Focus - 12.10.2019

(Ron) #1

  1. Januar 2018. Die erste Begegnung.
    Mike Mohring besucht die FOCUS-Re-
    daktion. Er kommt gemeinsam mit seinem
    Pressesprecher Karl-Eckhard Hahn, ei-
    nem älteren Herrn, der in seiner zurück-
    haltenden Art komplementär zu seinem
    Chef passt. Mike Mohring ist ein schlan-
    ker, hochgewachsener Mann mit dunk-
    lem, kurzem Haar. Er blickt aus großen,
    wachen Augen, die keine Brille brauchen.
    Ein Schwiegersohntyp.
    Politisch wird Mohring dem konservati-
    ven Flügel der CDU zugerechnet, er zählt
    zu jenen in der Partei, die sich immer
    wieder vom Kurs der Bundespartei distan-
    zieren, laut genug, um gehört zu werden,
    nie so laut, dass sie in Ungnade fallen. Die
    Bundeskanzlerin schätzt ihn. Mike darf
    sie Angela nennen. Anfang 2018 erreicht
    die Thüringer CDU in Umfragen 31 Pro-
    zent, Rot-Rot-Grün wäre ohne Mehrheit.

  2. November 2018. Mike Mohring er-
    fährt, dass er Krebs hat. Keine Gewissheit
    mehr. Alles, was in seinem Leben bis-
    her Bedeutung hatte, ist infrage gestellt.
    Wird er überleben? Nach der Diagno-
    se geht er auf den Friedhof. Er besucht
    das Grab seines Patensohns, der Selbst-
    mord begangen hatte. „Meine Diagno-
    se und seine Entscheidung, mit 18 aus
    dem Leben zu gehen, das hat mich mehr
    beschäftigt als alles andere“, sagt Moh-
    ring später.
    Die kommenden Wochen sind die här-
    testen in seinem Leben. Noch ehe er die
    Öffentlichkeit über seine lebensbedroh-
    liche Krankheit informiert, unterzieht er
    sich den notwendigen Eingriffen und
    beginnt Ende November die Chemothe-
    rapie. Erst als seine Ärzte signalisieren,
    dass die Behandlung anschlägt, weiht er
    sein Team ein. Er will weitermachen. Jetzt
    ruft Mohring auch Angela Merkel an. Es
    ist kurz vor Weihnachten.


PORTRÄT

FOCUS 42/2019 43


U


nd dann rinnen Mike Moh-
ring die Tränen. Er sitzt in
der Kirche von Sachsen-
hausen, den Kopf geneigt,
die Hände gefaltet, ganz
vorne, erste Bank. Der
47-Jährige hat spät zum
Glauben gefunden, taufen
ließ er sich mit 18. Das war in der Wende-
zeit, als viele DDR-Bürger den Schutz der
Kirche suchten.
Pfarrerin Christine Lieberknecht hält
die Andacht. Sie erzählt eine Geschichte,
von der Ungewissheit im Umbruch und
der Hoffnung, die alles trägt. Es ist auch
die Geschichte von Mike Mohring. Die
zierliche Dame war von 2009 bis 2014
CDU-Ministerpräsidentin von Thüringen,
bis sie von Bodo Ramelow abgelöst wur-
de. Seither regiert die Linkspartei.
In der Kirche haben sich 30 Frauen und
Männer getroffen. Sie haben ein gemein-
sames Ziel: Heute wollen sie im Weimarer
Land wandern gehen, am 27. Oktober in
Erfurt die Linken ablösen. Denn dann
wählt Thüringen. Und Mike Mohring
ist Spitzenkandidat der Union. Er will
an die Amtsjahre von Christine Lieber-
knecht anknüpfen. Die Gemeinde betet
das Vaterunser: „Dein Wille geschehe,
wie im Himmel, so auch auf Erden.“
Politische Träume können platzen, doch
das Leben geht weiter. Frau Lieberknecht
zeigt das. Was ist die Politik überhaupt
gegen das Leben? Dass er jetzt hier sitzt,
gesund und voller Tatendrang, das allein
ist nach all dem, was in den vergangenen
Monaten im Leben von Mike Mohring
widerfuhr, ein kleines Wunder. Da kön-
nen einem schon die Tränen kommen.
Die vergangenen zwei Jahre im Leben
des Mike Mohring waren eine Reise an
den Rand der Hölle und zurück. Ob sie
ein glückliches Ende findet, steht noch
nicht fest. Ein Protokoll:

Mike Mohring will Ministerpräsident von Thüringen werden.


Erst kam dem CDU-Politiker eine tödliche Krankheit


dazwischen, dann das Klimapaket, zuletzt Kurt Biedenkopf.


Hat er noch eine Chance? Protokoll eines langen Weges


Mensch, Mike


TEXT UND FOTOS VON MARKUS C. HUREK
Free download pdf