14 MEINUNG & DEBATTE Freitag, 25. Oktober 2019
Auch
Dorfkönige
brauchen
Kont rolle
Die regionale Presse stir bt einen la ngsamen Tod.
Gemeinden versuchen, die Lücke mit eigenen
Zeitun gen zu füllen. Aber wenn niemand mehr
kritisch hinschaut, nimmt das politische System
Schaden. Von Michael von Led ebur
Die Todesanzeigen seien es gewesen, die den ent-
scheidendenAnstoss gaben. So zumindest war es
aus den Mündern von Spöttern zu hören. Als die
Stadt Uster vergangenesJahr beschloss, künftig auf
dieamtlichen Anzeigen im «Anzeiger von Uster»
zu verzichten, war es der örtliche Seniorenrat, der
Unterschriften sammelte und in diesemFrühling
einen Urnenentscheid erzwang. Die Senioren muss-
ten sich anhören,es gehe ihnen nicht um finanzielle
Mittel, die derregionalen Presse entzogen würden,
oder gar um das Zeitungsserbeln und diedadurch
gef ährdete Medienfreiheit – sondern um die Ge-
wohnheit, aus der Zeitung zu erfahren, wer gestor-
ben sei.Am Ende obsiegten die Senioren jedenfalls
klar. Die Stadt Uster muss ihre amtlichenAnzei-
gen wieder im «Anzeiger von Uster» publizieren.
Die Episode wirft ein Schlaglicht auf den Zu-
standderregionalenPresse,umdieesmehrschlecht
als recht bestellt ist–und auf die Abhängigkeiten,
diesichdarausergeben.DieRegionalzeitungensind
demWandel in der Mediennutzung voll ausgesetzt.
Leser verlieren sie nicht etwa, weil diesesich von
ihremLeibblatt abwendenwürden,sondernweilsie
sterben undkaum jungeZeitungsleser nachfolgen.
Sie zehren von ihren immer älteren Abonnenten.
DerenJahrgängeliegenabergefährlichnahebeiein-
ander. Das Modellder bezahltenregionalenTages-
zeitung hat einAblaufdatum spätestensAnfang der
dreissigerJahre unseresJahrhunderts. Dann gibt es
womöglich niemanden mehr, der über die lokalen
politischenVorgänge berichtet. Das ist problema-
tisch,weileinwichtigesKontrollinstrumentverloren
geht und das demokratischeSystem der Schweiz an
seinerBasis Schaden nimmt.
Freier, aber ärmer
Beizukommen ist dem Problem nur schwer. Ge-
rade auf lokaler Ebene zeigen sich nämlich die
Schwierigkeiten, die sich ergeben, wenn Zeitungen
vom Staat alimentiert werden. Die Einnahmen
aus amtlichen Anzeigen, für die sichUsters Be-
tagte derart ins Zeug gelegt haben, waren bei den
Regionalzeitungen jahrzehntelang fest budgetiert.
Bei grösseren Zeitungen überstieg der jährliche
Frankenbetrag die Millionengrenze. Seit vergange-
nemJahr sind die Gemeinden im Kanton Zürich
nicht mehr dazu verpflichtet,Gemeindeversamm-
lungsbeschlüsse, Erlasse oder ebenTodesanzeigen
in einem Printmedium zu veröffentlichen. Mit dem
neuen Gemeindegesetz genügt die Publikation im
Internet. Der Ustermer Urnenentscheid zeigt, dass
dies gerade ältere Bürger überfordert. Erkommt
aber auch einemVersuch gleich, die Uhr zurück-
zudrehen. Ob dies für dieregionale Presse gut
wäre, ist fraglich, denn die amtlichen Anzeigen
brachtenden Zeitungen zwarEinnahmen, banden
sie aber oft auf unguteWeise an die Gemeinde-
behörden. Im neuen Zeitalter sind die Zeitungen
freier,allerdings auch ärmer.
Die Bezeichnung als amtliches Publikations-
organ bedeutet technisch gesehen lediglich, dass
die Gemeinden darin ihreAnzeigen abdrucken –
es sind nichts anderes als Inserate.Aber als guter
Kunde entwickelten die örtlichen Behörden eine
Anspruchshaltung – ein problematischerVorgang.
Legitim ist das Bedürfnis der
Behörden, die Bevölkerung
über relevante Neuerungen
zu informieren. Doch es ist
ein schmaler Grat zwischen
Information und Nabelschau.
Die Zeitungen druckten neben den amtlichenAn-
zeigen brav auch dieVerlautbarungen des Ge-
meinderats in vollerLänge ab. Kritische Berichte
mussten die Gemeindevertreter eher selten gewär-
tigen, weil dem Chefredaktor in solchenFällen der
Besuch eines erbosten Gemeindepräsidenten ins
Haus stand.Konflikte, denen man im Zweifelsfall
aus demWeg ging.Aufsässiger geworden
Dies änderte sich erst, als die Zeitungen Mitte der
nullerJahre unter ökonomischen Druck gerieten.
Erstensreduzierten sieaus Kostengründendie Zahl
der gedruckten Seiten;der ungekürzteAbdruckder
Verlautbarungen war nicht mehr möglich.Zweitens
orientierten sich dieRedaktionen fortan am Leser-
interesse, griffen Stammtischthemen auf undkon-
zentrierten sich bei politischenThemen stärker auf
Kritik an den Gemeindebehörden.ZumLeidwesen
manches Milizpolitikers sind dieRegionalzeitungen
unangenehmer geworden.
Publizistisch ist das aktivereVerhalten der
Zeitungen ein Gewinn und einer der wenigen
Lichtblicke in der allgegenwärtigen Misere. DenLeserschwund aufzuhalten, vermochte der Kurs-
wechsel aber nicht.Vielmehr führte der Leser-
rückgang letztlich zurAbschaffung der Amtlich-
keitspflicht. Die Zeiten, als man mit einemInse-
rat in derRegionalzeitung so gut wie jeden Haus-
halt erreichte,sind vorbei.
Die Gemeindebehörden sind nach wie vor daran
in teressiert, dass über ihre Erfolge berichtet wird.
Einige Gemeinden leisten sich mittlerweile eine
eigene Zeitung. Das geht so weit, dass manche Be-
hörden bestehende Zeitungen nur noch widerwillig
mit Informationen versorgen. ImFachblatt «Kom-
munalmagazin» wurde in einemeinschlägigenArti-
keleinGemeindeschreiberdahingehendzitiert,dass
der Austausch mit denJournalisten lästig und der
direkte Kanal effizienter sei. Esgibt sogar Gemein-
den,dieihreZeitungskostendurchInseratedesloka-
len Gewerbes zu decken versuchen und privateVer-
lage direktkonkurrenzieren – was stossend ist. Ge-
meinden,die an ihrem amtlichen Publikationsorgan
festhalten,setzennachwievorDruckauf.InDüben-
dorfverlangendiepolitischenParteienvom«Glatta-
ler» RaumfürGratispropaganda,wohlgemerktnicht
für lokale,sondern für nationale Belange.
Legitim ist das Bedürfnis der Behörden, die Be-
völkerung überrelevante Neuerungen zu informie-ren. Doch es ist ein schmaler Grat zwischen Infor-
mationund Nabelschau.Vor allem kanneine solche
Publikation dem Glaubwürdigkeitsproblem nicht
entrinnen. Sie vermag den Behörden den Spiegel
nicht vorzuhalten, denn wer zahlt, befiehlt.Fehlt
aber die Glaubwürdigkeit,fehltauch die Beachtung- ganz unabhängig davon, ob es sich um ein Print-
oder ein digitales Medium handelt.
Es gibt Modelle, die dieVerantwortung für die
Redaktion bewusst einem aus der Bevölkerung
gebildetenAufsichtsrat übertragen.Volketswil hat
diesenWeg gewählt. In derTheorie mag das folge-
richtig sein, in derPraxis führt dies unter ande-
rem zu umfassenden Schilderungen vonVereins-
ausflügen, die nur die direkt Beteiligten interessie-
ren.KonfliktträchtigeThemen werden kaum aufge-
griffen. Ob dies das gesellschaftliche Leben in den
Dörfern wirklich fördert und das Steuergeld so effi-
zient eingesetzt ist, ist fraglich. Mit einerKontrolle
politischerVorgänge hat dies jedenfalls ebenso we-
nig zu tun wie mit journalistischerFreiheit.
Unabhängig ist nur, wer wirtschaftlich unabhän-
gig ist. Entsprechend sorgenvoll muss es stimmen,
dass esregionalen Zeitungen nicht gelingt, ihr Ge-
schäftsmodell in die digitaleWelt hinüberzuret-
ten. Ankündigungen, die Inhalte liessen sich mo-
netarisieren, habensich noch immer nichterfüllt.
Zwar glückt es manchen Zeitungen, neue, jüngere
Leser im Internet zu gewinnen, aber bezahlen wol-
len diese für die Inhalte nicht.Dieses Problemken-
nen alle Medienhäuser, es trifft dieregionalen Zei-
tungen aber doppelt: Einerseits ist ihr Markt klein,
andererseits zeigen empirische Untersuchungen,
dass die Leute lokale Nachrichten zwar für wichtig
halten, ihre Zahlungsbereitschaft aber gerade dies-
bezüglich besonders gering ist.
Ein unappetitlicher Brei
Es wäre ein wenig vertrauenerweckendes Szena-
rio, wenn derregionale politischeJournalismus
in einem Informationsbrei aus Behördenpropa-
ganda,Kleinanzeigenund unpolitischenAufreger-
geschichten aufginge. Eine Studie der Universität
Zürich aus dem vergangenenJahr hat den Zusam-
menhang zwischen lokalen Zeitungsberichten und
Wahlbeteiligungaufgezeigt. Das leuchtet ein:Poli-
tische Prozesse müssen nachvollziehbar sein, wenn
man sich beteiligen soll.Somitverschärft sich durch
das Zeitungssterben auch die ohnehin schwierige
Suche nach politischemPersonal.
Am gewichtigsten ist derVerlust derKontroll-
funktion.Wer sich als Gemeindepolitiker aufführen
kann, wie er will, ohneöffentliches Echo fürchten
zu müssen, ändert seinVerhalten, und dies kaum
zum Besseren. Ein Zusammenhang zwischen der
Präsenz von Pressevertretern in Gerichts- oderPar-
lamentssälen undKorruption ist international in
empirischen Studiennachgewiesen.Werdie regio-
nale Presse liest, staunt manchmal, wie oft Kredit-
überschreitungen bei einemBauprojekt oder Be-
hördenwillkür selbst in den allgemein gut geführ-
ten Schweizer Gemeinwesen vorkommen.
Der Niedergang derRegionalpresse ist direkt
verknüpft mit dem schrumpfenden Interesse an
der dörflichenWelt. Viele Vereine sind hoffnungs-
los überaltert, Behördenämter lassen sich immer
schwerer besetzen, und selbst die Klimajugend
interessiert sich für dieWelt und nicht für das Dorf.
Mit staatlicher Medienförderung ist diesenTrends
nicht beizukommen. Sie führt zu unerwünschten
Abhängigkeiten und im schlimmstenFall zu pro-
blematischer Behördenpropaganda. Sinnvoll inter-
venieren kann der Staat nur indirekt. Erkönnte
beispielsweise mehr in die staatspolitischeAusbil-
dung seiner Bürger investieren. Die entsprechen-
den Fächer werden an Gymnasien, Sekundar- und
Berufsschulen kurzgehalten.Dass dasAusfüllen
des Wahlzettels für viele Erstwähler eine Überfor-
derung darstellt, zeugt von diesem Mangel.
Interessant ist, dass bei der Abstimmung in der
Stadt Uster eine Mehrheit für eineRückkehr zur
amtlichen Publikation stimmte, obwohl auch der
«Anzeigervon Uster» tendenziell einen Leser-
schwundver zeichnet. Man kann das positiv als
Zeichen werten, dass die Leute denWert lokaler
Medien anerkennen. Es erinnert aber auch ein we-
nig an den Quartierladen, über dessenVerschwin-
den sichLeut e wortreich ereifern, die dort nie ein-
gekauft haben. Letztlich liegt es am Einzelnen,
sich zu engagieren.