Fotos:
A. Laub/AFP, Stadtarchiv Halle, dpa
10 FOCUS 42/
D
reimal spricht die Gemein
de das Gebet. Dreimal ruft
sie Gott an, er möge ihnen
in seiner „überfließenden
Gnade“ alle Sünden verge
ben. Dreimal lässt der Herr
sie wissen, er habe ihnen
vergeben. Dreimal dankt die Gemeinde
dem Elohim, dem König des Universums,
der sie am Leben erhalte, sie stütze und
es ihnen ermöglicht habe, „diese Zeit des
Versöhnungstages“ zu erreichen. Mit die
sem Gebet, dem „Kol Nidre“, eröffnen
Juden ihren höchsten Feiertag, den Jom
Kippur. Es wird gesprochen in allen Syna
gogen der Welt. Das Ritual, älter als die
Zeiten, erlöst von allem Übel, allen Sün
den und allem Bösen. Jedes Jahr an Jom
Kippur wird es wieder gesprochen, weil
alle Sünden und alles Übel wiederkehren.
So wie das Böse. In Halle drohte es vor
der Synagoge in der Humboldtstraße in
Gestalt eines mit Schuss und Spreng
waffen gerüsteten Mannes, der am ver
gangenen Mittwoch, wenige Stunden vor
Ende der JomKippur Feierlichkeiten, das
Gotteshaus stürmen wollte – um die dort
versammelten Juden zu töten. Der Atten
Das Video lud er als Livestream auf die
InternetPlattform Twitch, einen digita
len Treffpunkt von Computerspielern. Als
reales und perverses Killerspiel hatte Ste
phan B. seine Tat inszeniert.
Acht Minuten zeigt das Video das
Geschehen vor der Synagoge aus der
Perspektive des EgoShooters. Stephan
B. will die Tür zum Gelände der Syna
goge aufstemmen. Er versucht, sie zu
sprengen. Er schimpft auf
die Juden. Er beschimpft sich
selbst. Er läuft immer wieder
zu einem grauen VW Golf.
Aus dem Mietwagen holt er
weitere Munition oder weite
re Sprengmittel. Er begreift,
dass er scheitern wird. Eine
Frau nähert sich ihm. Geht
vorbei. Sie fragt: „Muss das
sein, wenn ich hier langge
he?“ Schon ist sie vorbei. Ste
phan B. richtet die Waffe auf
ihren Rücken, tötet sie mit
vier Schüssen aus ein paar
Meter Distanz. Der Mord
kümmert Stephan B. nicht.
Er schießt mehrfach auf die
Die Gemeinde war ohne Schutz, nur eine Tür stand zwischen Leben und Tod
täter, der 27jährige Deutsche Stephan B.,
drang nicht in die Synagoge ein. „Unsere
Tür hat standgehalten“, sagte später Max
Privorozki, der Vorsitzender der Jüdischen
Gemeinde, der während des Anschlags
mit etwa 80 anderen Gläubigen in der
Synagoge ausgeharrt hatte. Und so sim
pel war es. Eine Tür stand Stephan B. –
seinen Waffen, seinem Hass und sei
ner Mordlust – im Weg. Nur eine Tür.
Dem Täter fielen andere zum
Opfer. Er erschoss zwei Men
schen, verletzte zwei weitere.
Was in Halle geschah, ist
unerträglich – und wird nun
doch ertragen werden müs
sen. Was in Halle hätte gesche
hen können, ist unvorstell
bar – und lässt sich nun doch
nicht mehr ins Unvorstellbare
verbannen.
Acht Minuten, exakt acht
Minuten dauerte der Angriff
von Stephan B. auf die Syna
goge. Die Zeit lässt sich so
genau angeben, weil der
Täter sein Verbrechen mit
einer Helmkamera filmte.
»
Wir haben
die Tür mit
Stühlen
verbarrikadiert.
Wir waren
bereit zu
kämpfen
«
Gemeindemitglied
Roman R.
Schockierte Kanzlerin
Angela Merkel besuchte am Abend des Atten-
tats die Neue Synagoge in Berlin und drückte
der Jüdischen Gemeinde ihr Mitgefühl aus