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or wenigen Tagen las ich eine Mel-
dung über eine Insolvenz, und
mir wurde ganz anders. Vielleicht
aus Verwunderung, weil es aus-
nahmsweise mal nicht um Boris
Becker ging. Vielmehr umfing
mich Wehmut, handelte es sich doch um
die Firma Kettler, deren Signature Product,
das sogenannte Kettcar, wich-
tige Jahre meiner Kindheit ge-
prägt hatte. Und nicht nur mei-
ner. 1977 geboren, kenne ich
niemanden meines Alters, der
nicht auch auf diesem Stram-
pel-Gokart unterwegs gewesen
wäre. Allenfalls meinen alten
Kumpel Marko Volkar, von dem
die Sage geht, dass er im Alter
von fünf Jahren mit Zigarette
im Mund auf einem Monster
Bike (diese Dreiräder mit riesi-
gem Vorderrad) durch die Sied-
lung bretterte.
Aber auch ich hatte kein
übermäßiges Interesse an kör-
perlicher Unversehrtheit. Mein
markantester Trick mit dem
Kettcar: durch Rückwärtsbe-
schleunigung und auf den
Punkt genaues, beherztes Zie-
hen der Handbremse das Fahr-
zeug vorn so anzuheben, dass
ich mich mehrfach auf den
Hinterrädern im Kreis drehte.
Der Stolz auf diese Leistung
muss so groß gewesen sein,
dass ich mich noch heute ge-
nau an die Bewegungsabläufe
erinnere. Ich war Colt Seavers.
Auch wenn der auf einem Kett-
car vor einem Rocker-Club an-
fahrend wohl kaum für allge-
meine Ehrfurcht gesorgt hätte.
Nun ist diese Firma also Geschichte, und
wieder einmal wird ein Stück meiner Kind-
heit abgewickelt. Abgetragen und planiert
wie meine alte Grundschule, an deren ehe-
maligem Platz nun ein Rossmann steht.
Nur wenige Hundert Meter weiter beginnt
das Industriegebiet. Dorthin hatte unser
Großvater meinen Bruder und mich frü-
her oft mitgenommen, ins Familienunter-
nehmen. Oppa ist bereits vor 30 Jahren ge-
storben, seinem schon fast odysseushaf-
ten Ruf hat das nicht geschadet. Eher im
Gegenteil. Der Mann konnte wirklich al-
les. So hat er es für uns, seine Enkel, zum
Beispiel nicht bei einem simplen Kettcar
belassen. Mittels eines Rasenmähermo-
tors, alter Schubkarrenreifen und im hei-
mischen Sanitärbetrieb reichlich vorhan-
dener Eisenrohre schweißte er eigenhän-
dig ein Chassis. Mit uns im Schlepptau
ging es rüber zum Nachbarn, einem Schau-
steller, um dem einen ausgemusterten
Autoscooter als Karosserie aus dem Kreuz
zu leiern.
Das benzinbetriebene Scooter-Kart
durfte dann mein sechs Jahre älterer Bru-
der testen und mit 80 km/h
durchs Industriegebiet heizen.
Mein Bruder neigt zur Über-
treibung – es werden 40 km/h
gewesen sein. Immer noch zu
schnell für einen 13-Jährigen.
Das Monster musste also ge-
drosselt werden: Der Motor
wurde wieder aus-, Pedale und
eine Kette eingebaut. Richtig
Fahrt nahm das Ding nur noch
auf, wenn wir damit eine Bö-
schung runterknallten. Es ver-
staubte bald in der Garage. Ge-
nau wie das Kettcar, das wir
später an den Nachbarsjungen
verschenkten. Wir stiegen auf
Fahrräder um. Ein bewusster
Abschied vom Prinzip Kettcar.
Aber nur, weil man selbst mit
etwas fertig ist, will man ja
nicht, dass es komplett aus der
Welt verschwindet. Im Gegen-
teil. Meldungen wie die ein-
gangs erwähnte machen immer
melancholisch. Und kulturpes-
simistisch. Nimmt man doch
gleich an, die Kinder von heu-
te werden sich nun endgültig
damit begnügen, vor der Play-
station zu hängen, anstatt
Geschwindigkeit durch die
Kraft der eigenen Beine genie-
ßen zu können.
Vielleicht schützt sie das
aber auch davor, sich das Genick zu bre-
chen, weil sie meinen Todesstunt aus den
Achtzigern nachmachen wollen. Der wird
ohnehin für immer unerreicht bleiben. 2
Bei Insignien unserer Kindheit neigen wir zum
Drama: Stirbt das Kettcar aus, sehen wir das
Konzept Kindheit generell vor dem Aus. Zu Recht?
Abschied auf Rädern
90 24.10.2019
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BEISENHERZ
Der Autor und Moderator Micky Beisenherz („Das Lachen der Anderen“, „ZDF Heute-Show“, „Extra 3“)
schreibt alle zwei Wochen im stern – und regelmäßig auch bei stern.de
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ILLUSTRATION: DIETER BRAUN/STERN; FOTO: DAVID MAUPILÉ