Freitag, 25. Oktober 2019 INTERNATIONAL
Ausgekraxelt am Uluru
Dass das Besteigen erst jetzt verboten wird, sagt viel über Australiens Haltung zu seinen Ureinwohnern aus
ESTHER BLANK,SYDNEY
- Oktober1985:Frauen tanzen imWüs-
tenstaub vor demrotenFelsen Uluru im
ZentrumAustraliens. Ihre dunklenKör-
per sind mit breiten weissenundroten
Streifen bemalt, weisseFedern schmü-
cken ihre Haare und Handgelenke. Ge-
sang und das rhythmische Klicken der
Schlaghölzer begleiten sie. DieFrauen
sind die traditionellen Hüterinnen einer
heiligen Stätte, die mit einem wichtigen
Teil ihrer Tjukurpa, ihrer Entstehungs-
geschichte, verbunden ist.
Sie erzählen die Geschichte ihrerVor-
fahren, derKunia, der Pythonschlangen-
menschen, die neben der kleinen Quelle
amFusse des Uluru lebten. Die langen
Rillen, die man oben auf demFelsen se-
hen kann, sind die Pfade derKunia.Das
Geröll um dasWasserloch sind dieKunia
selbst. Die tiefen Löcher und die Spalten
auf demFelsen dahinter sind die Spuren
einesschrecklichen Kampfes.
Der Geist derVorfahren ist für die
Aborigines auch heute noch in der hei-
ligen Stätte gegenwärtig und wird durch
Zeremonien aktiviert. Überall an und
auf dem 350 Meter hohen Monolithen
im HerzenAustraliens befinden sich hei-
ligeStätten der australischen Ureinwoh-
ner. Die Entstehungsgeschichtenver-
binden die vielen indigenenVölker des
Kontinents überTausende Kilometer.
Umstrittene Rückgabe
1985 wurde die grosse Bedeutung des
Uluru für die über 60 000 Jahre alte
Kultur der Ureinwohner anerkannt. Die
tanzendenFrauen feierten die «Rück-
gabe» ihres Heiligtums an die traditio-
nellen Besitzer. Im Gegenzug erklärten
sich diese bereit, Uluru und Umgebung
alsTeil eines Nationalparks für Besu-
cher zugänglich zu machen. Sie baten
jedoch alleTouristen, auf das Besteigen
des Uluru zu verzichten. ImLaufe der
Jahre haben immer mehr Besucher dies
respektiert: 2018 verzichteten 84 Pro-
zent von ihnen darauf, den Berg zu er-
klimmen. Ab dem 26. Oktober ist das
Hinaufsteigen nun offiziell verboten.
DieRückgabe des Uluru war von
Anfang an umstritten.VielePolitiker
sprachen indigenenAustraliern grund-
sätzlich jedeKultur und jedesRecht
aufLand ab. Die nationalistisch-popu-
listische Politikerin Pauline Hanson
reagierte empört auf die Pläne, das Be-
steigen des Uluru zu verbieten: DerFels
gehöre allenAustraliern,nicht nur den
Ureinwohnern. Mit einem Kamerateam
reiste sie zum Uluru und begann, ihn
demonstrativ zu besteigen.Allerdings
gab sie nach vierzig Metern auf, da der
Fels zu steil für sie war.
Hansons nationalistische Anhänger
hat das jedoch nicht entmutigt. In Scha-
ren hangeln sie sich nach dem Motto
«jetzt erstrecht» den Uluru hinauf.
Dort verrichten sie ihre Notdurft, wer-
fen Abfall und Essensreste weg. Hotels
und Campingplätze rund um den Mono-
lithen sind ausgebucht. Die Bitten der
Ureinwohner, ihre heiligen Stätten zu
achten, werden völlig ignoriert.
Mehr als 200Jahre nach der Ankunft
derersten Europäer auf demaustrali-
schenKontinent ist das Unwissen vie-
ler nichtindigenerAustralier über die
Ureinwohner, derenKultur und die ge-
meinsame Geschichte immer noch sehr
gross. Diese Geschichte begannmit der
Landung der ersten britischen Siedler
und Sträflinge. Massaker und Krank-
heitenreduzierten die Urbevölkerung
auf knapp 60 000. Obwohl ursprünglich
rund 750 000 AboriginesAustralienbe-
wohnten, betrachteten die britischen Er-
oberer dasLand als «terra nullius», als
unbewohnt.
Erst seit1967 werden die Ureinwoh-
ner beiVolkszählungen überhaupt als
Menschen und australische Bürger ge-
zählt. Und selbst dies gelang nurnach
einem hart erkämpftenReferendum.
Erst seit einer Entscheidung des höchs-ten Gerichts1992 haben die Ureinwoh-
ner einRecht auf eigenesLand. Und
es ist nur gerade elfJahre her, dass der
damalige PremierministerKevinRudd
bei allen indigenenAustraliern umVer-
gebung bat für das ihnen zugefügte Un-
recht.Trotzdem weigern sich viele nicht-
indigeneAustralier noch immer, diese
schmerzhafte Geschichteanzuerkennen.Viel tiefere Lebenserwartung
IndigeneAustralier machen heute rund
3,3 Prozent der Bevölkerung aus. Sie
sind immer noch stark benachteiligt: Ihre
Lebenserwartung ist achtJahre kürzer
als die nichtindigenerAustralier.Trotz
ihrem geringen Bevölkerungsanteil ma-
chen sie einenViertel der Gefängnis-
insassen aus. Fast 22 Prozent der austra-
lischen Obdachlosen sind Aborigines,
jeder fünfte Ureinwohner ist arbeits-
los.Viele leben in abgelegenen Siedlun-
gen in überfüllten, baufälligen Häusern.
Alkoholsucht und Drogenkonsum gras-
sieren, und Ärzte bezeichnen die Zahl
der Selbstmorde unter jungen indigenen
Australiern als eineTr agödie.
Doch es gibt auch Zeichen der Hoff-
nung. Immer mehr junge Aborigines er-
halteneine Schulbildung und studieren.Sie setzen sich alsRechtsanwälte, Leh-
rer, Ärzte, Politiker undKünstler für ihre
Völker ein. Sie schliessenVerträge mit
Rohstoffkonzernen und gründen Unter-
nehmen. Indigene Historiker schreiben
ihre eigene Geschichte. Sie beschuldigen
Australien des versuchtenVölkermords
an der Urbevölkerung.
2017 trafen sich HunderteVertreter
der Ureinwohner aus ganzAustralien zu
einerKonferenz amFusse des Uluru, der
sie alle verbindet. Gemeinsam erarbeite-
ten sie einKonzept für eine in derVer-
fassung verankerte «Stimme der Urein-
wohnerAustraliens». Sie verlangen eine
Vertretung der indigenenAustralier im
Regierungssystem und eine ehrliche
Aufarbeitung der Geschichte desLan-
des. Doch vonseiten derPolitiker gab es
bisher nurvageVersprechungen.
Der erste indigene Minister, Ken
Wyatt, hatangekündigt,erwerde der
Regierung vorschlagen, dass die Urein-
wohner in derVerfassunganerkannt
werden sollen.Dafür ist eine natio-
nale Volksabstimmung nötig. Aller-
dings spricht sichWyatt gegen eine in
derVerfassung verankerte Stimme der
Aborigines aus. Er glaubt nicht daran,
dass dies die Mehrheit der Bevölkerung
unterstützen würde.Touristenverfolgen den Sonnenuntergang am Uluru.Ab dem 26. Oktober ist dasBesteigendes Bergesverboten. LUKAS COCH /EPAIlham Tohti
erhält den
Sacharow-Preis
Entscheid des EU-Parlaments
dürfte für Ärger mit China sorgenPATRICK ZOLLDer uigurische Professor IlhamTohti,
der in China eine lebenslängliche Haft-
strafe absitzt, erhält denrenommierten
Sacharow-Preis des Europaparlaments.
Tohti habe sich fürein besseresVerständ-
nis zwischen der uigurischen Minderheit
und den dominierenden Han-Chinesen
eingesetzt, sagte derParlamentspräsi-
dentDavid Sassoli am Donnerstag in
Strassburg.Das Europaparlament for-
dertTohtis sofortigeFreilassung. China
müsse dieRechte von Minderheiten
respektieren, sagte Sassoli.
Mit derAuszeichnung des Uiguren
Tohti sticht das europäischeParlamentin
ein politischesWespennest.China weist
jegliche Kritik an der Situation in Xin-
jiang von sich,wodie Uiguren die grösste
Bevölkerungsgruppe sind. Peking be-
trachtet Bemerkungen zur dortigen
Menschenrechtslageals Einmischung
in seine inneren Angelegenheiten.Pekingweiss von nichts
Auf Anfrage der Nachrichtenagentur
Reuters schrieb das chinesischeAus-
senministerium, man wisse nichts über
diesen Preis:«Was wir wissen, ist, dass
Ilham ein Krimineller ist, der von einem
chinesischenGerichtrechtmässig ver-
urteilt worden ist.» Man hoffe,dass
alle Seiten Chinas interne Angelegen-
heiten undRechtsprechungrespektier-
ten, hiesses weiter.
DieReaktion derRegierungkönnte
in den nächstenTagen aber noch schär-
fer ausfallen. Als das norwegische
Nobelkomitee 2 01 0 dem chinesischen
Dissidenten Liu Xiaobo denFriedens-
nobelpreis verlieh, legtePeking die Be-ziehungen zu Oslo zunächst auf Eis. Im
Gegensatz zum Nobelkomitee ist das
Europaparlament allerdings eine offi-
zielle Institution der EU.
Tohti wurde 20 14 wegen «Separatis-
mus» zu einer lebenslangen Haftstrafe
verurteilt.Laut Anklage soll derWissen-
schafter,der an einerPekinger Universi-
tät lehrte, seine Studenten aufgewiegelt
undKontakte zu terroristischen Orga-
nisationen gepflegt haben.Tohti bestritt
dieVorwürfe. Für Kenner derLage und
BekannteTohtis waren dieVorwürfe
absurd. Denn derWirtschaftsprofessor
hatte sich stets für das friedliche Mitei-
nander zwischen verschiedenen Ethnien
in China eingesetzt und für gegenseiti-
genRespekt geworben.
DerFall IlhamTohti betreffe grund-
legende internationale Fragen und
Menschenrechtsanliegen, schreibt das
Europaparlament in der Begründung
der Preisvergabe: «Es geht um dieFör-
derung gemässigter islamischerWerte
angesichts einer staatlich gelenktenreli-
giösen Unterdrückung, die Anstrengun-
gen zurAufnahme eines Dialogs zwi-
schen einer muslimischen Minderheit
und einer nichtmuslimischen Mehr-
heitsbevölkerung und die Unterdrü-
ckung gewaltfreien Protests durch einen
autoritären Staat.»Repression verschärft
Seit derVerurteilungTohtis hat die chi-
nesischeRegierung dasRegimein Xin-
jiang massiv verschärft. DieBevölke-
rung wird auf Schritt undTr itt über-
wacht.Vor eineinhalbJahren wurde be-
kannt, dass schätzungsweise mehr als
eine Million Menschen – vorwiegend
Uiguren, aber auch Angehörige ande-
rer ethnischer Minderheiten – fest-
genommen und in Umerziehungslager
ge bracht wurden.IlhamTohti
AP Sacharow-Preis-TrägerEmmanuel Macron geht kein Risiko mehr ein
Der französische Präsident schlägt den ehemaligen MinisterThierry Breton als EU-Kommissar vor
RUDOLF BALMER,PARIS
Beim zweiten Anlauf willFrankreichs
Präsident Emmanuel Macron auf Num-
mer sicher gehen. Mit demVorschlag
vonThierry Breton als EU-Kommissar
fürdie erweiterten Zuständigkeitsberei-
che Binnenmarkt, Industriepolitik und
Verteidigungsindustrie gehtFrankreich
nicht wie zuvor beiSylvie Goulard das
Risikoeiner Ablehnung ein.
Goulard, Macrons ersteWahl für den
Posten, war bei ihrer zweiten Anhörung
im EU-Parlament durchgefallen. Gegen
sie laufen Ermittlungen betreffend eine
Scheinbeschäftigungsaffäre. ImLebens-
lauf, den der nun nominierte Breton den
EU-Abgeordneten vorlegen kann, fin-
den sichkeine Hinweise aufVerwick-
lungen inFinanzaffären oder hängige
Ermittlungen.
Erfahrung in der Industrie
Breton, der derzeit das Software- und
Service-Unternehmen Atos leitet, war-
tet mit einer Karriere sowohl in der staat-
lichen wie auch in der privatenWirt-
schaft auf. Er hat denRuf, die von ihm
geführten Unternehmen modernisiert zu
haben.Von den französischen Gewerk-
schaften brachte ihm das auch Kritik
ein. Sie sahen Breton bei seinerFührung
der UnternehmenThomson oderFrance
Télécom als «Cost-Killer», der nicht vor
dem Abbau von Arbeitsplätzenzurück-
geschreckt sei.Auch alsWirtschafts- und
Finanzminister unter PräsidentJacques
Chirac in denJahren von 2005 bis 2007
trat Breton für eine Senkung der Staats-
ausgaben ein. Bei seinem Amtsantritt
2005 hatte er erklärt:«Frankreich lebt
über seineVerhältnisse.» Die EU, die auf
dieEinhaltung der Maastricht-Kriterien
drängte, applaudierte.
Breton ist freilichkein Buchhalter,
sondern Elektronikingenieur. Er inter-
essiert sich vorab für die zukunfts-
gerichtete Entwicklung der Informatik
sowie für die Digitalisierung derKom-
munikation und der Dienstleistungen in
Unternehmen.Eine seiner frühestenAufgaben be-
stand in derKonzeption desTechnolo-
gie-VergnügungsparksFuturoscope in
Poitiers. Danach war er bei der Sanie-
rungvon Informatik- und Elektronik-
firmen wie CGI, Bull oderThomson be-
teiligt. 2004 leitete er diePrivatisierung
desStaatsunternehmensFranceTélé-
com (heute Orange). Seit 2009 ist Bre-
tonVorsitzender von Atos, in das er suk-
zessive Siemens IT Solutions,den frü-
heren Computerkonzern Bull oder Be-
reiche des Druckerherstellers Xerox
integriert hat. Er startete dort auch ein
Programm zur Entwicklung von Quan-
tencomputern.Schlüsselposten sichern
Was für Präsident Macron bei Bretons
Nominierung wohl am meisten zählt, ist
eine Kandidatur, die es ihm erlaubt, den
ursprünglich fürSylvie Goulard mass-
geschneiderten Schlüsselposten in der
Kommission mit weitgehendenKom-
petenzen fürFrankreich zu sichern. Esgeht ihm dabei auch um seinen Einfluss.
Ein geschrumpfterPosten in derKom-
mission fürFrankreich wäre für Macron
nach dem Scheitern von Goulardim
Examen eine zweite und noch schlim-
mere Niederlage.Nachfolge bereitsgeregelt
Die Gefahr eines solchen Desasters
dürfte dank der Nominierung von Bre-
ton gebannt sein. Allerdings gab es auch
nicht viele Alternativen: Wirtschafts-
minister Bruno Le Maire wollte nicht,
und derderzeitige Brexit-Chefunter-
händler MichelBarnier war für Macron
zu sehr mit derkonservativenFraktion
inFrankreich und der EU liiert.
Bevor er sein Amt in Brüssel antre-
ten kann,mussder 64-jährige Breton den
Vorsitz des von ihm geführten Unterneh-
mens Atos niederlegen. DieTatsache,
dass bei Atos bereits die Nachfolge orga-
nisiert worden ist, deutetdarauf hin, dass
Breton MacronsVorschlag, für ihn nach
Brüssel zu gehen, akzeptiert hat.