Neue Zürcher Zeitung - 25.10.2019

(vip2019) #1

Freitag, 25. Oktober 2019 FORSCHUNG UND TECHNIK55


Die Ringe des Saturns verschweigen ihr Alter


Gerade einmal 100 Millionen Jahre jung seien die Ringe des Saturns, konstatierten italienische Forscher Anfang Jahr.


Fachkollegen kommen allerdin gs zu einem ganz anderen Ergebnis. Wie kann das sein?VON KARL URBAN


Sind die Ringe des Saturns ein Überrest
derjenigen Prozesse, die den Planeten
selbst hervorgebracht haben, oder ent-
standen sie erst vielspäter? DieseFrage
beschäftigt Astronomen und Planetolo-
gen seit langem. Denn die Saturnringe
sind nicht nur per se interessant; sie gel-
ten darüber hinaus als eineArt miniatu-
risiertesLabor, in dem sich erforschen
und nachvollziehen lässt, was vor über
vier MilliardenJahren im Sonnensystem
ablief:Damals dürftensich alle Plane-
ten aus einer gewaltigen, um die Sonne
rotierenden Scheibe aus Staub und Gas
gebildet haben – einer Scheibe, die jener
um den Saturn ähnelt.
Als die Nasa-Raumsonde Cassini im
September 2017 ihre Forschungsreise
in denWolkenbändern des Planeten
beendete, lieferte sie die für dieFrage
nach demAlter der Ringe entschei-
dende Messgrösse: Erstmalskonnten
Astronomen die Masse der Saturnringe
bestimmen. Eher schwere Ringe hätten
dafür gesprochen, dass die Mischung aus
Eis- und Staubpartikeln sich überJahr-
milliarden gehalten hätte, leichte Ringe
sprächen dagegen für ein kurzzeitiges
Phänomen – so weit dieTheorie.


Einkurzlebiges Phänomen


Im Januar 2019 veröffentlichte einTeam
um Luciano Iess von der Sapienza-Uni-
versität inRom ein Ergebnis, das die
Spekulationen zu beenden schien:^1 Die
Forscher hatten anhand desFunksignals,
das durch die Schwerkraft der dünnen
Saturnringe geringfügig verändert wird,
de ren Massebestimmt. Demnach sind
die Ringe vergleichsweise leicht, nur
etwa halb so schwer wie der sechst-
grösste Saturnmond Mimas. Die For-
scher folgerten, dass die Ringe vor rund
100 MillionenJahren entstanden sein
müssen, als noch Dinosaurier die Erde
bevölkerten.Verglichen mit dem Alter
des Saturns (4,5 MilliardenJahre) wären
sie also ausgesprochen jung.
Für das geringeAlter der Ringe sprä-
che auchihre Reinheit, argumentiert das
Team um Iess. Die Ringe bestehen fast
vollständig ausWassereis, obwohl sie
ständig durchkosmischenStaubverun-
reinigt werden.Wenn die Saturnringe
nur so wenig Staub angesetzt haben,
können sie auch noch nicht lang da sein,
so die Schlussfolgerung.
Doch ganz so einfach ist es offen-
bar nicht: Im September stellteAuré-
lien Crida vom Observatorium der Côte
d’Azur in Nizza in «NatureAstronomy»
und auf einerTagung europäischer Pla-


netenforscher in Genf seine eigenen
Schlüsse zum Ursprung der Saturnringe
vor. Crida stützt sich auch auf eine Mes-
sung derRaumsondeCassini ab:^2 Als die
Sonde bei ihren letzten Umläufen am
Saturn22-maldieLückezwischenPlanet
und Ringsystem durchflog, registrierte
sie einenTeilchenregen, der beständig
aus denRingen in die Gashülle des Pla-
netenrieselt. Und obwohl dieRinge
aus reichlichWassereis mit wenig silika-
tischem Staub bestehen, ist es imTeil-
chenregen überraschenderweise genau

umgekehrt:Vier Fünftel dieserPartikel
bestehen aus Staub, während dasWasser
einen viel kleinerenAnteil des Nieder-
schlagsausmacht.«Irgendeinunbekann-
terProzess reinigt die Ringe von organi-
schem Material und Staub und lässt das
Eiszurück»,schlussfolgertCrida.DasEis
lässt die Ringe also nur deshalb so jung
aussehen, weil sie perTeilchenregen be-
ständig entstaubt werden.
Die geringe Masse der Saturnringe
deutet für Crida nicht zwingend auf ein
junges Alter hin. Der auf Modellrech-

nungen spezialisierte Physiker verweist
auf Simulationen, die davon ausgehen,
dass das Ringsystem über mehrere Jahr-
milliardenrelativ wenig Material ver-
liert. Zwar fallen ständig Ringpartikel in
den Saturn oder verklumpen zu neuen
Monden. Doch zeigten diese Modelle,
dass die Saturnringe auch unter diesen
Bedingungen über vierJahrmilliarden
hinweg bestehenkönnten. Die von Iess
und seinenKollegen ermittelte Ring-
masse passe sogar sehr gut zu jenen
Simulationsrechnungen sehr alter Ringe.

Iess hält die Ergebnisse derFach-
kollegen aus Nizza für «sehr nützlich».
VerschiedeneForschergruppenversuch-
ten, die Messergebnisse von Cassini auf
unterschiedlicheWeise zu deuten,räumt
er ein.Doch er glaube nicht an die magi-
sche Selbstreinigung der Ringe, zumal
neue erdgebundene Beobachtungen
darauf hindeuteten, dass auf den Saturn
reichlichWassereiseinprasselt:Infraro t-
messungenvonJamesO’Donoghuevom
Nasa Goddard Space Flight Center mit
demKeck-Teleskop auf Hawaii haben
ge zeigt, dass ein beständigerRegen aus
Wasser(eis) die oberstenAtmosphären-
schichten des Saturns zum Leuchten
anregt.^3 Rund 1600 Liter prasseln pro
Sekunde von den Ringen auf Saturns
Gashülle.Wie das mit den trockenen
Ringpartikeln vereinbar ist, ist unklar.

Die eigentlicheFrage


Die Frage nach dem Alter der Ringe ist
wohl noch lange nicht endgültig beant-
wortet.Weitere Hinweisekönnten in
Cassinis Messdaten schlummern. Der
wissenschaftliche Dissens zeigt derweil
erneut, dass die Ringe des Saturns bei
genauerem Hinsehen immer neue Stu-
fen derKomplexität offenbaren.Auch
deshalb bleiben sowohl dieForscher um
Iess als auch jene um Crida eine Ant-
wort auf die eigentlicheFrage schuldig:
Wie genauhaben sich die ausladenden
Ringe des Saturns überhaupt gebildet?

(^1) 10.1126/science.aat2965; (^2) 10.1038/s41550-
019-0876-y;^3 10.1016/j.icarus.2018.10.027.
Totgesagte leben länger – auch in der Alzheimerforschung
Der in Zürich entwickelte Antikörper Aducanumab soll nun doch nochzur Zulassung gebracht werden
ALAN NIEDERER
Die Meldung im März klang eindeutig:
Das US-Unternehmen Biogen stoppt
seine Zulassungsstudien mit dem Alz-
heimermedikament Aducanumab.
Dem Entscheid vorausgegangen war
eine Zwischenanalyse, die keinen Wir-
kungsnachweis erbringenkonnte. Damit
war der von derFirma Neurimmune in
Schlieren bei Zürich entwickelte und in
Lizenz an Biogen abgetreteneAntikör-
per – wie ähnliche Eiweissstoffe zuvor –
in klinischenTests gescheitert.
Umso erstaunlicher ist Biogens An-
kündigung vom Dienstag,Aducanumab
nun doch zur Zulassung zu bringen.Das
soll im ersten Quartal 2020 in den USA
geschehen. Der Gesinnungswandel sei
mit einer neuen Analyse der Studien-
daten zu erklären, schreibt das Bio-
techunternehmen. Diese Analysesei im
Gegensatz zur Zwischenanalyse zu einer
positiven Bewertung fürAducanumab
gekommen.Wie ist das zu erklären?
Laut dem Neurobiologen Roger
Nitsch,der den Antikörper mitentwi-
ckelt hat, haben die widersprüchlichen
Ergebnisse einen einfachen Grund:
Demnach basierte die Zwischenana-
lyse auf denDaten von1748 Studien-
teilnehmern, während die neue Analyse
mit 3285Patientenschicksalen viel grös-
ser ist. Die zusätzlichenDaten ergaben
sich dadurch, dass in der neuenAuswer-
tung auch Probanden berücksichtigt
sind, die nicht die ganze Studiendauer
von 18 Monaten absolviert haben. Zu-
dem sind auch noch dieDaten eingeflos-
sen, die zwischen demDatenstopp für
die Zwischenanalyse (Dezember 2018)
und dem Bekanntwerden der Zwischen-
analyse im März angefallen sind.
Dass erst der Blick auf diese grös-
sere Datenmenge dieWirksamkeit von
Aducanumab sichtbar mache, habe mit
einer Protokolländerung zu tun, erklärt
Nitsch. ImVerlauf der Studien habe
man gemerkt, dass man den Antikörper
höher dosierenkönne. Zu Beginn sei
man tief eingestiegen, weil eine frühere
Studie gezeigt habe, dass die Behand-
lung bei etwa 20 Prozent derPatienten
zu lokalenWassereinlagerungen im Ge-
hirn führe.Weil dieAuffälligkeit aber so
gut wie immer folgenlos verschwinde,
habe man die Dosierung imVerlauf der
Studien gesteigert. «Dieser Schritt, zu-
sammen mit einer längeren Behand-
lungsdauer, hat die statistisch signifikan-
ten und klinischrelevanten Ergebnisse
ermöglicht», sagt Nitsch.
Laut der neuen Analyse nahm die
kognitive Leistungsfähigkeit beiPatien-
ten mitAducanumab wenigerrasch ab
als beiPatienten, die Placebo erhalten
hatten.Auch bei der Befähigung zur
Alltagsbewältigung zeigte sich einVor-
teil für denAntikörper. In beidenFällen
ging der mitFragebogen diagnostizierte
Hirnzerfall um 20 bis 40 Prozent langsa-
mer vonstatten,je nach Messinstrument.
«Was nach viel klingt, ist leiderkeine
allzu grosseWirkung», sagt Andreas
Monsch von der Memory Clinic der
Universitären AltersmedizinFelix Plat-
ter inBasel, die als Studienzentrum an
derAducanumab-Evaluation teilgenom-
men hat. Der Neuropsychologe führt
ein Beispiel an: Beim Mini MentalTest,
bei dem 30 Punkte erzielt werdenkön-
nen, verlieren Alzheimerpatienten typi-
scherweise 2 bis 3 Punkte proJahr; bei
einer Studiendauer von eineinhalbJah-
rensind es3bis 4,5. DerDurchschnitts-
patient würde bei einer gut 20-prozenti-
gen Reduktion also 3,5 statt4,5 Punkte
verlieren. «EinesolcheVeränderung
ist beim einzelnenPatienten im Alltag
nicht zu erkennen», erklärt Monsch.Das
hänge auch damit zusammen, dass die
kognitive Leistungsfähigkeit starkvari-
ierenkönne, selbst imTagesverlauf.
Trotzdem ist Monsch zuversichtlich,
dass Aducanumab auf den Marktkom-
menkönnte. Auch ausVerzweiflung,
sagt der Experte. Denn in den letzten
zwanzigJahren habe man bei der Ent-
wicklung von Alzheimermedikamen-
ten nurRückschläge erlitten. Eine Sub-
stanz,die den Hirnzerfall auch nur ge-
ringfügig aufhaltenkönne, wäre deshalb
ein Durchbruch. ObAducanumab die-
ses Prädikat verdiene, sei zum jetzigen
Zeitpunkt allerdings noch unklar, denn
bei den präsentiertenResultaten gebe es
durchaus noch offeneFragen.
Laut Nitsch würde der Ritterschlag
durch die amerikanische Zulassungs-
behördeFDA auch zeigen, dass die
gängigeAlzheimerhypotheserichtig ist.
Demnach stehen am Anfang der un-
heilvollen Entwicklung im Gehirn die
Bildung und die Ablagerung von soge-
nanntem Amyloid-beta-Protein. Diese
Eiweissklumpen lassen sich mitAduca-
numab auflösen oder zumindest stark
reduzieren.Das haben die klinischen
Studien eindrücklich gezeigt. Sollte
dieseAuflösung tatsächlich ursächlich
mit einerVerbesserung derkognitiven
Situation desPatienten einhergehen,
dann wäre die Amyloid-Hypothese be-
wiesen.Man darf also gespannt sein,wie
die FDA entscheiden wird.
Das Eis
lässt die Saturnri nge
laut Aurélien Crida
nur deshalb so jung
auss ehen,weil sie per
Teilchenregen beständig
entstaubt werden.
Die bestenAufnahmen des Saturnringsstammen von der Raumsonde Cassini. NASA/REUTERS

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