Neue Zürcher Zeitung - 25.10.2019

(vip2019) #1

Freitag, 25. Oktober 2019 INTERNATIONAL


«Wer gewinnt, verhandelt nicht»

In Libanon hat die selbstbewusst auftretende Protes tbewegung nach einer Woche das ganze Land fest im Griff


CHRISTIAN WEISFLOG, BEIRUT


Den libanesischen Soldaten stand die
Tragödie ihres Landes am Mittwochmor-
gen ins Gesicht geschrieben. DieRegie-
rung hatte sie angewiesen, die zahlrei-
chen Strassenblockaden imLand end-
lich zuräumen. Seit einerWoche blo-
ckieren Demonstranten die wichtigsten
Verkehrsachsen, die von der Hauptstadt
Beirut in den Norden, Süden und Os-
ten führen.Als die Armee vorrückte, be-
gannen die Soldaten unter anderem die
Nationalhymne zu singen.Auf Videos
im Internet ist zu sehen, wie dabei Ein-
zelnen dieTränen in dieAugen schossen.
Später liess das Militär in einer Mit-
teilung erklären, es unterstütze dieFor-
derungen der Demonstranten, lehne
aber Strassenblockaden undVandalis-
mus ab.Auf Twitter veröffentlichte die
Armee einFoto, auf dem sich ein Sol-
dat undein Protestteilnehmer umarmen.
Dazu stand geschrieben:«Wir sind alle
eine einzigeFamilie.»


MachtloseRegierung


Bis am Donnerstagkonnte die Armee
lediglich eine der rund 30 Strassensper-
ren in Libanonräumen. Dies zeigt, wie
gross derKontrollverlust derRegierung
von Ministerpräsident Saad Hariri be-
reits ist. Die Blockaden spielen in der
Strategieder Demonstranten eine zen-
traleRolle: «Wir entscheiden, wann die
Strassen wieder freigegeben werden,
nicht dieRegierung», sagt Malek Kabrit
in einem Zelt auf dem Märtyrerplatz in
Beirut, dem Epizentrum der Proteste in
der Hauptstadt.
Kabrit ist Mitglied der Bürgerplatt-
form Sabaa (Sieben), die seit Dienstag
auchTeil des neu geschaffenen «Komi-
tees zurKoordinationder Revolution»
ist. In d em Gremium seien insgesamt 22
verschiedene Organisationen aus dem
ganzenLand vertreten, sagt der 59-jäh-
rige Physiker und Unternehmer. «Das
Komitee trifft sich derzeit in einem
Hotel hier in Beirut, um die nächsten
Schritte zu besprechen.»
Die Hauptforderungen der Protest-
bewegung scheinen jedoch bereits klar
zu sein. Im Zelt des «zivilenWider-
stands» auf dem Märtyrerplatz sind sie
auf einem BlattPapier in wenigen Punk-
ten aufgeführt:Auflösung desParla-
ments, Neuwahlen,Rücktritt derRegie-
rung und Bildung einesTechnokraten-
kabinetts,Verabschiedung eines Ge-
setzes zur Rückführung gestohlener
Staatsgelder. Dieser letzte Punkt gehört
auch zumReformpaket,das Minister-
präsident Saad Hariri den Demonstran-
ten am Montagversprochen hat.Warum
also nicht mit ihm verhandeln und ihn
zu weiteren Zugeständnissen zwingen,
statt die ungewissen Risiken einerRevo-
lution einzugehen?«Wer gewinnt, ver-
handelt nicht», sagt Malek Kabrit selbst-
bewusst.Vor einem halbenJahr habe Sa-
baa beim Ministerpräsidenten um einen
Termin gebeten, um ein Gesetzesprojekt
zur Auffindung verschwundener Steuer-
gelder vorzuschlagen.«Wir habenkeine
Antwort erhalten.Jetzt ist es zu spät.»


Die Elite isttaub


Der libanesische Staat hat einen riesi-
gen Schuldenberg über 85 Milliarden
Dollar angehäuft. Dessen hohe Zinsen
verschlingen jedesJahr 40 Prozent der
öffentlichen Einnahmen. Nicht ersicht-


lich aber ist, wofür die übrigen 60 Pro-
zentder Einnahmen ausgegeben wer-
den: Es fehlteine verlässlicheVersor-
gung mitWasser und Strom, das Niveau
der öffentlichen Schulen ist miserabel,
und öffentlicheVerkehrsmittel gibt es
nicht. Die Bevölkerung ist überzeugt,
dass die politische Elite viele Milliar-
den insAusland und insbesondere auf
Bankkonten in der Schweiz geschafft
hat. Unabhängig davon, ob dieVorwürfe
zutreffen, gelten vor allem der sunniti-
sche Regierungschef Hariri undder
schiitischeParlamentspräsident Nabih
Berrials Inbegriff der verbreitetenKor-
ruption. Niemand glaubt, dass sie und
ihresgleichen fähig sind,die kriminellen
Machenschaften zu bekämpfen, in die
sie mutmasslich selbst verwickelt sind.
Daran wird wohl auch die zehn-
minütige, wenig empathischeRede des
84-jährigen Präsidenten MichelAoun
vom Donnerstag nichts ändern. In sei-
nen erstenÄusserungen nach siebenTa-
ge n der Massendemonstrationen zeigte
sich der ehemalige General bereit, mit
Vertretern der Protestbewegung zu
sprechen. Er wollebera ten, «was wir
zusammen tunkönnen, um einenKol-
laps zu verhindern». Ein Regimewech-
sel könne aber nicht auf der Strasse, son-
dern nur imRahmen der verfassungs-
mässigen Institutionen stattfinden, sagte

Aoun. «DieRede des Präsidenten ist
katastrophal. Sie zeigt, einmal mehr,
dass die politische Klasse taub ist», kom-
mentiert MonaFawaz, Professorin für
Städteplanung,auf Twitter.
Für dieRegierung sieht es deshalb
düster aus. Sie kam vergangenesJahr
erst nach neunmonatigen Grabenkämp-
fen zwischen zahlreichen christlichen,
sunnitischen und schiitischenParteien
zustande. Am Mittwoch riefen auch
religiöseWürdenträger – sonst ein Boll-
werk desKonservatismus in Libanon –
die politischeFührung dazu auf, die For-
derungen desVolkes ernst zu nehmen.
«Wir unterstützen diesenAufstand und
verlangen, ihn anzunehmen und zu be-
schützen», erklärte der maronitische
Patriarch Bechara al-Rai.

Hochzeit im Protestcamp


In Beirut haben sich die Demonstran-
ten auf dem Märtyrerplatz und in der
Strasse zumRegierungssitz derweil mit
Tribünen, Zelten undVerpflegungs-
möglichkeiten fest eingerichtet. Da
Schulen und Universitäten genauso wie
Banken seitTagen geschlossen sind und
die Professoren ihre Studenten ermuti-
gen, an den Protesten teilzunehmen,
ist die Zahl der Demonstranten auch
unter derWoche beträchtlich. «Wir for-

dern den Sturz desRegimes», skandie-
ren die Menschen, wenn sie nicht gerade
die Nationalhymne singen.Aus Boxen
ertönen patriotische Lieder oder auch
die europäische «Ode an dieFreude».
Abends wird get rommelt, getanzt,
Wasserpfeife geraucht und manch-
mal auch eine Hochzeit gefeiert. So
zelebrierten etwa am Mittwoch Ma-
lak Alaywe und ihr Mann inmitten von
Demonstranten den Bund fürs Leben.
Alaywe wurde zur Ikone derRevo-
lution, nachdem sie in der ersten Pro-
testnacht dem bewaffneten Bodyguard
eines Ministers einen elegantenFusstritt
zwischen die Beine gegebenhatt e. «Wir
haben uns hier im Zentrum der Stadt
2015 bei einer Demonstration gegen
die Abfallkrisekennengelernt», sagte
Alaywe lokalenMedien. Der Ort sei für
sie ein zweites Zuhause geworden.
Kaum ein Ereignis veranschaulichte
das Staatsversagenso sehr wie dieAb-
fallkrise vor vierJahren, als sich die
Müllsäcke in den Strassen der Haupt-
stadt türmten. Viele libanesische Akti-
visten von heute wurden damals politi-
siert, und zahlreiche Bürgerinitiativen
gingen daraus hervor – auch Sabaa. Die
Plattform sieht das libanesische Grund-
übel vor allem imreligiösen Klientelis-
mus. In einem politischenSystem,in dem
der Präsident stets ein Christ, derRegie-

rungschef ein Sunnit und derParlaments-
präsident ein Schiit sein muss, dreht sich
der Machtkampf kaum um politische In-
halte.Vi el wichtiger ist dieVerteilung von
Ministerien undPosten unterden ver-
schiedenenReligionsgruppen.

«Es gibt viele Schläger»


Die Bürgerplattform Sabaa will mit
demreligiösen Clansystem aufräumen:
«Wir haben Mitglieder aus18 verschie-
denen Sekten,aus allenRegionen des
Landes und allen sozialen Klassen»,sagt
Kabrit.Religion beiseite,lasstuns über
die wirklichenProblemereden: Dieser
Kerngedanke der Plattform scheint auch
der Geist der gegenwärtigenRevolution
zu s ein. Beschränkten sich die Demons-
trationen 2015 vor allem auf die Haupt-
stadt, gehen die Libanesen nun im gan-
zen Land auf die Strasse.
Vor allem im Süden, der sich in der
eisernen Hand der grossen schiitischen
Parteien Amal und Hizbullah befindet,
gehen die Protestteilnehmer grosse Risi-
ken ein. «Gestern habe ich eine Mord-
drohung erhalten»,sagt der Mathe-
matikprofessor Akram Cheib, der die
Demonstrationen in Nabatiya und Sur
koordiniert. «Es gibt viele Schläger und
Waffen im Süden.Die Leutekönnten ge-
tötet werden.»Am Mittwoch wurden die
Demonstranten in Nabatiya vonPolizis-
ten angegriffen,trotzdem wagten sich am
Tag erneut Menschenauf die Strasse.
Cheib hat Angst, schweigen jedoch
will er nicht: «Amal ist dieKorrup-
tion», sagt er.Aber auch die Schiiten-
miliz Hizbullah sieht er kritisch. «Der
Widerstand gegen Israel sollte nicht
nur dieAufgabe einer Glaubensgruppe
oder einerPartei sein.» Der Hizbullah,
der ebenfallsTeil der heutigenRegie-
rung ist und mit seinenVerbündeten
eine Mehrheit imParlament besitzt,
habe einen verhängnisvollenPakt mit
den übrigenParteien geschlossen, sagt
Cheib. «Der Hizbullah drückt bei deren
Korruption einAuge zu, und diese hal-
ten im Gegenzug ihre schützende Hand
über seine Miliz.»

Toleranz inTripolis


Bemerkenswert sind auch die Proteste
in Tripolis in Nordlibanon, einerkonser-
vativen, überwiegend sunnitisch-musli-
misch geprägten Stadt.In den vergan-
ge nen Jahren machteTripolis vor allem
durch bewaffneteAuseinandersetzun-
gen zwischenradikalen Sunniten und
der alawitischen, prosyrischen Minder-
heit Schlagzeilen. «Aber was passiert
jetzt? DieKonfliktparteien nehmen zu-
sammen an den Demonstrationen teil»,
freut sich derRapper Omar Ali in einem
Telefongespräch.
Auch inTripolis versammeln sich
jeden Abend Zehntausende auf dem
Nur-Platz zu einerregelrechten Massen-
party. «Wir habenTripolis noch nie tan-
zen sehen. Es istdie beste Zeit», erzählt
Ali. In derkonservativen Stadt habe es
sich fürFrauen bisher nicht geziemt,
abends auszugehen. «Sie wurden beläs-
tigt.»Jetzt aber seiendie Hälfte der De-
monstranten weiblich. Und es sei egal,
ob sie einKopftuch trügen oder nicht.
«Sie werden mitRespekt behandelt. Ich
bin überrascht vomAusmass derTole-
ranz. Wir sind wie eine grosseFamilie,
die sich zum Grillieren trifft.»
Noch hofft dieRegierung, das ver-
loreneVertrauen in der Bevölkerung
durch eine Umbildung und die Entfer-
nung der unbeliebtesten Minister er-
reichen zukönnen. Doch dies scheint
Wunschdenken. Die Protestbewegung
scheint nur drei Dinge fürchten zu müs-
sen: Erstens fehlt der spontanenRevo-
lution noch ein wirklicher Hoffnungs-
träger. Zweitens versuchten am Don-
nerstagabend erneut Hizbullah-Anhän-
ger im friedlichen Protestcamp in Beirut
für Unruhe zu sorgen,wobei es zu Hand-
greiflichkeiten kam. Drittens hat seit
MittwochRegen eingesetzt, der wohl bis
am Dienstag anhält.Offenbar haben die
libanesischen Demonstranten mit ihren
patriotischen Gesängenselbst den Him-
mel zumWeinen gebracht.

Demonstranten schwen kenamMittwoc hauf einerAusfallstrasseimN orden Beiruts libanesische Flaggen.ALKIS KONSTANTINIDIS / REUTERS

Stacheldraht blockiert eineStrasse ,die zumRegierungspalast inBeirut führt. HUSSEIN MALLA / AP

MITTELMEER

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