Handelsblatt - 07.11.2019

(Darren Dugan) #1

D


ie Spaltung zwischen Ost- und
Westdeutschland scheint nach den
Landtagswahlen in Brandenburg,
Sachsen und Thüringen größer
denn je. Wird der Osten unregier-
bar und zur „No-go-Area“ für Investoren und Un-
ternehmen? Dabei sprechen vor allem zwei
Trends für die Ostländer: der demografische und
der digitale Wandel.
Das im Osten verbreitete Gefühl, zu den Verlie-
rern zu gehören, liegt an der historisch einmaligen
Abwanderung von Talenten. In den letzten 30 Jah-
ren hat der Osten fast zwei Millionen junge Fach-
kräfte an den Westen verloren. Der Trend kehrt
sich jedoch seit einigen Jahren um, die Abwande-
rung nach Westdeutschland geht zurück. Zuletzt
gab es sogar zum ersten Mal einen positiven Saldo
von Zuzügen aus dem Westen in den Osten.
Gewinner des Trends sind „Schwarmstädte“
wie Leipzig, Dresden, Chemnitz, Erfurt, Jena und
Potsdam. Sie ziehen Zuwanderer aus dem Wes-
ten, dem Ausland und vor allem Studenten an.
Mieten und Lebenshaltungskosten sind niedriger,
die Hochschulen nicht überfüllt, und Kindergär-
ten haben länger auf. Auch deshalb ist die Gebur-
tenrate im Osten zuletzt stärker gestiegen als im
Westen. Ein Beispiel ist Chemnitz. Gemeinsam
mit lokalen Unternehmen und Universitäten hat
die Stadt am Erzgebirge die demografische Wen-
de gegen den allgemeinen Trend geschafft. Seit
zehn Jahren wächst Chemnitz, auch weil die
Stadt für junge Familien, Ältere und Migranten
attraktiv ist.
Neben dem demografischen gehört der tech-
nologische Wandel zu den Treibern der Verände-


rung. Der US-amerikanische Stadt- und Regio-
nenforscher Richard Florida hat in seinem global
beachteten Bestseller „The Rise of the Creative
Class“ („Der Aufstieg der kreativen Klasse“) be-
reits vor 15 Jahren darauf hingewiesen, dass jene
Städte und Regionen wirtschaftlich besonders er-
folgreich sind, die auf drei Standortfaktoren set-
zen: Talente, neue Technologien und Toleranz.
Den globalen Wettbewerb machen jene „hot
spots“ unter sich aus, die offen gegenüber neuen
Entwicklungen sind, in Bildung investieren und
Fremde und Andersartige positiv wahr- und auf-
nehmen.
Beim Faktor Talente schneiden die ostdeut-
schen Bundesländer im nationalen Vergleich gut
bis sehr gut ab, auch gegenüber neuen Technolo-
gien sind sie offener eingestellt als die westdeut-
schen Bundesbürger, beim Faktor Toleranz sind
sie jedoch Schlusslicht. Dabei hat der Mangel an
Offenheit gegenüber Fremden und Neuem er-
hebliche Folgen für die beiden anderen Standort-
faktoren Technologien und Talente. Innovative
Firmen und ihre Mitarbeiter machen einen gro-
ßen Bogen um Regionen, in denen sie nicht will-
kommen sind. Mit dem Mindset „Wir bleiben un-
ter uns“ läuft jede gut gemachte Standortkampa-
gne ins Leere. Mehr als andere sind die
Ostregionen auf Zuwanderung angewiesen.
Der in diesem Jahr beschlossene Ausstieg aus
der Kohle ist eine Chance für den Einstieg in ei-
ne neue Standortpolitik. Köpfe und Kooperatio-
nen sind die neue Kohle. Es geht um die Zu-
kunftsthemen E-Mobilität, erneuerbare Ener-
gien und öffentlicher Verkehr. Neue
Technologien, Forschungseinrichtungen, Start-

ups und Unternehmen sowie die Ansiedlung
von mehr Behörden und Bundeswehr sind not-
wendig, aber nicht hinreichend, um aus struk-
turschwachen Gebieten Zukunftsregionen zu
machen. Nachhaltige und neue Wertschöpfung
entsteht vor allem aus der Vernetzung und Ko-
operation von kreativen und innovativen Unter-
nehmen, Kommunen und den Bürgern vor Ort.
Nur dann entstehen aus neuen Bundesländern
innovative Hubs und Regionen für neues und
nachhaltiges Wachstum. Nur dann wird der Os-
ten eine Adresse für die junge Generation und
für innovative Unternehmen.
Um Talente zu halten und anzuziehen, kommt
es auf attraktive Wohn- und Arbeitskonzepte,
schnelles Internet in den Städten wie auf dem
Land, eine Politik der gezielten Zuwanderung
und neue Mobilitätsformen an. Die große Mehr-
heit der ostdeutschen Unternehmen sucht hän-
deringend nach Arbeitskräften. Diese werden
nur kommen, wenn der öffentliche Nah- und
Fernverkehr für schnelle Verbindungen in die
Städte sorgt und aus abgehängten Regionen an-
geschlossene werden.
Das Leit- und Vorbild für die Integration der
neuen Bundesländer war bislang immer der Wes-
ten. Damit ist 30 Jahre nach dem Mauerfall
Schluss. Das ist vielleicht die zentrale Lektion der
Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und
Thüringen. Es gilt, Abschied zu nehmen von alten
Rezepten und vertrauten Koalitionen. Die neuen
Länder müssen eigene und neue Wege gehen.

Im Osten geht


die Zukunft auf


Die Chancen für die ostdeutschen Länder sind


besser als der Ruf, meint Daniel Dettling.


Der Autor ist Politikwissenschaftler und leitet
das Berliner Büro des Zukunftsinstituts.

Edgar Rodtmann [M]

Beim Stand-


ortfaktor


Toleranz sind


die ostdeut-


schen Bun-


desländer


immer noch


Schlusslicht.





  
  


Gastkommentar
DONNERSTAG, 7. NOVEMBER 2019, NR. 215
56


Anzeige

Free download pdf