Neue Zürcher Zeitung - 25.10.2019

(vip2019) #1

40 FEUILLETON Freitag, 25. Oktober 2019


Die amerikanischePolit-Newcomerin Alexandria Ocasio-Cortez am Smartphone. SETH WENIG/AP

Die Politik der digitalen Intimität


Instagram verändert die Kommunik ation fundamental un d könnte Twitter ablösen


FELIX SIMON


«Es gibtkein Geheimrezept.Du musst
einfach nur gut darin sein, Dinge zu
erledigen», sagt die jungeFrau in die
Kamera ihres Handys, während sie in
einerKüche steht und Mac’n’Cheesezu-
bereitet. Im Hintergrund läuft Musik,
und immer wieder bricht sie in spon-
taneTanzbewegungen aus, während
ein Gewitter an verschiedenen Emo-
jis undKommentaren über ihren Bild-
schirm zieht.
Es ist der 9. November 2018. Bei der
jungenFrauhandeltessichnichtumeine
gewöhnliche Influencerin, die mit ihren
Followernkommuniziert, sondern um
die29-jährigeAlexandriaOcasio-Cortez.
Nur dreiTage zuvor hat sie dieWahl zur
demokratischenKongressabgeordneten
vonNewYorks 14.Distrikthaushochge-
wonnen.Jetztaberbeantwortetsiesoge-
lassenFragen zu ihrerPolitik und zum
Rezept, als ob man bei einer Dose Bier
mit ihr imRaum stünde.
Fast trügt dieLässigkeit über die
Tatsache hinweg, dass zu diesem Zeit-
punkt fast jeder in den USA ihren
Namenkennt. Das hat die NewYor-
kerin nicht nur ihrem spektakulären
Underdog-Wahlkampf zu verdanken,
sondern auch ihrer Art, mit Unterstüt-
zern undWählern zukommunizieren.
Wenn DonaldTrump der erste wahre
Twitter-Politiker ist, dann ist Ocasio-
Cortez unangefochten die erste Insta-
gram-Politikerin derWelt.


Plattformstatt Rednerpult


Die Politik hat Instagram für sich ent-
deckt und mit ihr eine neueForm der
Intimität – und das wirdFolgen haben
für die Art undWeise, wie Politiker
sich zukünftig präsentieren und mit der
Öffentlichkeit inKontakt treten.
Für viele jüngere Menschen hat es
Facebook als Plattform derWahl längst
abgelöst. Die Nutzung von Instagram
hat sich weltweitseit 20 15 etwa verdop-
pelt. Facebook undTwitter stagnierten
im Vergleich.Kein Wunder also, dass
sich auch diePolitik zunehmend für die
Plattform interessiert und viele auf den
fahrenden Zug aufspringen wollen.
Dass eine wahre Goldgräberstim-
mung herrscht,bestätigt auch Erik Bucy,
Professor für politischeKommunikation
an derTexas Tech University. «Politiker
werden sich zunehmend bewusst, dass
die Wähler nicht bereit sind, Zeit in die
Suche nachrelevanten Informationen
über ihrePolitik zu investieren,also ver-
suchen sie, die Menschen auf den Platt-
formen zu erreichen,die jene bereits für
andere Zwecke nutzen.»
Besonders in den USA ist dieser
Trend derzeit gut sichtbar.Vor den Prä-
sidentschaftswahlen 2020 hoffen viele
Kandidaten darauf, so besonders bei
der jüngerenWählerschaft zu punkten.
Im Wettre nnen um die demokratische
Nominierung sah man jüngst Elizabeth
Warren bei einem Bier von ihrer heimi-
schenKüche aus mitFans plaudern,wäh-
rend im Hintergrund ihr Mann durchs
Bild huschte.Auch GoldenRetriever
Bailey darf wiederholt auf dem Kanal
der Senatorin auftreten (Hunde gehen
immer). DerTexaner Beto O’Rourke
wiederum sendete nicht lange vor Be-
kanntgabe seiner Präsidentschaftskandi-
datur über Instagram Botschaften von
seinem Zahnarztbesuch. So kann Nähe
zur Basis eben auch aussehen.
Intimität undAuthentizität, oder zu-
mindest der Eindruck davon, sind auf
Instagram oft der Schlüssel zum Er-
folg. Die Plattform eignet sich hervor-
ragend, um sich als öffentlichePerson
zu präsentieren, deren Privatleben von
anderen gewissermassen «konsumiert»
werden kann.
Influencer interagieren mit ihrenFol-
lowern, als ob sie guteFreunde wären.
Scheinbar persönliche Momentewerden
geteilt und besprochen, dieFans dürfen
hinter dieKulissen blicken – oder wer-
den zumindest in dem Glauben gelas-
sen.Diese strategische Intimität,wie die
Medienwissenschafterin AliceMarwick
argumentiert, wird von Influencern oft
eingesetzt, um besser anzukommen und


die eigene Beliebtheit zu steigern.Wen
überrascht es da, dass auchPolitiker auf
diesenTrichter gekommen sind?
Doch was bei O’Rourke undWar-
ren zumTeil arg gestelzt wirkt,kommt
bei jemandem wie Ocasio-Cortez natür-
lich rüber. Im Gegensatz zu vielen ande-
ren Politikern hat sie den einzigartigen
Kommunikationsstil Instagrams voll-
ends übernommen.Während beiKolle-
gen oft die Mitarbeiter posten und Bil-
der von professionellenFotografen auf-
genommen werden, nimmt das jüngste
Mitglied desKongresses die Dinge noch
gerne selber in die Hand.
Wie kaum jemand nutzt sie die Un-
mittelbarkeit undVergänglichkeit von
Live-Chats und «stories», um Intimität
undAuthentizität zuerzeugen und soihr
Unterstützernetzwerk zu erweitern.Un-
verblümt und oft mit einemAugenzwin-
kern zeigt sie auf Instagram den Alltag
im amerikanischenKongress und wie es
sich anfühlt, als Newcomerin Washing-
ton unterwegs zu sein.
IhreAnhänger bekommenso das
Gefühl, sie würden in ihr Leben einge-
laden.Der Erfolg gibt der jungenAbge-
ordnetenrecht.Instagram hat es Ocasio-
Cortez erlaubt,sich ihre eigene loyale
Zuhörerschaft zu schaffen und so die
Maschinerie der DemokratischenPar-
tei und derFernsehsender zu umgehen


  • die deswegen nur umso mehr an ihr
    interessiert sind.


Illusion der Authentizität


Ob das allesreal und «wirklich authen-
tisch» ist, mag dabei alsFrage spannend
sein, ist aber als Kritik wenig hilfreich.
Natürlich bestimmt Ocasio-Cortez am
Ende grösstenteils dieRegeln der pa-
rasozialen Interaktion mit ihrenFans.
Der freie Fluss der Unterhaltung ist zu
einem gewissen Grad eine Illusion. Sie
entscheidet, wen sie ignoriert und wem
sie antwortet,wie lange ein Live-Stream
andauert und was sie in ihren Bildern
und Videos (nicht) zeigt.
Bei jederForm vonKommunikation
mit anderen handelt es sich um einePer-
formance, bei der wir je nach (imaginier-
tem) Publikum verschiedene Aspekte
herauskehren – auch wenn wir imKern
wir selber bleiben.Aus anthropologi-

scherPerspektive sind alle Aspekte
unserer Identität und Kommunika-
tion intrinsisch vermittelt durch kultu-
relle und soziale Normen. Es gibtkein
wahrhaft «authentischesAusserhalb» –
weder auf Instagram noch mitFreunden
im C afé an der Ecke.

Bedeutung fürdie Demokratie


Im Wesentlichen handelt es sich auch
bei der zunehmenden Beliebtheit von
Instagram unterPolitikern nur um eine
weitere Stufe in der natürlichen Ent-
wicklung der politischenKommunika-
tion vomRednerpult zu neuenTech-
nologien wie dem Smartphone. Politi-
ker, die solche Entwicklungenmeistern,
haben einenVorteil gegenüber Geg-
nern, die diese nicht zu schätzen wissen.
Ob derWandel gut für die Demokra-
tie ist,läss t sich gegenwärtig nur schwer
beantworten. Etwas wird anders sein,
so viel steht fest. Der neue diskursive
Stil dürfte zum einen Menschen näher
an diePolitik heranbringen undPoliti-
ker menschlicher machen – mit positi-
ver Wirkung für beide Seiten.
Auch Becca Lewis, die in Stanford
und amData & Society Institute in New
York forscht,sieht diese Möglichkeit,ist
jedoch skeptisch: «Instagram birgt so-
wohl dasPotenzial für positives politi-
sches Engagement als auch für schäd-
lich e Manipulationen. Positiv ist, dass
es Politikern helfen kann, näher an die
Wähler zu rücken. Vor allem durch die
Story-Funktion können sie ausführ-
lich über diePolitik sprechen, die ihnen
wichtig ist.Auf der anderen Seitekön-
nen Plattformen wie Instagram Cha-
risma- und Geltungsdrang über einen
echten politischen Dialog stellen. Und
si e können bestimmten Akteuren hel-
fen, Desinformationen zu verbreiten
sowie extremistisches Gedankengutund
radikaleFiguren durch Influencer-Takt-
iken zu normalisieren.»
Erik Bucy zweifelt ebenfalls.«Soziale
Netzwerke wie Instagram ermöglichen
es den Kandidaten auch, intensive poli-
tische Diskussionen zu vermeiden und
sich selber eine grössere Attraktivität
zu verleihen. Obwohl interaktiver und
scheinbar authentischer, umgehen diese
neuenFormen derWähleransprache die

traditionellen Medien und verringern
die Rolle derJournalisten als öffent-
licheWächter undVermittler. In gewis-
ser Weise stellt dieseVerlagerung auf
sozialeKommunikationsformen eine
grössere Schwierigkeit für den Einzel-
nen bei der Bewertung und Beurteilung
von Kandidaten dar, obwohl dies wahr-
scheinlich nicht so gesehen wird.»
Am Ende ist aber auch Instagram
nur das neueste Beispiel einer Indivi-
dualisierungstendenz in derPolitik, be-
feuert durch neueTechnologien.Für
diejenigen,die sich in den sozialen Netz-
werken wie einFisch imWasser bewe-
gen, ist es ein Glücksfall, erlauben diese
ihnen doch im Zweifelsfall auch ausser-
halb der etabliertenParteistrukturen
den politischenAufstieg.

Gut möglich, dass in diesem Prozess
auch einige auf der Streckebleiben und
eine ständig wachsende Ungleichheit
zwischenPolitikern entsteht. Immerhin:
Die naiveVorstellung von einst, dass
durch soziale Netzwerke nur demokra-
tischeKräfte profitierten, ist im öffent-
lichen Diskurs mittlerweile ad acta ge-
legtworden.NichtnurdieOcasio-Cortez
dieserWelt können Social Media, son-
dern eben auch die Bolsonaros,Trumps
und Dutertes.Esgibt wissenschaftliche
Hinweise darauf, dass sie sogar überpro-
portional stark davon profitieren.
InZukunftwerdenmehrPolitikeraller
Couleur das volle Spektrum von Insta-
gram nutzen, um sich selber zu promoten
und sich zu propagieren.VisuelleKom-
munikationist bereits jetzt ein politisches
Schlachtfeld.Und der Kampf um die Prä-
senzhoheit hat gerade erst begonnen.

Wer will denn


hier wohnen?


Von der Lektüre der Landkarten
wird dringend abgera ten

PAUL JANDL

Manchmal möchte man ja einfach nur
woanderssein:Amerika,Brasilien,Ägyp-
ten, Übersee! Oder Schwarzindien.Weit
ist es ja nicht.Amerika liegt in Sachsen,
Brasilien in Schleswig-Holstein, Ägyp-
ten in Niedersachsen und Übersee in
Bayern. Schwarzindien liegt in Öster-
reich. Inder sieht man dort nur alsTou-
risten.SiemachenFotosvonsichundden
schneebedeckten Bergen rundum.Noch
am Ortsschild laden sie die Bilder in die
indische Heimat hoch. Oder auf Insta-
gram. Instagram ist Grinstagram.
Wir machen dieWelt, wie sie uns
gefällt. PflanzenBäume, bauen Häu-
ser und gründen die eine oder andere
Familie.Wir erträumen uns ein sächsi-
sches Amerika, ein norddeutsches Bra-
silien und ein Ägypten zwischenKuh-
weiden.Wir wohnen auch in Orten mit
schlimmen Namen.Man kann in Lieblos
leben,in Quälhof, Darmstadt, Magen-
bruch und Nazibühl.Wer will das?
Wie lebt es sich in Hackpfüffel, Hun-
deluft und Oha? InFull,Gling, Bschlaps
und Grins? Sichergibt es stolze Bschlap-
ser, und man feiert gern inFull.Wer aus
Grins ist,sagt : Ich bin ein Grinser. Es
gibt auch einen Ortsteil namens Pups.
Da lacht derFulpmerer ausFulpmes
unter seinemTirolerhut hervor. Die
schlichten Gemüter freuen sich an
Namen wiePoppendorf,Tunten- oder
Tussenhausen. Im Schutz der Nacht
dringen ganze Gruppen dieser Ge-
mütsgüteklasse in ländliche Gegenden
Bayerns und Österreichs vor, um in Kis-
sing, Petting undFucking die Ortsschil-
der abzumontieren.Die werden dann zu
Hause übers Sofa gehängt. Man möchte
diesen Leuten sagen: Es gibt auch Orte,
die Elend heissen. Hängt euch das doch
einmal übers Sofa!
Wer auf dieLandkarten schaut, der
sieht das menschliche Leben mit all
sei nen Schattenseiten vor sich. Erst
Weitewelt und Fleischessen, dann Prü-
gel , Ekel, Drogen, Notschrei, Schmerz,
Sorge,Altenteil undFegefeuer. Zuletzt:
Hölle. Bei den Bewohnern von Prügel,
Ekel,Fegefeuer und Hölle gehtes wahr-
scheinlich nicht weniger gemütlich zu
als in Hamburg,München oder Zürich.
Aber es bleibt ein unguterRest.
Der Mensch baut sich Häuser in klei-
nen Dörfern, damit er es dort schön hat,
aber diese Dörfer tragen oft sehr trau-
rige Namen. Sie heissen Edelschrott
oderÄussere Einöde. Wemdie Äussere
Einöde noch nicht traurig genug ist,der
zieht gleich in den Nachbarort.In die In-
nere Einöde.
Ob die Bewohner im österreichi-
schen Grossklein auf die Nachbarn aus
Kleinklein herunterschauen?Das wäre
der Gipfel der Kleingeisterei. Apropos
klein. Im deutschen Pixel wohnen nicht
mehr als ein paar Leute. Nur 74 Einwoh-
ner hat derTiroler Ort Namlos. Man
denkt sich: zuRecht! Wer sich nicht ein-
mal die Mühe macht, einen Namen für
ein Dorf zu finden, darf sich nicht wun-
dern, dass danndort niemandwohnen
will. Die NewYorker haben sich ja auch
Gedanken gemacht. Mit Erfolg!Aus
Hansurchensepes oder Hosenruck in
der Schweiz wäre vielleicht auch mehr
geworden, wenn man etwas globaler
agiert hätte.
Etwas over the top ist das schwei-
zerische Ecce Homo. Ein Nagelstudio
in Ecce Homo hätte allerdings wie-
der etwas. Das wäre sogar noch besser
als ein Nagelstudio in Gabi (Simplon).
Oder ein Clownszubehörgeschäft in
Schabernack (Bayern). Und was muss
man sich zu Allzunah denken? Oder
etwa zu Siehdichum?Da will man gar
nicht erst hin.Auch nicht nach Hühner-
geschrei. Nicht nachAua, Leiden, Nie-
sen, Husten und Siechen.Dann doch
gleich nach Sterbfritz.
Es gibt aber auch Optimisten unter
den Namensgebern. Ein Hoch auf die,
die ihren OrtParadies (Baden-Würt-
temberg undThüringen) nennen. Oder
Tausendblum (Niederösterreich). Noch
viel schlichter und verheissungsvoller
allerdings ist ein oberbayrischer Ort. Er
heisst Antwort. Hier müsste man woh-
nen. Hier wäre man angekommen.

«Instagram birgt
sowohl das Potenzial
für positives politisches
Engagement als auch
für schädliche
Manipulationen.»

BeccaLewis,Forscherin
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