Neue Zürcher Zeitung - 25.10.2019

(vip2019) #1

Freitag, 25. Oktober 2019 FORSCHUNG UNDTECHNIK


DasHirn kommt nie zur Ruhe.Wenn wir nur unserenGedanken nachhängen, fallen die neuronalenWellen aber langsam aus. SIMONTANNER /NZZ

Die Gentherapie


wird immer exakter


Die GenschereCrispr/Caswirdbereits an


Patienten erprobt und zudemweiterentwickelt


STEPHANIE LAHRTZ

Der Chemiker und BiologeDavid Liu
ist fasziniert vom Genom und von den
modernenTechniken, mit denen man es
verändern kann.Als 2012 die Genschere
Crispr/Cas präsentiert wurde, war der
46-Jährige begeistert.Doch wie viele an-
dere störte ihn dieTatsache, dass dasSys-
temnocheinbisschenschlampigarbeitet.
Zwar wird die molekulare Schere so
konstruiert, dass sie vorrangig an aus-
gewählten Stellen im Erbgut ansetzt.
Aber dort schneidet sie den DNA-Dop-
pelstrang brachial ganz durch. Bei der
anschliessenden Reparatur können
zwar gewünschteVeränderungen ent-
stehen, aber es passieren auch viele zu-
fälligeVeränderungen undFehler.Das
sei eigentlich Genom-Vandalismus,
schrieb imWissenschaftsmagazin «Sci-
ence» kürzlich derrenommierte Geneti-
ker George Church, der ebenso wie Liu
an der Harvard University am Crispr/
Cas-System forscht.

SchonenderesVerfahren


Liu machte es sich zum Ziel, die Gen-
schere präziser zu machen. Bereits 20 16
stellten er und seinTeam dafür eine
Methode namens «base editing» vor,
die deutlich schonender mit dem Erb-
gutmolekül umgeht, aber nur einen klei-
nen Teil der Gendefekte beheben kann.
Am Montag hat LiusTeam nun in der
Fachzeitschrift «Nature» ein Schneid-
werkzeug präsentiert, das präzise arbei-
tet und viele verschiedene Genmutatio-
nen reparieren kann.
Die Forscher nennen es «prime edi-
ting».Wenn man Crispr/Cas mit einer
scharfen Stoffschere vergleicht, dann ist
das neue Schneidwerkzeug eine scharfe
kleine Nagelschere. Diese trennt nur
einenFaden des Strangs auf. Und sie hat
noch weitereVorteile. Beim Crispr/Cas-
System wird die Lücke mit einem zufäl-
lig vorhandenen DNA-Schnipsel gefüllt,
oder es wird eine separat in die Zelle
eingebrachteVorlage, zum Beispiel ein
«gesunder» DNA-Abschnitt, eingebaut.
Beim «prime editing» hingegen hängt
dieseVorlage bereits an der moleku-
laren Schere, so dass sie immer an der
Schnittstelle verfügbar ist. Das mache
das neueSystem bei derReparatur effi-
zienter und präziser, betont Liu. Zudem
besitze das neueWerkzeug drei interne
Kontrollmechanismen, Crispr/Cas hin-
gegen nur einen.Daher habe es in ihren
Experimenten auch deutlich weniger
unerwünschteVeränderungen an völlig
unbeteiligten Orten im Erbgut gegeben.
Dies geschah nur in wenigen Prozent
der Genabschnitte. Beim Crispr/Cas-
System ist das laut denAutoren um bis
zu zehnmal häufiger.
Die Forscher zeigten,dass mit «prime
editing»verschiedeneEingriffegelingen:
einzelne DNA-Bausteine austauschen,
mehrereBausteineentfernensowieneue
einfügen,und dies auch inKombination.
SoverändertensieaneinerStelleimErb-
guttext der Zellen einen «Buchstaben»
und bauteneineZeile weiterein kom-
plett neues«Wort» ein. All daskönnen
andereGenscherenzwarauch,abernicht
so effizient.Mankönnejetztvoraussicht-
lich 89 Prozent aller bekannten patholo-
gischen Erbgutveränderungenkorrigie-
ren, sagte Liu in einerTelefonkonferenz
zur Präsentation der Ergebnisse.
Allerdings ist noch unklar, wie effi-
zient die neue Schere in normalen
menschlichen Zellen arbeitet.Alle bis-
herigenVersuche wurden in mensch-
lichenTumorzellengemacht, die sich un-
ermüdlich teilen und deshalb mit gen-
technischen Methoden besser zu verän-
de rn sind. EinenVersuch machten die
Forscher zwar mit Nervenzellen, aller-
dings stammten diese von Mäusen.
Technisch gesehen sei das neueSys-
tem einesehr intelligenteWeiterent-
wicklung, meintJan Korbel vom Euro-
päischenLaboratorium für Molekular-
biologie (EMBL) in Heidelberg. Aller-

dings ist auch «prime editing» nicht
absolut sicher. Die Autoren sowie an-
dere Experten betonen daher, dass das
neueWerkzeug nochkeineswegsreif sei
für einen Einsatz amPatienten, weil es
sich ja noch um einen Prototyp handele.
Doch unterForschernkönnte es sich
schnell verbreiten. Gerald Schwank, der
am Institut für Pharmakologie undToxi-
kologie der Universität Zürich Gen-
scheren für seineForschung verwendet,
hat das neueWerkzeug bereits amTag
der Publikation bestellt – Liu stellt es
für dieForschung bereits zurVerfügung.
Schwank will das «prime editing»-Sys-
tem kommendeWoche ausprobieren.
Für seine Arbeit verwendet er bereits
den Vorgänger aus LiusLabor, das «base
editing»-System. Er will damit eineThe-
rapie für Stoffwechselerkrankungen ent-
wickeln. Dafür verpackt er das moleku-
lare Schneidwerkzeug in winzigeFett-
partikel. Diesewerden Mäusen in die
Blutbahn injiziert. Die Partikel sind so
konstruiert, dass sie nur in Leberzellen
hineinkommen. Dort sollen sie Gen-
defektekorrigieren, die für fehlerhafte
Enzyme verantwortlich sind, und so ver-
schiedene Stoffwechselerkrankungen
lindern oder gar heilen.
Crispr ist aus vielen Projekten der
Forschung nicht mehr wegzudenken.

Damit werden Gene verändertund Zel-
len oderTiere gezüchtet, um verschie-
dene Krankheiten zu untersuchen. Oder
es werden Tumorzellen gezielt verän-
dert, um damit herauszufinden, ob ein
bestimmtes Medikament auch so wie
vorhergesagt wirkt.

ErsteStudien mitPatienten


UngewöhnlichschnellfüreineneueEnt-
deckung kam Crispr in ersten klinischen
Studien zum Einsatz.Dazu gehört auch
das unrühmliche Beispiel von dem Chi-
nesen He Jiankui, der damit veränderte
Babys auf dieWelt brachte. Doch han-
delte er sich damit harsche Kritik und
einen Prozess ein,weil er sich dabei über
ethische Grenzen und offenbar auch
über chinesisches Gesetz hinwegsetzte.
Aber es starteten auch mehrere legale
Studien miterwachsenenPatienten zur
Behandlung von Erbkrankheiten oder
Krebs in Europa, China und den USA.
Aus Tierversuchen weiss man, dass
mit dem Crispr/Cas-System behandelte
Zellen manchmal sehr grosse DNA-
Abschnitte verlieren und zudem ge-
wisse Mutationen ausbilden. Es be-
steht das Risiko, dasssolche Zellenzu
neuen Krebsherden werden.Aus die-
sem Grund versucht man, solcheFehler
möglichst zu vermeiden. Der Genetiker
Fyodor Urnov vom Innovative Geno-
mics Institute in Berkeley erwartet da-
her laut einer Stellungnahme im Maga-
zin «Science», dasskünftig in Genthera-
pien für Menschen nur noch «prime edi-
ting» verwendet wird. Liu denkt aber
schon weiter und plant ein noch scho-
nenderes Genreparatursystem, das viel-
leicht ganz ohne Schneiden auskommt.

Man könnenun


vermutli ch 89Prozent


der pathologischen


Erbgutveränderungen


korrigieren,sagte David


Liu bei der Präsentation


von «primeediting».


56 57

Free download pdf