50 WOCHENENDE Freitag, 25. Oktober 2019
Wo ist
die Lodde?
DerkleineFisch ist rundumIsland
verschwunden –ein schlechtesZeichen.
Nicht nur die Fischer habenGrund zur Sorge.
Das KlimasystemArktis gerät aus den Fugen.
Ein Besuch am Rande des Packeises.
VONANJA JARDINE
«Irgendwas passiert mit ihr»,sagt Sigur-
geir Kristgeirsson, genannt Binnie. Er
sitzt an dem wikingerhaften, dunkel-
braunenKonferenztisch und blickt be-
sorgt auf die an dieWand projizierte
Statistik neben dem in Öl gemaltenPor-
trät desFirmengründers. «Wirkönnen
sie einfach nicht finden.» Binnie spricht
von der Lodde,einem kleinenFisch, der
in riesigen Schwärmen auftritt; seitMen-
schengedenken bevölkert er die Gewäs-
ser rund um Island. Im bestenJahr be-
trug derFang 1,6 MillionenTonnen, letz-
tesJahr war die Quote null, diesesJahr
auch –keinFisch, keine Quote.Man
könnte fast meinen, die Lodderäche
die Makrele.
Binnie ist Geschäftsführer vonVinns-
lustödin (VSV), einemFischereibetrieb
mit 300Mitarbeitern auf denWestmän-
nerinseln vor der Südküste Islands. Der
Firmensitz im Hafen von Heimaey liegt
gleich neben der firmeneigenenFisch-
fabrik und der Anlegestelle dersie-
ben Hochleistungsschiffe. DerTr awler
«Breki»ist die neueste Errungenschaft
und Binnies Stolz: Der kleine, kompakte
Kraftprotz hat einen Propeller von fast
fünf MeternDurchmesser und kann zwei
Fangnetze gleichzeitig bis zu 500 Meter
tief durch die See schleppen. Um halb
fünfandiesem Morgenwar«Breki» von
einer zweitägigenFahrt zurückgekehrt
und hatte seinen üppigenFang unter
dem freudigen Geschrei der Möwen ge-
löscht. Immer mehr Seelachs undRot-
barsch wurde aus demBauch des Schif-
fes befördert. Die Sonne war gerade auf-
gegangen, auf denrötlichenFelsen, die
den Hafeneinrahmen, leuchteten Pla-
teaus wie grüner Samt, darunter die tief-
blaue See – man wollteFischer sein auf
Vestmannaeyjar. Die Szene liess verges-
sen, unter welch aberwitzigen Mühen
der Mensch den Elementen hier seine
Existenz abringen musste.
Immer wieder forderte die SeeTr ibut,
Dutzende Männer, manchmal fünfzig
auf einmal, ertranken in einem Sturm,
hinterliessen das halbe Dorf alsWaisen
undWitwen. In manchenJahren ver-
nichteten Eruptionen desLaki-Kraters
auf demFestland dieFischbestände um
die Inseln, fortan herrschte Hunger;das
Einzige,was zwischen die Zähne kam,
warenWasservögel undWurzeln. Doch
die schwerste Prüfung stand noch aus:
Am frühen Morgen des 23.Januar 1973
tat sich die Erde auf, und aus dem zwei
Kilometer langen Spalt schoss Magma
in den Nachthimmel.Der Hausvulkan
galt als erloschen, ein Irrtum.Vom öst-lichenAbhang des Eldfell schobsich
eineWalzeglühenderLavaauf das Dorf
zu und begrub ein Drittel der Häuser
unter sich. Die Menschen hatten Glück.
Weil über dem Atlantik ein Sturm tobte,
waren die Boote nicht hinausgefahren
und lagen bereit, um die Inselbewohner
zu evakuieren.
Eine HandvollFurchtloser blieb und
beschoss die sich näherndeLavamit eis-
kaltem Meerwasser ausWasserkanonen.
«Eine nie zuvor und nie danach ange-
wandte Methode», sagt Binnie. Doch
tatsächlich gelang es, dieLavaabzuküh-
len,ihren Fluss umzulenken. Der Hafen
und einTeil von Heimaey wurden ge-
rettet. Sechs Monate dauerten die Erup-
tionen, dannkehrten die meistenInsel-
bewohner zurück. Unter denjenigen, die
geblieben waren, waren auch die Grün-
der von VSV.EinesTages habensie die
Fischfabrik einfach wieder aufgemacht.
Siekonnten nicht widerstehen: Die See
glitzertevor lauter Lodden.KaltesWasser unter Hitze
Der industrielleFischfang liess die Be-
stände in den siebzigerJahren einbre-
chen, erst als in den achtzigerJahren
staatlichkontrollierteFangquoten einge-
führt wurden – auch inRussland, Kanada
und Norwegen –, gingdie «fischereiliche
Sterblichkeit» so weit zurück, dass die
Lodde sich erholenkonnte. Nur wenn es
der Lodde gutgeht, geht es Heilbutt und
Kabeljau gut; Letzterer macht 40 Pro-
zent des exportiertenFisches aus, ein be-
achtlicherTeil des Bruttosozialproduk-
tes von Island. Die Lodde selbst steht
auf Platz zwei imFischexport-Ranking.
Zudem spielt sie einezentraleRolle in
der Nahrungskette,auch diverser See-
vögel. Doch seit kurzem ist sie im Nord-
meer und in derBarentssee, in ihren tra-
ditionellenFischgründen, unauffindbar.
«Vermutlich ist es ihr zu warm gewor-
den», sagt Binnie; seit1996 steigt dieTem-
peraturinIslands Gewässern.«Wirmei-
nen, beobachtet zu haben,dass siewei-
ter in den Norden hinaufwandert.»Das
würde sich mit Erkenntnissen kana-
discherForscher in derLabradorsee,
westlich von Grönland, decken. Dort
ist die Zahl der Lodden im Norden ge-
radezu explodiert,so dassBeluga-Wale,
die sich bisher von Heilbutt ernährten,
nun Lodde fressen.Polardorsche hin-
gegen, die durch die LoddeKonkurrenz
bekommen haben, werden immer selte-
ner. Und der Heilbutt, der neuerdings
von den Belugas inRuhe gelassen wird,gedeiht wieder. SolcheVeränderungen,
sodie kanadischenForscher, deuteten
auf dramatischeVeränderungen in der
Arktis hin. Seevögel und Meeressäuge-
tiere dienten als Zeigerarten fürVer-
änderungen im Ökosystem. Sie seien
Opportunisten, extrem flexibel. Änder-
ten sie ihre Ernährung, bedeute das eine
Veränderung in der Beutebasis – und in
der Geopolitik.
In Island istFischereipolitikAussen-
politik. Mit den Briten lieferte sich das
Land jahrzehntelang Kabeljaukriege,
die erst beendet wurden, als Island seine
ausschliesslicheWirtschaftszone eigen-
mächtig auf 200 Meilen erweiterte, was
seitdem als internationalerStandard gilt.
Wegen derFische haben die Isländer
ihren EU-Mitgliedsantrag wieder zu-
rückgezogen.Wegen derFische haben
sie skurrile Gerätschaften wie den be-
rüchtigten Clipperentwickelt,der den
Tr awlern anderer Nationen kurzerhand
die Netze kappt. «Leben ist Salzfisch»,
hat ihr Nationaldichter HalldorLaxness
geschrieben. Und so sei es. BeiFisch
hört für Isländer der Spass auf – und im
Zweifel auch die Diplomatie.
Deswegen befindet Island sich heute
in einem Makrelenkrieg. Die Makrele
hat nämlich vor einigenJahren in um-
gekehrter Richtung die gewohnte Ord-
nung gestört und war einesTages in ver-
lockend grosser Zahl in Islands Fjorden
aufgetaucht; bis dato war es ihr dort zu
kühl, nun nicht mehr. Die Isländer ent-
schieden:Dann gehört sie jetzt uns –
zumindest anteilig.Womit die tradi-
tionellen Makrelenfischer in Norwe-
gen, der EU und auf denFäröern nicht
einverstanden sind, zumindest berech-
nen sie Islands Anteil deutlich knap-
per. Sie sind der Meinung: UnserFisch
ist zwar zu euch geschwommen, aberes
bleibt unserFisch. Also fängt nun jede
Nation weit mehr, als die Makrele ver-
kraften kann. Die vom Internationalen
Rat für Meeresforschung (ICES) emp-
fohlene Höchstfangmenge wird weit
überschritten. Die Laicherbiomasse,
also der Nachwuchs, nimmt seit 20 15
ab. Das schon ohnehin fragwürdigeSys-
tem, Fangrechte aus der bisherigen Nut-
zung abzuleiten, stösst mit dem Klima-
wandel endgültig an seine Grenzen.Was
scheren die LoddeLandesgrenzen? Sie
hat andere Parameter. «Derkühle Strom
aus dem Norden ist schwächer gewor-
den», sagt Binnie. Und damit stimmt das
alteKoordinatensystem nicht mehr.
ImJahr1751 nutzte der britische
Kapitän Henry Ellis seineReise in dieDie Loddewarein allgegenwärtiger SchwarmfischimNordmeerund in derBarentssee–und ist da plötzlichnicht mehr zufinden. CRAIGF. WALKER/GETTY