Focus - 12.10.2019

(Ron) #1
REISEN

Foto: Thomas Linkel/laif


FOCUS 42/2019 57

D


ieser Urlaub war ein
Traum. Schon seit vie-
len Jahren und in der
Realität dann auch.
Jens Wrobel, 45, hat-
te immer diese Sehn-
sucht nach dem Meer,
was naheliegt, wenn
man aus der Nähe von Hamburg kommt.
Und voriges Jahr hat er es sich dann
gegönnt, das Mittelmeer und Ibiza und
„Mein Schiff 6“ von TUI. Viele tolle Men-
schen hat er an Bord kennengelernt, er
schwärmt von den Partys draußen auf
dem Achterdeck in der „Außenalster
Bar“ und den „wunderschönen Sonnen-
untergängen“. Der Kreuzfahrt-Neuling
ist immer noch ganz euphorisch: „Man
ist am nächsten Tag an einem ande-
ren Ort und in einer anderen Welt.“
Und wer mal Ruhe braucht, setzt sich
einfach auf den Balkon vor der Ka-
bine: „Noch ein bisschen den Mond be-
trachten, Sterne gucken und ab ins Bett.“

Die Freiheitsstatue auf Augenhöhe
Auch wenn es klingt wie aus dem Feri-
enkatalog: So viel Freiheitsgefühl und
Abwechslung bietet nur ein Urlaub auf
dem Meer. Ruhe und Action sind oft nur ein
Deck voneinander entfernt, die gemein-
same Seereise schweißt selbst Hunderte
wildfremder Menschen zusammen in der
kleinen schwimmenden Schiffswelt, die
Besatzung und Gäste für begrenzte Zeit
gemeinsam in Besitz nehmen.
Yoga zum Sonnenaufgang auf dem Heli-
kopter-Landeplatz. Das Hochgefühl beim
Ablegen im Hafen und die Vorfreude auf
den nächsten. Im sprudelnden Whirlpool
das Nordkap umschippern. Von bis zu
20 Restaurants eines zum Abendessen aus-
wählen. In der Karibik eine Eistanz-Show
im Schiffsbauch bestaunen. Die Freiheits-
statue beim Einlaufen in New York auf
Augenhöhe grüßen. Tagelang Eskorten
von Delfinen neben dem Schiff auf der
Transatlantikroute beobachten. Hinter
Glas in der Sauna schwitzen, während
draußen Grönlands Eisberge vo rüber-
ziehen. Das gleichmäßige Rauschen der
Bugwelle beim Einschlafen mit offener
Balkontür. Spiegelndes Wasser um sich
herum, dazu der weite Horizont und dann
die Meeresluft. „Das macht ganz ein-
fach glücklich“, sagt Aida-Kapitän David
Adrian. Das ist der Kreuzfahrt-Effekt.
Welche Landreise, welches Hotel kann
da schon mithalten? Kein Wunder, dass
der Markt boomt.

2,5 Millionen Deutsche zieht es mittler-
weile pro Jahr auf Schiffe, binnen einer
Dekade hat sich die Zahl jener, die ihren
Urlaub auf dem Meer verbringen, mehr
als verdoppelt. Wachstumsraten von vier
bis acht Prozent sind üblich. Wybcke
Meier, Chefin von TUI Cruises, rechnet
bald mit drei Millionen Gästen. Und das
Potenzial ist noch viel größer. In Umfra-
gen gibt seit Längerem beharrlich jeder
fünfte bis zehnte Bundesbürger an, mit
einer Kreuzfahrt zu liebäugeln oder sie
demnächst zu planen – das wären dann
mindestens acht Millionen Gäste auf See.
Dazu strotzt die Branche mit ihren
weltweit 28 Millionen Passagieren jähr-
lich nur so vor Optimismus und Investi-
tionsfreude: Das Archiv des Branchen-
fachdienstes „Cruise Industry News“
listet im aktuellen Orderbuch stolze 129
bestätigte Aufträge für Neubauten auf,
die bis 2027 nach und nach in Dienst
gestellt sein sollen – ein neuer Rekord.
Darunter sind alle möglichen Schiffsklas-
sen zu finden, vom weltgrößten 5-Mast-
Segler über Flusskreuzer bis
zu schwimmenden Städten
mit 5400 Gästen. Mehr als
500 Kreuzfahrt-Pötte weltweit
zählte das Umweltbundesamt
heute. In acht Jahren werden
es rund 650 sein.
Ebenso ist es kein Wun-
der, dass dieser Boom Wider-
spruch provoziert. In Vene-
dig, Barcelona oder auch Kiel
demonstrieren Einheimische
und Aktivisten gegen große
Schiffe und deren Emissionen.
Eine Schulklasse des Frank-
furter Carl-Schurz-Gymnasi-
ums musste sich im Netz übel
beschimpfen lassen, weil sie
als Abschlussfahrt eine fünftä-
gige Kreuzfahrt mit Aida von
Kiel über Oslo nach Kopen-
hagen gewählt hatte. Nicht
weniger kritisiert wurde die
ehemalige Umweltministerin
Barbara Hendricks (SPD), die
für einen Vortrag auf einem
Kreuzer vor Island umher-
schipperte. Oder der frühere
grüne Außenminister Josch-
ka Fischer, der es sich zwei Wochen lang
in einer schicken Kabine gut gehen ließ.
Ja, man kann die Emissionen der
Kreuzfahrtschiffe über den Schornstei-
nen deutlich sehen. Und: Nur wenige der
fast 1000 heute weltweit ansteuerbaren

Kreuzfahrthäfen bieten, wie Hamburg,
den Schiffen während der Liegezeit eine
umweltfreundlichere Versorgung mit
Landstrom an. Dazu kursiert zur Empö-
rung vieler die eine Zahl, wonach ein
Kreuzfahrtschiff im Schnitt täglich so viel
CO 2 ausstößt wie 83 678 Autos.

Reisen mit alternativen Antrieben
Die exakten Emissionen von Kreuzfahrt-
schiffen sind ungewiss. Selbst die Umwelt-
organisation Nabu operiert bei ihrer
Berechnung mit veralteten Schätzwerten
aus dem Jahr 2012. Die Reedereien Aida
oder TUI Cruises etwa kommen auf viel
geringere Werte in ihren Umweltrepor-
ten. „Es läuft gerade ein Monitoring auf
den Schiffen, um die Werte zu ermitteln“,
sagt Helge Grammerstorf vom Kreuzfahrt-
verband CLIA. „Aber das dauert noch.“
Dennoch kündigt jetzt die Nonprofit-Or-
ganisation „Atmosfair“ ihre Kooperation
mit Aida, weil sie deren Tempo und Willen
zur Veränderung für unzureichend hält..
„Man muss ja nicht ausgerechnet
auf Schiffen mit den höchs-
ten Abgaswerten reisen“,
sagt Kindergärtnerin Anna
Bauer aus dem Sauerland.
Die 52-Jährige hatte ihrem
Mann zum 50. Geburtstag
eine Kreuzfahrt rund um
die Liparischen Inseln auf
dem Segler „Royal Clipper“
geschenkt. Das Schiff gilt
dank des häufigen Windbe-
triebs als eines der klima-
freundlichsten überhaupt.
Und es kommen demnächst
umweltverträglichere Neu-
bauten: rund 30 Schiffe mit
Flüssig gasantrieb, dazu ers-
te Hybride mit gemischtem
Elektro- und Dieselmotor
sowie Biogas-, Elektro- oder
auch Brennstoffzellenantrieb
sind im Bau. Restemissionen
wird es dennoch geben.
Bei ihrer ersten Kreuzfahrt
hatten die Bauers diese dann
mit CO 2 -Zertifikaten vom Por-
tal myclimate.org für 50 Euro
ausgeglichen. Das, sagt Anna
Bauer, „machen wir aber bei
allen anderen Reisen schon länger so.“Ein
gutes Vorbild. Und sprechen Sie die Ree-
dereien an auf ihren Beitrag zum Umwelt-
schutz. Buchen Sie bewusst. Der Druck der
Kunden und der Gesellschaft hat auf See
schon vieles zum Besseren verändert. n

»
Keine Angst
vor großen
Schiffen – auf
den meisten
verteilen sich
auch 1000 Pas-
sagiere gut

«
Tobias Lange-Rüb,
Fachmagazin „CruCero“
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