurück, angekom-
men. Vielleicht ist es das, dessen sich
der in Wien geborene Eric Kandel, ei-
ner der bedeutendsten Hirnforscher
der vergangenen fünfzig Jahre, an die-
sem Tag vergewissern möchte. Wien
schenkt ihm zu seinem neunzigsten Ge-
burtstag einen zweitägigen Festreigen.
Was für eine Genugtuung nicht nur für
ihn, der 1939 mit zehn Jahren als Jude
mit seinem Bruder nach New York
flüchtete und später in den Vereinigten
Staaten eine der faszinierendsten For-
scherkarrieren der Nachkriegszeit
machte.
Mit Wien Frieden zu schließen, dar-
an erinnerte Kandel immer wieder, war
ihm wichtig, auch wenn es die politi-
schen Verhältnisse und die von ihm kri-
tisierte zögerliche Vergangenheits-
bewältigung nicht einfach machten. Sol-
che Versöhnung entspricht seinem Na-
turell. Man kann sich kaum einen Intel-
lektuellen mit amerikanischer Sozialisa-
tion vorstellen, der mehr Vergnügen an
seiner sozialen Intelligenz und Philan-
thropie empfindet als der charismati-
sche Österreicher, dessen Familie mehr-
heitlich der Judenverfolgung zum Op-
fer fiel. Wer sein Lachen erlebt hat, die-
ses eruptive Aufbäumen, verknüpft mit
einem neuen, überraschenden Gedan-
ken oder einem treffenden Wort, wird
gleich von ihm in Bann geschlagen.
Wie er zu dieser Leichtigkeit gekom-
men ist? Seine Liebe zur Kunst, zur Wie-
ner Malerei besonders, hatte später eini-
ges damit zu tun, doch noch mehr war
es die Wissenschaft, die ihn geprägt und
sein Denken geformt hat. In New York
angekommen und aufgewachsen, wurde
er für ein Stipendium an der Harvard-
Universität ausgewählt. Geschichte und
Literatur interessierten ihn, dann auch
die Psychoanalyse, zu der er durch die
von Sigmund Freud überzeugten Eltern
seiner ersten Freundin kam. Kandel stu-
dierte Medizin und Psychiatrie in New
York, entschied sich dann aber – nicht
zuletzt angeregt durch seine spätere und
heutige Frau Denise – für seine neue Lei-
denschaft zur Laborarbeit.
Nach einem dreijährigen Studium an
den National Institutes of Health in Be-

thesda ging er zu dem bedeutenden
Neurophysiologen Harry Grundfest an
der Columbia University, wo er als qua-
si analytisch geprägter gediegener Re-
duktionist begann, die Hirnforschung
mit seinen Arbeiten zum Gedächtnis
zu verändern. Der kalifornische Seeha-
se, eine Meeresschnecke, wurde sein
Lieblingstier, um herauszufinden, wie
sich Erinnerungen tief im Innern des
Gehirns auf molekularer Ebene bil-
den, wie Gedächtnis überhaupt ent-
steht. Gekrönt wurden diese Arbeiten
und seine zahlreichen Bücher endgül-
tig im Jahr 2000, als er den Medizin-No-
belpreis erhielt.
Wer immer ihn heute fragt, wo denn
der Geist bei all den schrittweisen phy-
siologischen und genetischen Entschlüs-
selungen der Wissenschaft geblieben
sei, bekommt eine ehrliche, nämlich kei-
ne endgültige Antwort: „Der Geist ist
die Idee, die in unserem Gehirn ihren
Ursprung hat.“ Und weil das Rätsel
noch lange nicht gelöst und das letzte
Buch von Eric Kandel wohl auch noch
nicht geschrieben ist, geht Kandel noch
heute jeden Tag zu seinen jungen Kolle-
gen in sein Labor an der Columbia-Uni-
versität und denkt keine Minute ans Auf-
hören. Aber heute, wenn er seinen Ge-
burtstag begeht, ist er erst einmal in
Wien. JOACHIM MÜLLER-JUNG

A

ufeiner Riesenkatze reitet der
junge polnische Countertenor
Jakub Józef Orliński als persi-
scher Prinz Cyrus nach dem
Sieg seiner Truppen über die Babylonier
über die Bühne des Opernhauses Zürich.
Peitschenschwingend präsentiert er sich
dem besiegten Volk ebenso wie dem Pu-
blikum, als sei er der Titelheld des hier
szenisch aufgeführten Oratoriums „Bel-
shazzar“ von Georg Friedrich Händel.
Kopf und Schwanz des überdimensiona-
len Raubtiers bewegen sich ziemlich le-
bensecht. Nach einer Drehung des fau-
chenden Monsters sieht man, dass zwei
Männer in seinem Innern einen entspre-
chenden Mechanismus bedienen. Bevor
die spektakuläre Erscheinung aus dem
Blickfeld fährt, springt Orliński auf und
posiert breitbeinig hoch oben auf dem Na-
cken der wackeligen Attrappe.
Die Zirkusnummer ist wie die ganze Zü-
richer Produktion auf den neuen Shoo-
tingstar der Counter-Szene zugeschnit-
ten. Vor der Premiere bekommen Presse-
leute das brandaktuelle zweite Album
Orlińskis „als Geschenk von ihm und sei-
ner Plattenfirma“ in die Hand gedrückt.
Es heißt „Facce d’amore“ („Gesichter der
Liebe“) und enthält virtuose Kastraten-
arien aus Barockopern von Cavalli, Ales-
sandro Scarlatti, Bononcini, Händel, Has-
se & Co. Das Booklet zeigt den 1990 in
Warschau geborenen Sänger in zahlrei-
chen Posen, die unverblümt das werbe-
trächtige Aussehen des lockenköpfigen
Jünglings zur Schau stellen. Zum Hype
um Orliński gehört, dass Marketing-Stra-
tegen auch dessen Aktivitäten als Model,
Breakdancer und singender Youtube-
Schwarm in Freizeitkleidung betonen. Sei-
ne Stimme hätte so viel Wirbel gar nicht
nötig: Sie ist außerordentlich.
Warum man in Zürich unbedingt ein
Oratorium Händels auf die Bühne brin-
gen musste, wo es doch so viele hochkarä-
tige barocke Musikdramen gibt, kann Se-
bastian Baumgartens behäbig-schrille In-
szenierung nicht plausibel vermitteln.
Händel hat seine konzertante Vertonung
der alttestamentarischen Geschichte vom
Sturz des babylonischen Gewaltherr-
schers Belshazzar durch den Perserkönig
Cyrus 1745 am Londoner King’s Theatre
aus der Taufe gehoben. Der englische
Text von Charles Jennings basiert auf
dem Buch Daniel und weiteren histori-
schen Quellen. Die Gestalt von Belshaz-
zars Mutter Nitocris etwa, die im Oratori-
um um Mäßigung der dekadenten Titelfi-
gur bemüht ist, wurde aus Herodots Be-
richt über die Perserkriege entlehnt. Das
Libretto gab Händel Gelegenheit, die
Stimmen der Babylonier, der von ihnen
gefangen gehaltenen Juden und der Per-
ser auf drei Chorgruppen aufzuteilen.
Baumgartens szenische Einrichtung
des dreiaktigen Stücks zielt auf ein
„episch-dramatisches Theaterspektakel“,
verfehlt dabei aber die Dramaturgie des
barocken Oratoriums und lenkt durch auf-
dringliche Addition optischer Mittel von
Händels diffizil auskomponiertem Hörki-
no ab. Nach der mit Pause knapp dreistün-
digen Vorstellung ist man froh, dass der
Regisseur sich nicht an einer zunächst vor-
gesehenen Umsetzung von Johann Sebas-
tian Bachs „Matthäus-Passion“ versucht
hat. Barbara Steiners Bühne zeigt vor Be-
ginn im Hintergrund ein riesiges Kitsch-
panorama, das an Plakate zu alten Sanda-
lenfilmen erinnert. Über verkohlte antike

Mauern lugt im Dunkel eine schwarze Pal-
me. Später wird Rembrandts bekanntes
Menetekel-Gemälde zitiert. Neben arabi-
schem „Salam aleik“-Schriftzug blinken
penetrant die drei Buchstaben S-E-X.
Christina Schmitts Kostüme setzen auf ei-
nen knallbunten Mix aus exotischem Ori-
entplunder, Militäruniformen und moder-
nen Modetrends.
Die vom Propheten Daniel angeführ-
ten Juden tragen Quäkerhüte, Knickerbo-
ckerhosen mit herabhängenden Kordeln
und Bauernhemden mit Konterfeis neu-
zeitlicher jüdischer Berühmtheiten wie
Marx, Benjamin, Anne Frank, Adorno,
Bernstein, Seghers, Zetkin oder Kafka.
Ihre grünen Kultgeräte und ihre schun-
kelnden Gebetsgesten lassen sie wie An-
hänger einer etwas verschrobenen Gras-
wurzelbewegung erscheinen. Die Perser

bevorzugen enge schwarze Leder- und La-
texkluft. Hannah Dörrs Video-Design
lebt von üppigen Breitwandfilm- und Co-
mic-Elementen sowie altmodischen, dilet-
tantisch verwackelten Videoaufnahmen
mit blinkender Batterie-Anzeige und ner-
vigem Flimmern. Bilder von Panzerkolon-
nen im Wüstensand verweisen auf den
Irak-Krieg, kurz aufblitzende Bordellsze-
nen suggerieren babylon-berlinerische
Verruchtheit. Am Ende brechen apoka-
lyptische Naturkatastrophen über die
Leinwand herein. Zu alldem gibt es viel
Qualm und Bodennebel.
Die ganze Bilderflut dieses modernen
Sodom und Gomorrha beschert Händels
Musik keinen Mehrwert. Baumgartens
Personenführung kommt mit den Arien-
strukturen nicht zurecht und wirkt im Ti-
ming hilflos. Orliński tönte bei der Pre-

miere anfangs etwas kehlig, unkontrol-
liert in Timbre, konnte das gewohnte Vo-
lumen seiner Stimme nicht ausfahren, ent-
schädigte aber mit wunderbar warmen
Farben im tiefen Bereich. Koloraturen
meisterte er brillant, gelegentlich unter
Zuhilfenahme leichter Aspirationslaute.
Mauro Peter, als Belshazzar eine Mi-
schung aus Saddam und Gaddafi, stahl
ihm zumindest vokal die Show. Grandios
singen auch Evan Hughes als Überläufer
Gobrias und Layla Claire als resolute Ni-
tocris, die ihr Muttersöhnchen coram pu-
blico zusammenstaucht. Tuva Semming-
sen dringt hingegen als Daniel mit ihrem
verhaltenen Alt nicht durch. Janko Kaste-
lic hat die Chöre differenziert einstudiert.
Laurence Cummings bringt Händels rei-
che Partitur mit dem fabelhaften Orches-
tra „La Scintilla“ prächtig zur Geltung.

Den Marketingzirkus hat seine Stimme gar nicht nötig: der Countertenor Jakub Józef Orliński in Zürich Foto Herwig Prammer


Brillanz,

aber mit

Wärme

Der Beitrag des Seehasen


Pionier der Gedächtnisforschung: Zum neunzigsten


Geburtstag des Neurowissenschaftlers Eric Kandel


Als Familientyrann betrat Omero Anto-
nuttidie Bühne des Weltkinos. Das war
1977, in „Padre Padrone“, dem Film der
Brüder Taviani, der in Cannes die Golde-
ne Palme gewann, und im Grunde hat
Antonutti die Rolle des Patriarchen
dann immer weitergespielt, als schweig-
samer Revolutionär bei Theo Angelo-

poulos („Der große Alexander“), als
Noah in Ermanno Olmis Bibelverfil-
mung undnoch dreimal für die Tavia-
nis, am schönsten in der „Nacht von
San Lorenzo“ von 1982, wo er als Dorf-
ältester zwischen den Fronten des Zwei-
ten Weltkriegs das Glück einer späten
Liebe erlebt. Seine Ausstrahlung vor
der Kamera war das Gegenteil von Star-
gehabe: Alles an ihm war Ausdruck und
Präsenz. Am Dienstag ist Omero Anto-
nutti vierundachtzigjährig im nordita-
lienischen Udine gestorben. kil

Eric Kandel Foto Picture Alliance


Omero Antonutti


gestorben


Der neue Star: Jakub Józef


Orliński singt den Prinzen


Cyrus in Händels „Belshazzar“.


Von Werner M. Grimmel, Zürich


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