Frankfurter Allgemeine Zeitung - 22.10.2019

(Axel Boer) #1

SEITE 2·DIENSTAG, 22. OKTOBER 2019·NR. 245 F P M Politik FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


Herr Kalin, wird die türkische Armee
wieder komplett aus Syrien abziehen,
wenn die kurdische YPG-Miliz die Si-
cherheitszone an der Grenze verlassen
hat?


Wenn die YPG-Elemente die Region
um Tall Abyad und Ras al-Ain vollständig
geräumt haben, endet die Operation der
türkischen Einsatzkräfte am heutigen
Tage. Die Armee wird aber zunächst wei-
ter die Sicherheit der Bevölkerung in dem
Gebiet gewährleisten, etwa nach Minen
und Sprengfallen suchen.


Also wird die Armee zunächst auf syri-
schem Gebiet bleiben?


Die Truppen können nicht sofort abzie-
hen. Sie müssen die Gegend erst sichern.
Aber wie vor drei Jahren in Dscharablus,
wo türkische Einheiten gegen den IS-Ter-
ror kämpften, werden sie anschließend
die Verwaltung der Städte an die Einhei-
mischen zurückgeben. So haben wir das
auch nach dem Einsatz in Afrin gemacht,
und so werden wir es jetzt wieder tun.


Die Rückgabe der Verantwortung an die
Einheimischen heißt im aktuellen Fall -
an wen?
An die Menschen, die in den Orten
dort wohnen.

Aber viele von ihnen sind doch inzwi-
schen geflüchtet?
Die YPG sind dort weggegangen. Die
Zivilisten sind noch da. Und diejenigen,
die aus Furcht oder
auch wegen des
Drucks der YPG geflo-
hen sind, werden hof-
fentlich zurückkeh-
ren. Wir wünschen
ausdrücklich ihre
Rückkehr.

Und wann soll mit
der Rückführung von
syrischen Flüchtlingen aus der Türkei in
diese Gebiete begonnen werden?
Lieber früher als später, wenn die Ver-
hältnisse es zulassen. Das hängt von der
Sicherheitslage ab.

Im Westen gibt es große Befürchtungen,
dass die Türkei einen gezielten Bevölke-
rungsaustausch in der Sicherheitszone
im Norden Syriens plant. Wird das pas-
sieren?
Nein. Wenn Sie an die Operationen
denken, die wir gegen den IS oder gegen
die PKK unternommen haben – wir ha-
ben dabei nie die demographische Zusam-
mensetzung der Bevölkerung verändert.
Die Araber sind dort anschließend in ihre
arabischen Siedlungen zurückgekehrt
und die Kurden in die kurdischen. Wir ha-
ben auch niemals jemanden gezwungen,
gegen seinen Willen irgendwohin zurück-
zugehen. Wir haben in den vergangenen
vier, fünf Jahren mehr für die syrischen
Flüchtlinge getan als jedes andere Land
auf der Welt. Wir beherbergen fast vier
Millionen von ihnen.

Ihr Präsident Recep Tayyip Erdogan
trifft an diesem Dienstag den russischen
Präsidenten Wladimir Putin. Was will
die Türkei von Russland?
Nach dem Waffenstillstands-Überein-

kommen, das wir mit den Amerikanern er-
reicht haben, ist das Treffen mit Putin
noch wichtiger geworden. Wir arbeiten
mit Russland ja schon lange zusammen,
um die Kämpfe in Syrien zu beenden. Wir
haben gemeinsam die Eroberung Idlibs
durch Truppen des syrischen Regimes ver-
hindert, die zu Millionen neuen Flüchtlin-
gen geführt hätte. Wir wollen auch den po-
litischen Friedensprozess weiter voranbrin-
gen. Wir werden über die Sicherheit im Os-
ten Syriens sprechen, vom Euphrat bis zur
irakischen Grenze. Wenn die Amerikaner
auch von dort abziehen, stellt sich die Fra-
ge, wer die Sicherheit dort aufrechterhält.
Wir haben ja keine direkten Gesprächskon-
takte zum syrischen Regime, aber wir wer-
den das mit Russland erörtern. Wir wollen
sichergehen, dass keine YPG-Elemente in
dieser Region bleiben.

Weil Sie Idlib erwähnten – sind Sie si-
cher, dass die Russen auch künftig dort ei-
nen Angriff Syriens verhindern werden?
Wir haben eine Waffenstillstands-Ver-
einbarung seit August, die weiter hält und

dort jedenfalls für relative Ruhe sorgt. Na-
türlich gibt es in jedem Krieg keine perfek-
ten Lösungen. Es ist immer so, dass sich
die Lage weiterentwickelt. Aber bislang ist
es uns ganz gut gelungen, die Dinge in der
Region um Idlib ruhig zu halten. Das ist
nur durch russische Mitwirkung möglich.

Vielleicht hat sich jetzt der Preis für die
Aufrechterhaltung des Waffenstillstands
erhöht und die russische Seite verlangt,
dass die Türkei das Assad-Regime end-
lich als legitim anerkennt?
Moskau kennt unsere Haltung zum syri-
schen Regime. Wir glauben, Assad ist
nicht in der Lage, Syrien zu einen; er hat
diese Fähigkeit schon dadurch verloren,
dass er so viele Menschen aus seiner eige-
nen Bevölkerung umgebracht hat.

Müssen Sie nicht die Sorge haben, dass
Ihre Militäraktion die Chancen auf eine
politische Friedenslösung in Syrien zu-
nichtemacht?
Im Gegenteil. Wir sind ja in Idlib auch
mit unserem Militär präsent. Das hat eine

Flüchtlingswelle verhindert und den politi-
schen Prozess befördert. Diese Vorstel-
lung, dass wir in beliebige Teile Syriens
einmarschieren und dort humanitäre Kri-
sen verursachen, ist Unfug. Die Europäer
sollten uns dankbar sein dafür, dass wir
solche stabilisierenden Einsätze wie in Id-
lib unternehmen. Das ist erstens gefähr-
lich, dort ein Puffer zu sein zwischen den
syrischen Truppen und der Zivilbevölke-
rung, und zweitens braucht es eine Menge
diplomatischer Fähigkeiten, Zeit, Geduld
und Klugheit, um das mit allen Beteilig-
ten, mit Russen, Iranern, dem Regime,
den Oppositionskräften, auszuhandeln.

Statt dankbar zu sein, wirft Ihnen die
EU eine Verletzung des Völkerrechts vor
und hat ein Waffenembargo verhängt –
fühlen Sie sich missverstanden?
Unsere europäischen Freunde und Alli-
ierten liegen in dieser Sache völlig falsch.
Ein Waffenembargo wird die Türkei nicht
vom Kampf gegen den Terrorismus abhal-
ten. Sie sollten uns vielmehr dabei unter-
stützen. In unserer Bevölkerung wächst
so der Eindruck, dass Europa auf der Sei-
te der Terroristen steht und nicht auf der
Seite der Türkei. Jeder weiß doch, dass
die YPG faktisch die PKK in Syrien ist.
Bei dem aktuellen Einsatz der türkischen
Streitkräfte sind 600 Mitglieder dieses
PKK-Netzwerks getötet worden – wenn es
das ist, was der Westen beklagt, dann ha-
ben wir uns nichts mehr zu sagen.
Was halten Sie von dem Vorschlag, UN-
Blauhelme im syrischen Grenzgebiet zur
Türkei zu stationieren?
Das ist bislang noch nicht ausführlich
besprochen worden. Aber darüber könnte
man sicherlich mit den Amerikanern und
den Russen reden. Wir sind nicht daran in-
teressiert, irgendeinen Teil von Syrien zu
besetzen oder dort länger als nötig zu blei-
ben. Aber die Europäer sollten sich an
solch einer Mission auch beteiligen. Sie
sollten die historische Gelegenheit nicht
verpassen, zu Frieden und Stabilität in
der Region beizutragen. Das Flüchtlings-
thema ist nicht nur ein Thema der Türkei,
es ist aller Thema.
Die Fragen stellteJohannes Leithäuser.

Ein Schritt zurück für Söder
Die „Nürnberger Nachrichten“ schreiben zur Ableh-
nung der Frauenquote in der CSU:
„Für Söder ist die Niederlage ein gefährlicher Schritt
zurück. Seine Politik richtet sich aus an der Landtags-
wahl im Jahr 2023. Sie ist für ihn der Gradmesser, ob er
in die Geschichtsbücher der CSU eingeht als Triumpha-
tor, als derjenige, der die CSU gegen den Trend aller
Volksparteien wieder nach oben gebracht hat. Oder als
einer, der sich übernommen hat, der zwar bemüht war,
aber mehr auch nicht.“


Von Rissen durchzogene CSU
Die „Stuttgarter Zeitung“ schreibt zur Lage der baye-
rischen Regierungspartei:
„Söder ist stärker und auf mehr Feldern angeknackst,
als es auf den ersten Blick die 91,3 Prozent vermuten las-
sen, mit denen ihn der Parteitag als CSU-Chef bestätigt
hat. Die Partei, die er als stärkste, stabilste verbliebene
Volkspartei Europas präsentieren will, ist von tiefen Ris-
sen durchzogen. Und man mag sich gar nicht vorstellen,


welche Volten eine solche CSU hinlegt, falls die Zahl
der Flüchtlinge wieder einmal steigt. Vielleicht lassen
sich die inneren Gräben ja noch überdecken, wenn es zu
vorgezogenen Bundestagswahlen kommt und die CSU
sich womöglich hinter einem der Ihren als Kanzlerkandi-
dat sammeln kann.“

Subventionierte Benzinpreise schaden
Die liberale schwedische Tageszeitung „Dagens Nyhe-
ter“ (Stockholm) kommentiert die Proteste in Ecua-
dor gegen die Erhöhung der Spritpreise:
„Viele Länder der Welt subventionieren die Kraftstoff-
preise. Das ist dumm, teuer und schlecht für das Klima.
China zahlt am meisten, ihm folgen die Vereinigten Staa-
ten, und selbst Indien zahlt laut IWF mehr als 200 Milli-
arden Dollar pro Jahr. Umwelt- und Gesundheitseffekte
kommen hinzu. Je billiger fossile Brennstoffe, desto
mehr Kohlendioxidausstoß. Sowohl in Ecuador als auch
in Indien würden Staat und Einwohner von der Abschaf-
fung der Subventionen profitieren. Gezielte Zuschüsse
sind besser für die Armen. Und ohne die künstlichen

Preise für Benzin und Kohle kann der Staat klügere In-
vestitionen wählen.“

Krisenkontinent Lateinamerika
Zu den verschiedenen Krisen in Lateinamerika
schreibt die italienische Zeitung „La Repubblica“:
„Es ist nicht nur Chile. Mit seinem Aufstand, dem Aus-
nahmezustand, jetzt der Ausgangssperre und den Militär-
patrouillen auf den Straßen des Landes. Letzte Woche
war Ecuador an der Reihe. Zwanzigtausend Indigene stür-
men Quito, vertreiben den Präsidenten, plündern und
entzünden die Hauptstadt. Ganz zu schweigen von Argen-
tinien, am Rande der Zahlungsunfähigkeit, wo die Hälfte
der Bevölkerung buchstäblich hungert. Und Bolivien,
von Bränden verwüstet, die Millionen Hektar Wald und
Land verbrannt haben, wo Evo Morales auf Lebenszeit
kandidiert. In Kolumbien, wo das Friedensabkommen
mit der Guerrilla wackelt, wo die meisten Sozial- und
Umweltaktivisten getötet werden, erreicht die Kokapro-
duktion einen neuen Rekord. Nicht zu denken an Brasi-
lien mit einem Präsidenten, der unfähig ist, die Wirt-

schaft wiederzubeleben, die das Land zunehmend spal-
tet und die Kluft zwischen den wenigen Reichen und den
vielen Armen vergrößert. Am Ende dieses düsteren Sze-
narios steht Venezuela. Die Rechte kann nicht regieren.
In Lateinamerika weht ein neuer Wind. Die Linke taucht
wieder auf. Aber auch sie hat keine Ideen, wenn sie erst
einmal an der Macht ist.“

Oase Lateinamerikas steht in Flammen
Die spanische Zeitung „El Mundo“ kommentiert die
Unruhen in Chile so:
„Aber die ernste Krise der öffentlichen Ordnung in
dem Andenstaat hat sich lange Zeit angekündigt. Hinter
der scheinbaren Normalität verstecken sich trotz der wirt-
schaftlichen Anstrengungen der vergangenen Jahrzehnte
enorme soziale Ungleichheiten. (Staatspräsident) Sebas-
tián Piñera hatte noch vor einigen Tagen geprahlt, Chile
sei so etwas wie eine Oase im unruhigen Lateinamerika.
Eine Art Stabilisator in einer von Populisten dominier-
ten Region. Heute steht die Oase mit mehr als 700 Inhaf-
tierten und 100 Verletzten in Flammen.“

STIMMEN DER ANDEREN


ANKARA,21. Oktober


D


er türkische Präsident Recep Tay-
yip Erdogan greift weiter an. Am
Wochenende hatte er erst erklärt,
die Türkei werde die Köpfe der kurdi-
schen Kämpfer „zerquetschen“, sollten
sie sich nicht bis Dienstagabend, wenn
die fünftägige Feuerpause endet, aus der
Sicherheitszone, die Ankara errichten
will, zurückgezogen haben. Dann wandte
er sich an den russischen Präsidenten
Wladimir Putin, mit dem er an diesem
Dienstag über die Sicherheitszone spre-
chen will. Sollte es zu keiner Lösung für
die Einheiten der syrischen Armee kom-
men, die in der von der Türkei bean-
spruchten Zone stationiert sind, werde
die Türkei „ihre eigenen Pläne“ durchset-
zen, sagte Erdogan.
Russland steht jedoch gegenüber dem
Regime in Damaskus und den Kurden im
Wort. Der Kreml hatte zwischen den syri-
schen Kurden, die zu Beginn der türki-
schen Militäroperation am 9. Oktober
nach dem Abzug der amerikanischen
Truppen aus Nordsyrien die syrische Ar-
mee zu Hilfe gerufen haben, und dem Re-
gime in Damaskus vermittelt. Seither
übernahm die syrische Armee in Man-
bidsch und Kobane die Kontrolle von den
kurdisch geführten „Syrisch-demokrati-
schen Kräften“. Beide Städte liegen außer-
halb des 120 Kilometer langen Streifens
zwischen Ras al-Ain und Tall Abyad, in
den die türkische Armee einmarschiert
ist. Die Türkei will aber eine 440 Kilome-
ter lange Sicherheitszone, die von Man-
bidsch im Westen bis zur irakischen Gren-
ze im Osten verläuft und 30 Kilometer
tief ist, kontrollieren.
Offenbar setzt die Türkei aber darauf,
dass Moskau nach der Operation „Eu-
phrat-Schild“ und „Olivenzweig“ nun
auch die Operation „Friedensquelle“ un-
terstützt, die dritte türkische Offensive in
Nordsyrien seit 2016. Mit der Unterstüt-
zung für die Türkei hatte Moskau mehre-
re Ziele erreicht. So mussten sich die Kur-
den zunächst auf die Verteidigung gegen-
über der Türkei konzentrieren und über-
ließen das umkämpfte Aleppo dem Re-
gime. Bei dem türkischen Feldzug gegen
Afrin 2018 ließ Russland die Türkei ge-
währen und die Kurden fallen, so dass sie
erstmals das syrische Regime zu Hilfe rie-
fen. Nun will Moskau zum einen errei-
chen, dass die Kurden ihre Autonomiebe-
strebungen aufgeben, und zum anderen,
dass die Türkei das syrische Regime aner-
kennt. Somit würde Machthaber Baschar


al Assad acht Jahre nach dem Beginn des
Kriegs weitgehend die Kontrolle über
ganz Syrien zurückerlangen.
Für die Türkei stehen bei der Errich-
tung der Sicherheitszone drei Punkte im
Vordergrund. Der erste Punkt, die Rück-
führung syrischer Flüchtlinge, ist nicht im
Interesse des syrischen Regimes. Wieder-
holt hat Machthaber Assad erklärt, dass in
Syrien Stabilität nur mit einer „homoge-
nen“ Bevölkerung möglich sei. Damit
schließt er die Rückkehr von Syrern aus,
die die Rebellen unterstützt oder mit ih-
nen gekämpft haben. In der Türkei wächst
jedoch der Druck auf Präsident Erdogan,
einen größeren Teil der auf knapp vier Mil-
lionen geschätzten syrischen Flüchtlinge
in ihre Heimat zurückzubringen.
Als Vorbild gilt dabei die Rückführung
nach den ersten beiden Militäroperatio-
nen „Euphrat-Schild“ und „Olivenzweig“.
Danach wurden nach Angaben der türki-
schen Regierung in der Provinz Afrin und
in der Region Dscharabulus 260 000
Flüchtlinge angesiedelt. Das sei schritt-
weise erfolgt und erst, nachdem die Si-
cherheit wiederhergestellt und die Region
von Landminen gesäubert worden sei.
Auch seien lediglich Syrer zurückge-
bracht worden, die aus jenen Gegenden
stammten, so dass es zu keinem Bevölke-
rungsaustausch komme, betonen Regie-
rungsvertreter. Die Türkei wisse jedoch,
dass die Lebens- und Wohnbedingungen
attraktiv genug sein müssten, damit eine
freiwillige Rückkehr erwogen werde.
Zweitens sollen nach dem Abzug der
kurdischen YPG-Milizen in Nordsyrien
„syrische Städte“ entstehen, was im Sinne
des Regimes und Russlands sein kann.
Wie in Afrin und Dscharabulus sollen Sy-
rer, die die Türkei zu Polizisten ausgebil-
det hat, für die öffentliche Sicherheit sor-

gen. Mit materieller, finanzieller und per-
soneller Unterstützung sollen, so Ankaras
Plan, die Justiz, das Gesundheits- und das
Schulwesen wiederaufgebaut sowie die
eine Grundversorgung sichergestellt wer-
den. Zudem arbeitet Ankara daran, dass
sich die „Nationale Syrische Armee“, die
aus der „Freien Syrischen Armee hervor-
gegangen ist und sich aus Rebellen zusam-
mensetzt, eine reguläre Armee unter ei-
nem Kommando wird und sich einem Ver-
haltenskodex unterwirft. Das wird das Re-
gime in Damaskus nicht akzeptieren.
Die türkische Regierung erwägt eine in-
ternationale Geberkonferenz, um die not-
wendigen Mittel für die Ansiedlung der
Flüchtlinge und den Wiederaufbau einer
Infrastruktur aufzubringen. Präsident Er-
dogan sagte Ende September vor den Ver-
einten Nationen, dass dafür 26 Milliarden
Dollar erforderlich seien. Ankara ist sich
dabei bewusst, dass es keine Mittel geben
wird, solange die Gefahr besteht, dass
etwa das syrische Regime die Region aber-
mals angreift. Ankara hofft daher auf rus-
sische Garantien, dies zu verhindern. Im
Wege stehen könnte, dass der Westen die
völkerrechtliche Begründung für den tür-

kischen Einmarsch verwirft. Vielmehr ste-
he diese auf tönernen Füßen, heißt es.
Die türkische Regierung sieht in ihrem
Vorgehen jedoch keine Verletzung des
Völkerrechts. Sie beruft sich auf das
Selbstverteidigungsrecht nach Artikel 51
der UN-Charta und auf das Adana-Ab-
kommen aus dem Jahr 1998, das der Tür-
kei das Recht zugesteht, zur Verfolgung
von Terroristen vorübergehend bis zu
fünf Kilometer auf syrisches Territorium
vorzustoßen. Zudem macht die Türkei gel-
tend, dass die Resolution des UN-Sicher-
heitsrats, auf deren Grundlage westliche
Staaten in Syrien die Terrormiliz „Islami-
scher Staat“ (IS) bekämpfen, auch für die
derzeitige türkische Operation gültig sei.
Um Unterstützung wirbt die Türkei
auch bei dem dritten für sie wichtigen
Punkt, dem Kampf gegen den IS und der
Sicherstellung, dass aus den Internierungs-
lagern keine Kämpfer entkommen. Dabei
verfolge die Türkei das Ziel, die nichtsyri-
schen und nichttürkischen IS-Kämpfer
und deren Angehörige in deren Heimat zu-
rückzusenden. Ankara könne jedoch nicht
für Lager verantwortlich gemacht werden,
die außerhalb seiner Präsenz lägen.

Foto Matthias Lüdecke


Türkische Wunschlisten

ImDienste Erdogans:Von der Türkei unterstützte syrische Rebellen am Montag in der Grenzstadt Ceylanpinar Foto Reuters


Im Gespräch: Ibrahim Kalin, Sprecher und außenpolitischer Berater des türkischen Präsidenten, über den Militäreinsatz in Syrien


„In der Bevölkerung wächst der Eindruck, dass Europa auf Seiten der Terroristen steht“


WASHINGTON, 21. Oktober. Der Ab-
zug aus Syrien hat begonnen. Wie Nach-
richtenagenturen berichteten, haben Mi-
litärfahrzeuge der amerikanischen
Streitkräfte am Montag bei Fischchabur
den Tigris, den Grenzfluss zum kurdi-
schen Nordirak, überquert. Ein Großteil
der 1000 amerikanischen Soldaten soll
vorerst in den Irak verlegt werden. Dort
ist bisher ein 5000 Personen starkes Kon-
tingent in der von Washington geführ-
ten internationalen Militärkoalition ge-
gen die Terrorormiliz „Islamischer
Staat“ (IS) im Einsatz. Aufgrund der Kri-
tik der Republikaner im Kongress am
Abzug aus Syrien soll Präsident Donald
Trump allerdings Zugeständnisse erwä-
gen. Die „New York Times“ berichtete,
der Oberbefehlshaber neige dazu, ein
kleineres Kontingent in Syrien zu belas-
sen.
Trump habe einen Vorschlag des Ver-
teidigungsministeriums gutgeheißen,
etwa 200 Soldaten nicht aus Ostsyrien
abzuziehen. Die Spezialkräfte sollen
nicht nur gegen verbliebene IS-Kämpfer
vorgehen, sondern auch einen Vor-
marsch russischer Truppen sowie von
Soldaten des Assad-Regimes verhin-
dern. Sollte die Pentagon-Initiative
Wirklichkeit werden, würde Trump zum
zweiten Mal innerhalb von zehn Mona-
ten seine Abzugspläne relativieren. Im
Dezember vergangenen Jahres hatte er
erstmals verkündet, Syrien zu verlassen,
woraufhin Verteidigungsminister James
Mattis aus Protest zurücktrat. Der seiner-
zeitige Nationale Sicherheitsberater
John Bolton sorgte später dafür, dass die
Entscheidung aufgeschoben wurde.
Mitte Oktober ordnete Trump aber-
mals an, nahezu alle verbliebenen Trup-
pen aus Syrien abzuziehen. Im Kabinett
gab es keinen Widerspruch mehr. Auch
Außenminister Mike Pompeo, der eigent-
lich zum Lager der außenpolitischen Fal-
ken zählt, schwieg. Als Verteidigungsmi-
nister Mark Esper, der nicht über ein poli-
tisches Profil verfügt, Trumps Plan auszu-
führen begann, waren allerdings Unmuts-
äußerungen aus dem Pentagon zu ver-
nehmen. Esper, der sich zurzeit in Afgha-
nistan aufhält, bestätigte am Montag, es
gebe Diskussionen darüber, „einige Sol-
daten“ im Nordosten Syriens an der Sei-
te der Kurden zu belassen, um zu verhin-
dern, dass die Ölfelder in die Hände des
IS oder „anderer“ fielen.
Am Montagabend bestätigte auch
Trump diese Pläne. Er sagte, man werde
eine kleine Gruppe im Land behalten,
um das Öl zu sichern und eine weitere an
der jordanischen Grenze, unweit von Is-
rael. Darüber hinaus werde man sich
aber vollkommen aus den gefährlichen
Gebieten zurückziehen.
Maßgeblich für Trumps abermaliges
Einlenken ist der Widerstand, der ihm
aus dem Kongress entgegenschlug.
Mitch McConnell, der republikanische
Mehrheitsführer im Senat, hatte unmit-
telbar nach Bekanntwerden der Pläne
den Mangel an amerikanischer Führung
beklagt. Am Sonntag legte er nach: In ei-
nem Gastbeitrag für die „Washington

Post“ nannte er den Abzug einen „gravie-
renden strategischen Fehler“. Über die
Begründung Trumps, er wolle die „lä-
cherlichen und endlosen Kriege“ been-
den, worin er von der demokratischen
Präsidentschaftsbewerberin Elizabeth
Warren unterstützt wird, schrieb McCon-
nell: „Während der Neoisolationismus
links wie rechts seine hässliche Fratze
zeigt, ist noch mehr Gerede über ,endlo-
se Kriege‘ zu erwarten. Aber Phrasen
können die Tatsache nicht ändern, dass
Kriege nicht einfach enden; Kriege wer-
den gewonnen oder verloren.“
Der Republikaner wies nicht zufällig
darauf hin, dass er zu Jahresbeginn, als
Trump erstmals den Abzug aus Konflikt-
regionen angeordnet hatte, eine inter-
fraktionelle Resolution initiierte, die
von 70 Senatoren mitgetragen wurde: In
der Entschließung brachte die zweite
Kammer ihre Opposition gegen einen
voreiligen Rückzug zum Ausdruck. Un-
glücklicherweise, schrieb McConnell
nun, spiegele die Ankündigung Trumps
von Mitte Oktober die Bedenken des Se-
nats nicht wider.
Dass McConnell noch einmal hervor-
hob, es seien 70 Senatoren gewesen, wel-
che seinerzeit die interfraktionelle Reso-
lution unterstützten, ist in der aktuellen
Lage, in der sich Trump befindet, von
Bedeutung. Aufgrund der Ukraine-Affä-
re bereiten die Demokraten im Reprä-
sentantenhaus ein Amtsenthebungsver-
fahren gegen den Präsidenten vor. Die
Amtsanklage wird mit großer Wahr-
scheinlichkeit beschlossen. Um Trump
seines Amtes zu entheben, müssen die
Demokraten 20 republikanische Senato-
ren dazu bringen, ihn zu verurteilen. Da-
nach sieht es derzeit nicht aus.
Die Republikaner erinnern den Präsi-
denten nun aber gelegentlich daran, dass
er von ihrer Loyalität abhängt. Erst am
Samstag reagierte er auf den Widerstand
in seiner Partei und ließ den Plan fallen,
den G-7-Gipfel im Juni nächsten Jahres
in seinem eigenen Golfhotel in Doral bei
Miami auszurichten. Nachdem er den Ab-
zug der verbliebenen Truppen aus Sy-
rien verkündet hatte, reagierte er auf die
parteiinterne Kritik zunächst mit einer
diplomatischen Mission. Vizepräsident
Mike Pence kehrte mit einer befristeten
Waffenruhe aus Ankara zurück. Das
reichte den Republikanern aber nicht.
Senator Lindsey Graham äußerte in
der vergangenen Woche, die Türkei müs-
se die eroberten kurdischen Gebiete wie-
der aufgeben. Und an Trump gewandt
sagte er: Wenn dieser seinen Kurs fortset-
ze, werde er der eigenen Nation schaden.
„Ich werde Sie zur Rechenschaft ziehen.“
Über Graham sagt man, sollte er sich ge-
gen den Präsidenten stellen, würden min-
destens 19 Republikaner im Senat fol-
gen. Bislang unterstützte er Trump in
den Impeachment-Ermittlungen bedin-
gungslos. Nun aber sagte er: Sollte es mit
Blick auf die zurückgehaltene Militärhil-
fe für die Ukraine und die Forderung,
von Kiew Wahlkampfmunition gegen
die Demokraten zu erhalten, ein „quid
pro quo“ gegeben haben, wäre das „sehr
verstörend“.(sat.)

Ein Präsident


aufdem Rückzug


Bleiben doch amerikanische Spezialkräfte in Syrien?
Bei seinem Besuch in


Sotschi am Dienstag


will Erdogan mit Putin


über die angestrebte


Sicherheitszone in


Syrien sprechen.


Was der Türkei dabei


am wichtigsten ist.


Von Rainer Hermann


Bagdad

Mossul Arbil

IRAK

TÜRKEI

200 km

MMMMManbidschaanaaananannbibbibdsch

KKobaKobKobanananneneneneeee

Damaskus
F.A.Z.- Karte lev.

SYRIEN

Kobane RRas al-ARaRaRas al-AinRaRas aasasass a a alal-Aal-l-AAAiAiAiAiininin
Tall AbyadTaTTall Abyadall Aallll A A Abyadbbyya

Ras al-Ain
Tall Abyad

Fischchabur
AfrAAfrinAfrinfririnrinrininin

Adana

Aleppo

Ölfelder

Teilweise kurdisch besiedelte
oder kontrollierte Gebiete
in Syrien

Rebellengruppen

im Irak
in der Türkei

Syrische Armee

Türkische Armee und
Nat. Syrische Armee

„Friedenskorridor“
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