„Viele tragen Erziehungsstile
heute wie Religionen vor
sich her. Dabei prallen oft zwei
Extreme aufeinander:
Entweder sollen sich die Eltern
komplett nach dem Kind richten –
oder umgekehrt. Dabei bin ich
überzeugt: Damit Familie
gelingt, muss für die Bedürfnisse
aller Raum sein. Kinder brauchen
Eltern, die ihre Verantwortung
als Clanführer wahrnehmen
und dem Kind einen sicheren
Hafen bieten. Dazu gehört,
die sich wandelnden Bedürfnisse
des Kindes zu sehen und ernst
zu nehmen – ohne sich darüber
selbst zu vergessen. So entsteht
eine sichere Bindung.
Klare Grenzen stehen dazu
übrigens nicht im Widerspruch:
Für Kinder ist es eine ganz
wichtige Erkenntnis, dass ihre
persönliche Freiheit da endet,
wo die persönliche Grenze ihres
Gegenübers beginnt.“
Die Autorin und Vortragsrednerin
aus Leipzig hat drei Töchter im
Alter von 3 Monaten, 10 und 12 Jahren
und einen Sohn, 3 Jahre.
http://www.nora-imlau.de
„KINDER BRAUCHEN
ELTERN, DIE IHRE
VERANTWORTUNG ALS
CLANFÜHRER
WAHRNEHMEN“
Nora Imlau, 36
FOTOS: THOMAS VICTOR; BENNE OCHS
Warum geben Eltern dann nicht recht-
zeitig Kontra? „Tief in unseren Knochen
sitzt noch immer unsere autoritäre Ge-
schichte, die wir loswerden wollen“, sagt
Kärgel. Autoritäre Erziehung sei falsch,
aber antiautoritäre Erziehung ebenso
wenig hilfreich.
„Kinder wollen Eltern spüren, wollen in
Kontakt sein und Kraft wahrnehmen.
Beziehung bedeutet ein Spiel von Nähe
und Distanz. Aber viele Eltern sind heute
oft gar nicht in Kontakt zu ihren Kindern“,
sagt Kärgel.
Sie verdeutlicht das mit dem Bild eines
Seils. Am einen Ende: die Eltern. Am
anderen: die Kinder. Damit man sich wirk-
lich erlebe, müsse das Seil zumindest
etwas gespannt sein. Viele
Eltern aber gäben ständig
nach. Dann hänge das Seil
durch. Keiner spüre den an-
deren, Beziehungs- und Bin-
dungslosigkeit drohe. „Zu
nachgiebige Eltern sind ein
Super-GAU“, sagt Kärgel.
„Wie sollen denn Kinder eigene Grenzen
finden, wenn sie nie eine Grenze der
Eltern erleben? Irgendwann schlagen
die Kinder buchstäblich um sich. Sie
signa lisieren: Nimm mich endlich mal
wahr! Und zeig mir meinen Weg. Kinder
brauchen Eltern, die wie Leuchttürme
sind.“
Vielleicht gibt es die Leuchttürme ja auf
dem Land. Menschen mit Zeit und Muße
und Kindern, die den ganzen Tag auf Bäu-
me klettern, am Bach spielen, Staudämme,
Höhlen und Buden bauen und sich den
Wind um die Nase pfeifen lassen. Oder hat,
wer sich das erhofft, einfach zu viel Astrid
Lindgren gelesen?
Kleve am Niederrhein, Familienbil-
dungsstätte. Monika Döhmen, gelernte
Erzieherin, ist hier zuständig für den
Arbeitsbereich Ehe, Partnerschaft und
Familie. „Auch ich erlebe immer mehr
Väter und Mütter, die ihrem Bauchgefühl
nicht mehr vertrauen“, sagt Döhmen. Also
alles genau so wie in den Metropolen? „Ja“,
sagt sie, „glückliche Kindheit auf dem
Land ist ein Klischee.“
Auch auf dem Land sei es vollkommen
normal, dass beide Elternteile arbeiten.
Die meisten Kinder gingen in Ganztags-
schulen, oft bis 16 oder 18 Uhr. Ein Jahr
nach der Geburt ihres Kindes seien 80 bis
90 Prozent der Mütter wieder berufstätig.
„Weil alle gestresst sind und niemand
unter der Woche viel Zeit
hat, werden die Wochenen-
den extrem vollgestopft.
Nicht mit einem Spazier-
gang im Wald oder einem
Ausflug zum Spielplatz,
sondern mit Events. Die
Eltern haben riesige Erwar-
tungen an diese Event-Wochenenden.
Klar, dass da kein Raum für Auseinander-
setzung oder Reibung bleibt. Es gibt fast
eine Art Zwang zu guter Laune. Das mün-
det dann darin, dass die Kinder, wenn
sie am Montag wieder in Schule oder
Kindergarten gehen, total unausgegli-
chen sind, weil sie noch völlig unter Strom
stehen.“
Vorschule. Mehrere Kinder fallen durch
gewaltverherrlichende Äußerungen auf, die
sich um Kriminalität und Prostitution drehen.
Wenig später wenden sich die Pädagogen
per Brief an alle Eltern. Man möge bitte
darauf achten, dass die Kinder nicht mehr 4
DAS HIRN
BRAUCHT
ZEIT
HUI BUH!
Schatz, das war
Mamis Lieblings-
pullover. Das findet
Mami jetzt irgend-
wie richtig doof
36 24.10.2019