Neue Zürcher Zeitung - 25.10.2019

(vip2019) #1

16 SCHWEIZ Freitag, 25. Oktober 2019


Dürrenmatts Einsatz für die Meinungsfr eiheit


Vor 50 Jahren spendete der Schriftsteller se in Preisgeld einer Intellektuellenzeitschrift


Am 25. Oktober1969 erhält


FriedrichDürrenmatt den Berner


Literaturpreis – undreicht das


Preisgeld an denJournalisten


Paul IgnazVogel weiter. Dessen


Publikation «Neutralität» will


sich im Kalten Krieg weder links


nochrechts positionieren.


HANNAH EINHAUS


FriedrichDürrenmatt mag die Provo-
kation.Versammelt sitzt Berns gute
Gesellschaft am 25. Oktober1969 im
Stadttheater und wohnt derVerlei-
hung des ersten Berner Literaturpreises
bei. Dürrenmatts Schaffen ist weit über
die Schweizer Grenzen bekannt,seine
Theaterstücke werden sowohl in Ost-
als auch inWestdeutschland gespielt.
Auf Einladung des Schriftstellers tref-
fen auch – noch ahnungslos – der Publi-
zist Paul IgnazVogel, der Grossrat und
Dienstverweigerer ArthurVillard so-
wie der Minderheitenforscher Sergius
Golowin im Stadttheater ein. Zur Über-
raschung allerreicht Dürrenmatt sein
Preisgeld von15 000 Franken zu glei-
chenTeilen an die drei Männer weiter.
«Ich wusste von nichts und war ent-
sprechend perplex», erinnert sich der
heute 80-jährige Paul Ignaz Vogel.
Dürrenmatts Begründung:«Vogel tut,
was wir alle tun sollten: Er nimmt uns
und damit die Schweiz nicht alsAus-
rede, sondern ernst.»Vogel dankt dem
Schriftsteller dafür, «dass es ausser die-
sem feldgrauen Staat Eidgenossen-
schaft noch etwas Lebendiges gibt: die
Schweiz,ihre Demokratie».


Verweigerte Geschichtsdebatte


Paul IgnazVogel gehört zur Szene der
Nonkonformisten, die sich im Kalten
Krieg für Dialog undFrieden einsetzen.
Er leitet die von ihm1963 gegründete
Zeitschrift «Neutralität». Für Freidenker
und Pazifisten hat es in der damaligen
parteiorientierten Presse kaum Platz,
und so dauert es nicht lange, bis Litera-
ten wie MaxFrisch, Heinrich Böll,Paul
Nizon,Peter Bichsel oder OttoF. Wal-
ter fürVogel schreiben.Auch Dienstver-


weigerer – von der bürgerlichen Schweiz
gemeinhin als «Landesverräter» abge-
stempelt – kommen in der Zeitschrift
zu Wort. DieWaffe der Nonkonformis-
ten im Kalten Krieg ist die spitzeFeder.
Dürrenmatts symbolischer Akt im
Berner Stadttheater ist zweifellos eine
Anerkennung und Ermutigung dieser
unermüdlichen publizistischen Arbeit
der «Neutralität». Paul IgnazVogel er-
kennt darin rückblickend aber auch eine
Geste des schlechten Gewissens für die
fehlendeAutorisierung eines Interviews
aus demJahr 1966. Damals hat erDür-
renmatt in seinerResidenz bei Neuen-
burg besucht, um ihn über die unbe-
wältigteVergangenheit der Schweiz im
ZweitenWeltkrieg zu befragen.
Seit demVorjahr, also zwanzigJahre
nach Kriegsende, sind in der «Neutra-

lität» Beiträge zumThema erschienen,
etwa vonRolf Hochhuth,Fritz Bauer,
dem Generalstaatsanwalt in denFrank-
furterAuschwitz-Prozessen, oderWal-
ter Matthias Diggelmann, welcher der
Schweiz in «Die Hinterlassenschaft» eine
aktivereRolle im Krieg zuschreibt als ge-
meinhin angenommen.Auch MaxFrisch,
OttoF. Walter,Adolf Muschg oderPeter
Bichsel ergreifen dasWort.Bald aber sin-
nieren dieAutoren bloss noch, wieweit
Literatur sich mitrealer Geschichte be-
fassen soll. Die Debatte von der histori-
schenVerantwortung ist vomTisch, be-
vor sie richtig begonnen hat.
Und Dürrenmatt? Er, der 1941 einer
Frontisten-Bewegung angehört hat,
bleibt stumm. So besucht ihn alsoPaul
Ign az Vogel 1966, um auch seine Mei-
nung über die Schweiz während der

Nazizeit zu hören.Das Typoskript, das
Vogel Dürrenmatt anschliessend zur
Autorisierung schickt,kommt jedoch
nie zurück.Dürrenmatt «schuldet»Vo-
gel also auch noch1969 dieAutorisie-
rung von Antworten aufFragen zur
schweizerischenVergangenheitsbewälti-
gung.Die Ehrung im Berner Stadtthea-
ter interpretiertVogel bis heute als eine
Art Abfindung.

Bewegte Schweiz


Auch sonst verstummt der kurze Hype
um dieRolle der Schweiz im Zweiten
Weltkriegrasch. Eine umfassende Ge-
schichtsaufarbeitung setzt erst nach
Ende des Kalten Kriegs in den1990er
Jahren ein.Vogel kritisiertaber,dass bis
heute eine Erinnerungskulturüber die

Schweiz während des Nationalsozialis-
mus weitgehend fehlt.
Es sind nervöse Zeiten,als Dürren-
matt am 25. Oktober1969 sein Preisgeld
weiterreicht:Wenige Monate zuvor ist
der Flughafen Kloten zum Schauplatz
eines palästinensischenTerroranschlags
auf ein israelisches Flugzeug geworden.
Die Niederschlagung des PragerFrüh-
lings durch die Sowjets1968 ist noch
allgegenwärtig.Weltweit gehen Studie-
rende und die Neue Linke auf dieStras-
sen, um gegen die alte Gesellschafts-
ordnung aufzubegehren. Der Bundver-
schickt im September1969 das soge-
nannte Zivilverteidigungsbuch (ZVB)
in alle Haushalte. Es soll die Bevölke-
rung auf einen möglichen Atomkrieg
vorbereiten und warnt vorkommunisti-
schen Umtrieben. Die Kritik lässt nicht
lange auf sich warten, sehen sich neben
den Linken doch auch die Nonkonfor-
misten imVisier derRegierung.
In den letztenDezembertagen 1969
enthülltVogel mit seinemKollegen,
dem Schriftsteller Christoph Geiser,
dassArtikel aus den1930erJahren im
«ObwaldnerVolksfreund» antisemitisch
waren.Damaliger Chefredaktor istkein
Geringerergewesen als der inzwischen
amtierende Bundespräsident Ludwig
von Moos.Vogel zieht also gewisser-
massen eine direkte Linie vomanti-
semitisch-antikommunistischen«Volks-
freund» zum aktuellen ZVB. Die Reak-
tionen fallen gespalten aus. Die beiden
Journalisten haben aberhieb- und stich-
feste Beweise; ein Prozess wegen Ehr-
verletzung gegen sie scheint aussichts-
los.Gegen den seitJahren observierten
Paul IgnazVogel setzen nun aber von
staatlicher Seite verstärktRepressio-
nen ein, die seine Existenz, seineFami-
lie und die «Neutralität» beeinträchti-
gen und ihn auch gesundheitlich stark
belasten.
Erst 1995, mit derFreigabe sei-
ner Fiche, erhältVogel Einblick in die
Arbeitsweise des Staatsschutzes. Seine
Zeitschrift, die einst als Bühne der
Intellektuellen brillierte, ist längst Ge-
schichte. Dass die «Neutralität» in die
Bedeutungslosigkeit abglitt und 1974
eingestellt werden musste, siehtVogel
bis heute als eine «Abstrafung jener, die
ihre Meinungsfreiheit ernst nahmen».

Anerkennung für mutige Publizistik:Friedric hDürrenmatt,1969. PEYER / ULLSTEIN / GETTY

Lastwagenchauffeure zu Dumpinglöhnen engagiert


Zollbehörden decken Millionenbetrug auf – der Nutzfahrzeugverband fordert härtere Strafen im Kampf gege n illegale Billigtransporte


DANIEL GERNY, ERICHASCHWANDEN


Auf Schweizer Strassen findet seitJah-
ren ein knallharter Preiskampf statt.
Wer als Spediteur nicht billig fahren
kann, fährt derKonkurrenz hoffnungs-
los hinterher. AusländischeTranspor-
teure stellen für die schweizerischeAn-
bieter eine Bedrohung dar: Die Chauf-
feure in den Nachbarländern verdienen
rund 40 bis 50 Prozent weniger als in der
Schweiz.In Osteuropa liegen die Löhne
noch weit tiefer. Die Folgen des gna-
denlosenWettbewerbs zeigten sich am
Donnerstag: Die Eidgenössische Zoll-
verwaltung (EZV) meldete, ein Schwei-
zer Transportunternehmen habe seit
2017 illegal mit ausländischenFirmen
kooperiert. Nun fordert die EZV eine
Nachzahlung von über einer Million
Franken.Ausserdem droht derFirma
eine hohe Busse.
Hunderte vonFahrten hat das Logis-
tikunternehmen innerhalb der Schweiz
nicht selbst durchgeführt, sondern die
Ware durch billigereAnbieter aus dem
Ausland transportieren lassen.Dafür
wurden über170 Lastwagen und über
160 Auflieger eingesetzt – alle unver-
zollt.Das ist verboten. EineRegelung
mit demNamen Kabotageverbot unter-
sagt Ausländern,Waren undPersonen
innerhalb der Schweiz zu transportieren.
Es handelt sich dabei um eine Art flan-
kierende Massnahme für dasTransport-
gewerbe. DasVerbot istTeil desLand-
verkehrsabkommens mit der EU.


Die Branche setzte alle Hebel in Be-
wegung, um von diesem Privileg weiter-
hin profitieren zu können – vorerst mit
Erfolg: Laut Reto Jaussi, Direktor des
NutzfahrzeugverbandsAstag, konnte er-
reicht werden, dass das Kabotageverbot
auch beim Inkrafttreten desRahmen-
abkommens in Kraft bleibt. «Das war
eine zentraleForderung, die wir im Ge-
spräch mitBundesrat Ignazio Cassis ein-
gebracht haben», erklärtJaussi auf An-
frage der NZZ.

«Bussen müssenweh tun»


Umso mehr schadet es der Glaubwür-
digkeit der Branche, wenn Schweizer
FirmendiesesVerbot selbst aushebeln


  • und so ad absurdum führen. Der nun
    aufgedeckteFall ist bereits der zweite
    gravierendeVerstoss in diesemJahr:
    Im März erwischte die Zollverwal-
    tung einen anderen SchweizerTrans-
    portunternehmen, der mit vier auslän-
    discheFirmen über1500 verbotene In-
    landtransporte in der Schweiz durch-
    geführt haben.Tatsächlich «stellenFälle
    von Kabotage einen Schwerpunkt der
    Zollfahndung dar», wie EZV-Sprecher
    Michael Steiner gegenüber der NZZ
    bestätigt.
    David Piras, Generalsekretär der
    Chauffeur-Vereinigung Les Routiers
    Suisses, ist keineswegs überrascht, dass
    nun bereits wieder grosserFall aufge-
    de ckt worden ist: «Dies bestätigt,was
    unsere Mitglieder immer wieder be-


obachten: Sie sehen ausländischeFah-
rer, die Ladungen aufnehmen, die aber
höchstwahrscheinlich innerhalb der
Schweiz transportiert werden.» Der
Chauffeurvertreter stellt fest, dass die
Kantonspolizeien verschiedener Kan-
tone, darunter Bern,Zürich,Aargau und
St. Gallen,verstärktkontrollieren, ob
das Kabotageverbot eingehalten wird.
Doch längst nicht alle Kantone seien so
konsequent.
Auch Astag-DirektorJaussi fordert
ein hartesDurchgreifen und mehrKon-
trollen : «In Sachen Kabotagegilt für uns
Nulltoleranz.Ausserdem müssen die
Bussen erhöht werden, so dass es den
Fehlbaren wirklich weh tut.» Gegen-
wärtig liegen die Bussenansätze gemäss
Jaussi bei hundert bis rund1500 Fran-
ken. Der Nutzfahrzeugverband ist nicht
untätig geblieben und fordert seine Mit-
glieder auf,Verstösse gegen das Kabo-
tageverbot zu melden.
Solche Beobachtungen gibt es
durchaus. Im letztenJahr hatRoutiers
Suisses bei seinen eine Umfrage durch-
geführt. Die Ergebnisse sind alarmie-
rend:Insgesamt 73 von 98 Chauffeuren,
die auf denAufruf reagierten,gaben
an, dass sieVerstösse gegen das Kabo-
tageverbot festgestellt hätten.14 Fah-
rer meinten, dass dies täglich derFall
sei,25 gaben an,eskomme wöchentlich
vor, und 14 sagten, dass es monatlich
geschehe. 22 Chauffeure beobachteten
immer noch zwei- bis dreimal imJahr
solche Gesetzesverstösse. Eine Statis-

tik zuVerletzungen des Kabotagever-
botesführtdie Zollverwaltung nicht.
Umfragen unter einzelnenPolizeikorps
ergaben, dass proJahr einigeDutzend
solcherVerstösse zurAnzeigekommen.
«D ie Umfrage istkeineswegsrepräsen-
tati v», sagt Piras. In Tat undWahrheit
sei die Situation noch viel schlimmer.
Der Verband der Berufsfahrer fordert
deshalb schon seit langem schärfere
Kontrollen.

Auftraggeberbestrafen


Doch nicht nur von gewerkschaftlicher
Seite steigt der Druck auf die Zoll-
verwaltung. Auch das Gewerbe for-
dert ein härteresVorgehen:So stellte
CVP-Nationalrat ThomasAmmann im
Herbst 2018 in einemVorstoss dieFrage,
ob der BundVerstösse gegen das Kabo-
tageverbot engmaschig genugkontrol-
li ere. Der Nutzfahrzeugverband Astag
verlangte vom Bundesrat vor einem
Jahr, «endlich griffige undkonsequente
Kabotagekontrollen» durchzuführen
und höhere Bussen auszusprechen. In-
zwischen bezeichnet die EZV die Kabo-
tage «als einen der prioritären Krimina-
litätsbereiche». Der Bundesrat erachtet
die Kontrolltätigkeit beim Kabotagever-
bot allerdings als ausreichend, wie er auf
den Vorstossvon Ammann erklärte.
Auch bei den Personentranspor-
ten ist eine Zunahme von Billiganbie-
tern aus Osteuropa zu beobachten. So
hat die EZV hat imFebruar zwei Bus-

unternehmen erwischt, die während
dreiJahren fast 1000 verbotene In-
landtransporte durchgeführt hatten.
BeimNutzfahrzeugverband Astag wird
diese Entwicklung mit Sorge betrachtet.
Hier befürchtet man,dass das Kabotage-
verbot ohne striktesDurchgreifen der
Behörden schleichend ausgehöhlt werde


  • und auf Druck der EU trotz dender-
    zeitigen Zusicherungen bald ganz ab-
    geschafft werde. Die Branche warnt für
    diesenFall vor einereigentlichenLast-
    wagen-Lawine aus der EU.
    So beträgt der Bruttojahreslohn
    eines bulgarischen Fahrers gemäss
    einer Untersuchung des französischen
    Comité NationalRoutiers nurgerade
    3636 Euro. Hinzu kommen Sozial-
    beiträge und Spesen, so dassJahres-
    kosten für einen Chauffeurvoninsge-
    samt knapp16 000 Euro entstehen –
    ein Bruchteil desAufwandes fürFahrer
    aus Westeuropa. In der Schweiz ver-
    dien t ein LKW-Fahrer (Arbeitgeber-
    beiträge für Sozialversicherungen nicht
    mitgerechnet) gemäss Branchenaus-
    künften 70000 Franken im Jahr. Ein
    Wegfall des Kabotageverbotes hätte
    gemäss einer Ecoplan-Studie imAuf-
    trag der Astag zurFolge, dass vier bis
    zwölf Prozent derTransportleistung von
    in der Schweiz immatrikuliertenFahr-
    zeugen an ausländischeUnternehmen
    gingen. Gleichzeitig stiege wegen der
    tieferen Lohnkosten imAusland der
    Druck auf die Preise.Dadurch seien bis
    zu 3400Vollzeitstellen gefährdet.

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