Neue Zürcher Zeitung - 25.10.2019

(vip2019) #1

Freitag, 25. Oktober 2019 WIRTSCHAFT 29


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Ist die Schweiz gegen eine Rezession gewappnet?


Einer globa len Krise könnte sich das Land nich t entziehen – Ökonomen schätzen das Risiko eines Abschwungs derzeit aber als klein ein


NICOLERÜTTI


Die Situation sei heikel, hat die Chef-
ökonomin des Internationalen Wäh-
rungsfonds (IMF) bei der Präsentation
des jüngsten wirtschaftlichenAusblicks
festgestellt. Mit einer Zunahme von 3%
werde dieWeltwirtschaft im laufenden
Jahr voraussichtlich so schwach wach-
sen wie seit der globalenFinanzkrise vor
rund zehnJahren nicht mehr.
Auch in der Schweiz haben sich die
Industrieaktivitäten deutlich eingetrübt.
Als sehr offeneVolkswirtschaft mit klei-
nem Binnenmarkt bergen die globalen
Rezessionsgefahren erhebliche Risi-
ken. Wie ernst sind die steigenden Be-
fürchtungen zu nehmen?Könnte sich
die Schweiz einem globalen Einbruch
entziehen? Nein, sind sich die meisten
Ökonomen einig.Eine weitere Zuspit-
zung des Handelskonfliktes und vor
allem eineVerschärfung der Situation
in Europa – beispielsweise inForm von
erhöhten Handelszöllen aufAutoexpor-
ten in die USA – würde die Schweiz als
wichtigen Zulieferer hart treffen, ist
ChefökonomMartin Eichler vonBAK
Economics überzeugt.
Die Risiken seien ernst zu nehmen,
erklärt auch KarstenJunius, von der
Bank J. Safra Sarasin, an derBAK-Pro-
gnosetagung inBasel. In vielenLän-
dern sei ein synchroner Abschwung


der Industrieaktivitäten zu beobach-
ten. Der ausgesprochenschwacheWelt-
handel lasse auf eine zusehende De-
globalisierung schliessen. Ohne die
starke Pharmabranche und einen soli-
den Arbeitsmarkt würde vieles für eine
Rezession sprechen, führtJunius aus.

Eine Zombie-Wirtschaft?


Gleichwohl stufen die Ökonomen
das Risiko einer ernsthaften Krise als
eher bescheiden ein. DieWahrschein-
lichkeit einerRezession liege etwabei
25%, schätzt Eichler. Die Ökonomen
verweisen hierbei auf die ausgespro-
chenrobusten Arbeitsmärkte und soli-
den Konsumausgaben –nicht nur in
der Schweiz,sondernauch in den USA
oder Deutschland.
Dies hängt unter anderem damit zu-
sammen, dass der Dienstleistungssektor
sich bisher gut behauptet. Dieser be-
schäftigtinder Schweiz rund75%der
Arbeitskräfte. Aber auch in der Indus-
trie zeichnen sichkeine Massenentlas-
sung en ab. Die meisten Unternehmen
sind sich bewusst, dass einFachkräfte-
mangel besteht, und dürften in Anbe-
trachtder demografischen Entwicklung
davor zurückscheuen,Personal abzu-
bauen. Dies dürfte den wirtschaftlichen
Abschwung abmildern,lautet die Hoff-
nung der Ökonomen.

Ein weitererFaktor, der denKon-
junkturgang amLaufen hält, ist die ultra-
lockere Geldpolitik der Notenbanken.
Sie sorgt einerseits dafür, dass sichUnter-
nehmensowie auch Staaten weiterhin
zu günstigenKonditionenrefinanzieren
können.Andererseitsführt sie aber auch
zu immer gravierendenVerzerrungen,
hält unrentable Unternehmen am Leben,
behindert den Strukturwandel und för-
dert damit eine unheilvolle «Zombisie-
rung» derWirtschaft, ist StefanKooths,

Leiter des Prognosezentrums fürWelt-
wirtschaft in Kiel, überzeugt.
Wie gut aber wäre die Schweiz im
Falle einer Krise gewappnet? Man habe
bisher mit den bestehenden automati-
schen Stabilisatoren positive Erfahrun-
gen gemacht, meint Eric Scheidegger,
Leiter der Direktion fürWirtschaftspoli-
tik beim Staatssekretariat fürWirtschaft
(Seco). Die gut ausgebaute Arbeits-
losenkasse sorgt bei steigender Beschäf-
tigungslosigkeit für dieAufrechterhal-
tung der Kaufkraft.Auch Kurzarbeits-
programmekönnen helfen,die Arbeits-
losigkeit abzufedern.

FiskalischerSpielraum


Während der jüngstenFinanz- undWirt-
schaftskrise nutzten ab 2009 viele Be-
triebe dieMöglichkeit,Kurzarbeit für
ihre Mitarbeiter einzuführen.Das trug
massgeblich dazu bei, Stellen zu erhal-
ten.Als weniger zielführend gelten hin-
gegenKonjunkturpakete, die darauf ab-
zielen, denBau oder denKonsum zu
stützen. Ein grosser Teil vonkonsum-
fördernden Massnahmen käme weni-
ger der Schweiz zugute, sondern flösse
wohl inForm von höheren Importen
ins Ausland, erklärt Scheidegger. Im
Falle schwerwiegender Krisen bestehe
demgegenüber ein gewisser fiskalischer
Spielraum, beispielsweise zur Stüt-

zung der Arbeitslosenversicherung. Ei-
nig sind sich die Ökonomen jedenfalls
darin, dass die Unsicherheit sowie auch
die politischen Risiken derzeit gross
sind. An derTagung stellte sich jedoch
die Frage, inwiefernKonjunkturexper-
ten mit ihren Modellen überhaupt noch
in derLage sind,treffende Prognosen zu
erstellen. In der zurückliegenden Krise
haben die meisten Prognostiker schlicht-
weg versagt. Soräumt man auch beim
Secoein,die Rezession von 2009 zu spät
vorausgesagt zu haben. Im Gegenzug
gingen zahlreicheKonjunkturinstitute
nach derAufhebung des Euro-Franken-
Mindestkurses durch die Schweizeri-
sche Nationalbank 2015 davon aus,dass
di e Schweiz in eineRezession geraten
würde – doch diese blieb aus.

Prognosen sindschwierig


Ökonomen seien gut darin,eine Rezes-
sion zu prognostizieren, wenn diese
schon vorbei sei, resümierteJunius von
der Bank J. Safra Sarasin. Die grassieren-
den politischen Risiken und einschnei-
dende strukturelleVeränderungen – wie
die Digitalisierung, der Aufbruch globa-
ler Handelsketten und derTrend hin zu
lokalenWertschöpfungsketten sowie der
demografischeWandel – tragen jeden-
falls nicht dazu bei, die Arbeit der Pro-
gnostiker zu erleichtern.

Banken drängen auf


Ende der Negativzinsen


Bankiervereinigung fordert kritische Überprüfung


THOMAS FUSTER

Dass die SchweizerBanken wenig Ge-
fallen finden an Negativzinsen, ist we-
nig überraschend, führen diese doch zu
schrumpfenden Margen im Zinsdiffe-
renzgeschäft, was die Gewinne emp-
findlich schmälert. Nun verschärfen die
Finanzinstitute jedoch ihre Kritik an der
Politik des billigen Geldes. In einerStu-
die plädiert die SchweizerischeBankier-
vereinigung (SBVg) für eine Abkehr
vom zinspolitischen Krisenmodus. Mit
Blick auf dieKonjunktur, den Wechsel-
kurs und die Inflationsaussichten sei es
zweifelhaft, so der Branchenverband,
ob die Negativzinsen noch erforderlich
seien und dieerhoffteWirkung erzielten.

Nicht längerim Krisenmodus


Hierzulande ist es eher unüblich, dass
Wirtschaftsorganisationen die Poli-
tik der Schweizerischen Nationalbank
(SNB) direkt angreifen. Die Unabhän-
gigkeit der Notenbank geniesst einen
vergleichsweise hohen Stellenwert, was
sich im Allgemeinen in einer gewissen
Beisshemmung der Interessenverbände
spiegelt. Die SBVg betont denn auch,
dass man mit der neuen Studiekeines-
wegs die Unabhängigkeit der SNB, die
ein zentraler Pfeiler der hiesigenWirt-
schaftsordnung sei, infrage stelle. Doch
sei man überzeugt, dass ein öffentlicher
Diskurs und eine kritische Überprüfung
der Negativzinspolitik notwendig seien.
Laut der Bankiervereinigung war
die Einführung von Negativzinsen auf
SNB-Giroguthaben vor knapp fünfJah-
ren durchaus berechtigt. Seither hät-
ten sich aber die ökonomischenRah-
menbedingungen verändert: DerFran-
ken sei nicht mehr überbewertet. Die
Exporte hätten sich daher längst vom
Aufwertungsschock imJahr 2015 erholt
und würden wieder dynamisch zulegen.
Auch seien die Deflationsrisiken weit-
ge hend gebannt.
Für die SBVg steht daher fest: Die
Wirtschaft befindet sich nicht im Kri-
senmodus, und die Negativzinsen erfül-
len heute ihren wirtschaftspolitischen
Zweck nicht länger. Der Verband emp-
fiehlt daher,auch geldpolitisch einen
Ausstieg aus dem Krisenmodus einzu-

leiten. Dies vor allem deshalb, weil die
Nebenwirkungen und Risiken der nega-
tiven Zinsen immer grösser würden.
Die Bankiervereinigung verweist etwa
auf dieVerzerrungen am Immobilien-
markt, die Umverteilung von Sparern
zu Schuldnern, die Anlageprobleme der
Vorsorgewerke, die Anreize fürFehl-
investitionen und die psychologisch läh-
mendeWirkung eines Zinsniveaus, das
in derBevölkerung als «Krisenszenario»
wahrgenommen werde.
Diese schädlichen Nebenfolgen sind
sattsam bekannt. Fraglich ist, ob sie mit
einer Beendigung der Negativzinspolitik
allesamt verschwinden würden. Bei die-
ser Frage entkräftet dieBankiervereini-
gung ihren Appell für eine Abkehr von
den monetären «Notfallmassnahmen»
gleich selbst ein Stück weit.So betont sie
in ihrer Studie, dass die seit den1980er
Jahren in den Industrieländern gefalle-
nen Zinsen nicht primär eineFolge der
Geldpolitik seien, sondern strukturelle
Gründe hätten.Zur Untermauerung
verweist sie etwa auf das global gerin-
gere Wirtschaftswachstum, die Alterung
der Gesellschaften, die entsprechend
steigenden Ersparnisse für die Alters-
vorsorge,die tieferen Risikoprämien
und die zunehmende Ungleichheit bei
der Einkommensverteilung.

Strukturelles Problem


Die SBVg schreibt: «Angesichts die-
ses latenten, strukturell bedingtenTief-
zinsumfelds sind die politisch bestimm-
ten Negativzinsen vergleichbarmit der
Spitze des Eisbergs, die aus demWas-
ser ragt.Als ein Element der expansiven
Geldpolitikverstärken sie teilweise die
Auswirkungen der generell tiefen Zin-
sen.»Wenn das Bild zutrifft, liegt so-
mit die «Hauptschuld» für die niedri-
gen Zinsen nicht bei den Notenbanken.
Zwar bleibt es unter Ökonomen um-
stritten, ob die Niedrigzinsen primär
auf die Geldpolitik oder auf strukturelle
Gründe(z. B. eine globale Schwemme
von Spargeldern) zurückzuführen sind.
Doch ein Ende der Negativzinsen in der
Schweiz würde am globalenTiefzins-
umfeld wohlwenig ändern;und auch die
Ertragsprobleme der SchweizerBanken
wären nicht plötzlich verschwunden.

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