Die Zeit - 17.10.2019

(Kiana) #1
»Mehr Demokratie wagen« war daher nicht nur die
Antithese zu Ludwig Erhards »formierter Gesell­
schaft«, sondern auch ein Weckruf an die Pro test­
gene ra tion. »Die strikte Beachtung der Formen par­
lamentarischer Demokratie ist selbstverständlich für
politische Gemeinschaften, die seit gut 100 Jahren
für die deutsche Demokratie gekämpft, sie unter
schweren Opfern verteidigt und unter großen Mühen
wieder aufgebaut haben«, heißt es in Brandts Rede.
Das war, nebenbei, auch eine Absage an die direkte
Demokratie. Plebiszite galten Brandt ver­
mutlich wie Theodor Heuss als »Prä­
mie für jeden Demagogen«.
Bis 1976 treten rund
250.000 junge Leute
in die SPD ein –
was vor allem
deren
linken

Flügel
stärkt,
während
Brandt selbst
keineswegs ein Links­
außen in seiner Partei ist.
Seine entspannungspolitische
Annäherung an den Osten braucht die
Abgrenzung zum Kommunismus im Innern,
und wer seine Westberliner Bürgermeister­Reden
liest, begegnet durchaus einem Kalten Krieger.
Die Jungen vertrauen ihm trotzdem – aufgrund
seiner Integrität, seiner Biografie: Mit Willy Brandt
stand erstmals das »andere Deutschland« zur Wahl,
und anders als die linke Publizistik jener Zeit ver­
muten lässt, will das Gros der revoltierenden Bürger­
kinder die Demokratie wohl eher demokra tisieren
als überwinden. Am Ende ist ihnen Habermas näher
als Mao. Statt einer Re vo lu tion auf der Straße wagen
sie Demokratie in den Institutionen.
Für die SPD wird das zum Selbstversuch. Mit
allen Risiken und Nebenwirkungen befolgt sie nun,
was sie sich 1959 im Godesberger Programm ver­
schrieben hat: die Demokratie auch parteiintern zur
»allgemeinen Lebensordnung« zu machen. Es ist ein
einziger großer Antrag auf Änderung der Geschäfts­
ordnung, der Aufbruch in ein »neues kommunika­
tives Zeitalter« (Dietmar Süß).
Zum Schauplatz wird dabei mehr und mehr das
Lokale. Was geht mich Viet nam an? Die Fahrpreise
im öffentlichen Nahverkehr sind zu hoch! Schaffen
wir zwei, drei, viele Abenteuerspielplätze und Jugend­
zentren. Hier jagt man einen Hard liner der SPD aus
dem Polizeipräsidium, dort fordert man den Bürger­
meister auf, transparent zu machen, wem Grund und
Boden gehören. Nachdem die jungen Linken sich
zuvor auf Teach­ins und Sit­ins weltrevolutionär an
die Seite Che Guevaras und Ho Chi Minhs geträumt
haben, laden sie nun die Bevölkerung in deutschen
Kleinstädten zu Hearings ein.
Die heute gängigen Lösungsformeln – Kom mu­
ni ka tion, mit ein an der reden, Streit, Transparenz –
sind damals schon im Angebot. Es brauche, sagt
Brandt im Bundestag, »außerordentliche Anstren­
gung, sich gegenseitig zu verstehen«. Dahinter aller­
dings liegt keine therapeutische Absicht, sondern die
Idee eines empowerment, das im Gegenzug »Mit­
verantwortung« verlangt. Brandt holt niemanden ab.
Er adressiert engagierte, nicht besorgte Bürger. Und
er weiß, dass »mit ein an der reden« eine billige Forde­

rung ist, solange nicht alle dieselben Möglichkeiten
haben, mitzureden. Mehr Demokratie meint in
Brandts Worten daher mehr »soziale Demokratie«,
mehr Bildungsgerechtigkeit, mehr Mitbestimmung
in den Betrieben, mehr Gleichheit, von einer grund­
legenden Steuerreform bis zur Vermögensbildung.
Ob das gelungen ist, darüber lässt sich streiten.
Die Regierung wagt mehr Gleichberechtigung für
Frauen und für Homosexuelle. Sie wagt mehr
Liberalität im Strafrecht, mehr So zial staat und Um­
weltschutz, mehr innerbetriebliche Mitsprache, und
die Zahl der Studierenden aus ärmeren Familien
steigt dank des Bafög, eingeführt 1971.
Die Ära Brandt lässt sich aber auch ganz anders
erzählen: als eine Chronik der Enttäuschungen vor
dem Horizont gesteigerter Erwartungen und eines
verbreiteten Machbarkeitsglaubens. »Wir schaffen
das moderne Deutschland«: So zieht die SPD 1969
in den Wahlkampf; Planung ist das zweite Zauber­
wort neben Demokratie, was weniger mit Sozialis­
mus als mit Kybernetik und Computern zu tun
hat. »Mittelfristige Finanzplanung«, »Globalsteue­
rung«, »Experimentelles Integrierendes Planungs­
und Entscheidungssystem« – der Jargon der Zeit
kündet von technikbegeisterter Zuversicht.
Das beißt sich immer wieder mit der neu
entdeckten demokratischen Polyphonie.
Vor allem aber hält sich die Realität nicht
an Planvorgaben: 1973 endet infolge der
Ölkrise der Nachkriegsboom. Spätes­
tens jetzt sta gniert der Reformeifer,
wo er etwas kostet. Die große Steuer­
reform fällt ebenso aus, wie es
längerfristig an Geld für Bildungs­
investitionen mangelt.
Dazu kommt der Terror der
RAF und in seiner Folge 1972
der Radikalenerlass, den viele
als Bruch von Brandts Demo­
kratie­Versprechen empfin­
den. Die Regelanfrage beim
Verfassungsschutz vor der
Einstellung in den Staats­
dienst ist in ihren Augen
eine Gesinnungsschnüffelei,
mit der sich die westdeut­
sche Demokratie nicht als
wehrhaft, sondern als illibe­
ral zu erkennen gibt.
Enttäuschung löst, nicht
zuletzt, Ungesagtes aus.
Brandt, jahrelang verfemt,
weil er aus dem Exil gegen die
Nazis kämpfte, findet in seiner
Antrittsrede kein Wort der An­
erkennung für den noch immer
diffamierten Widerstand. Wollte
er nicht in eigener Sache sprechen?
So wie Obama 2009 eine offensive
Agenda gegen Rassismus und Dis­
kriminierung vermissen ließ?
Kein Wort im Übrigen auch zu den
Gastarbeitern, wie sie damals heißen;
immerhin mehrere Millionen Männer und
Frauen, nicht stimmberechtigt allerdings
und daher offenbar noch kein Thema für eine
Regierungserklärung.
Was also bleibt? »Mitbestimmung, Mitverant­
wortung in den verschiedenen Bereichen unserer
Gesellschaft wird eine bewegende Kraft der kom­
menden Jahre sein«, prophezeite Brandt am 28. Ok­
tober 1969. Und so kam es.
Für Frieden und Frauenrechte, vom Umwelt­
schutz bis zur Flüchtlingshilfe: Die neuen sozialen
Bewegungen der Siebziger­ und Achtzigerjahre, die
Brandt ermutigt hat, werden zur bewegenden Kraft.
Und sie sind, bei allem Krach, keine Gegenveran­
staltung zur repräsentativen Demokratie (die Wahl­
beteiligung erreicht Rekordwerte von über 90 Pro­
zent), sondern ergänzen sie, wie Brandt gehofft hat:
»Die Regierung kann in der Demokratie nur erfolg­
reich wirken, wenn sie getragen wird vom demo­
kratischen En gage ment der Bürger. Wir haben so
wenig Bedarf an blinder Zustimmung, wie unser
Volk Bedarf hat an gespreizter Würde und hoheits­
voller Distanz.« Dass sich die Bundesrepublik
liberalisiert und demokratisiert hat, ist deshalb nicht
Brandts Werk. Aber er hat die Tür geöffnet.
Glaubt man dem britischen Politologen David
Runciman, hat die moderne Demokratie in ihrer
mehr als 200­jährigen Geschichte seit der Franzö­
sischen Re vo lu tion immer dann an Kraft und An­
erkennung gewonnen, wenn sie »mehr« wagte und
wuchs – indem man das Klassenwahlrecht ab­
schaffte, die Frauen wählen ließ, die Grund­ und
Menschenrechte verbindlich festschrieb. Brandt
hat dieses Prinzip zum Leitsatz erhoben; gültig war
es schon davor.
Wenn Demokratie Wachstum braucht, stellt sich
indes auch die beunruhigende Frage nach dessen
Grenzen. »Nein«, verkündete Brandt 1969, »wir
stehen nicht am Ende unserer Demokratie.« 50 Jah­
re später gilt das unverändert – auch wenn es die
NPD gewissermaßen doch noch in den Bundestag
geschafft hat. Die partizipative Demokratie, die
US­Studenten 1962 in ihrem berühmten Port Huron
State ment ausgerufen haben, ist jedenfalls überaus
lebendig und hat noch Raum zum Wachsen. Vor
allem, da die Grenzen des demokratischen Wachs­
tums nicht die nationalen bleiben müssen, wie die
globalen Klimaproteste der Gegenwart zeigen. Mil­
lionen Menschen auf der Straße, von Australien bis
Zypern, das ist historisch ohne Beispiel. Ein starkes
Stück. Was hätte Willy Brandt dazu gesagt?
Womöglich das, was er vor einem halben Jahr­
hundert gesagt hat: »Wir fangen erst richtig an.«

Mehr zum Thema in dem kürzlich erschienenen
Sammelband »›Wir wollen mehr Demokratie wagen‹.
Antriebskräfte, Realität und Mythos eines
Versprechens« (Dietz­Verlag; 296 S., 32,– €)

D


ie Amerikaner haben John F.
Kennedy, sie haben Barack
Obama. Die Deutschen
haben Willy Brandt. »Wir
wollen mehr Demokratie
wagen«: Brandts berühmter
Ausspruch war ein Zeichen
des Aufbruchs wie »Yes we can«, ein staatsbürger­
licher Appell wie »Fragt nicht, was euer Land für
euch tun kann; fragt, was ihr für euer Land tun
könnt« – ein Jahrhundertwort.
Vor genau 50 Jahren sprach Brandt es aus, am


  1. Oktober 1969 im Bundestag in Bonn; eine
    Woche zuvor war er zum Kanzler gewählt worden.
    Historiker erkennen darin eine »Umgründung« oder
    »zweite Gründung« der Bundesrepublik. Bis heute
    hallen Brandts Worte nach. Und noch immer wer­
    den sie, bis zur Unkenntlichkeit, zitiert. Mittlerwei­
    le greift sogar der rechte Rand nach Brandts Demo­
    kratie­Bekenntnis.
    Worte können sich nicht wehren. Und ein ge­
    flügeltes Wort lässt sich nicht im Zaum halten. Fest­
    stellen aber lässt sich, wo es herkam. Fragen lässt
    sich, was es meinte, bevor es sich von seinem
    Schöpfer emanzipierte.
    Willy Brandt ist 55 Jahre alt, als er Kanz­
    ler wird. Drei Jahre lang war er Außen­
    minister in der großen Koa li tion unter
    Kurt Georg Kiesinger (CDU). Als Re­
    gierender Bürgermeister von Berlin hat
    er sich den Ruf erworben, so beson­
    nen wie zupackend zu sein, ein
    Neuerer, gut aus sehend dazu. Drei
    Anläufe braucht er für den
    Sprung ins Kanzleramt. Als er
    nach den Wahlen 1969 die
    Chance für einen Machtwech­
    sel mit den Liberalen sieht,
    greift der als Zauderer Ver­
    kannte ohne Zaudern zu.
    Die Bundesrepublik ist
    20, als Willy Brandt Kanzler
    wird. »68« liegt gerade ein
    Jahr zurück, wobei auf ein
    Symboldatum zusammen­
    schnurrt, was in den späten
    Fünfzigern begann und
    1969 längst nicht zu Ende
    ist. Seit 1966 rumort es zu­
    dem rechts außen: Die NPD
    zieht in sieben Landtage ein;
    den Einzug in den Bundestag
    verfehlt sie 1969 knapp. Was
    das Land sonst noch umtreibt:
    D­Mark­Aufwertung, Agrar­
    subventionen, die deutsche Frage
    natürlich. Kommt alles vor in
    Brandts Regierungserklärung.
    Ein »brauchbares Arbeitspro­
    gramm« nennt Rolf Zundel sie da­
    mals in der ZEIT, »ohne Schwulst,
    ohne Schnörkel«. Ein leises Bedauern
    aber kann er nicht verhehlen: »Wer sich
    von Willy Brandt eine deutsche Ver sion der
    Antrittsrede des amerikanischen Präsidenten
    Kennedy erhofft hatte – wortgewaltig, mitrei­
    ßend, von visionärer Kraft –, wird von der neuen
    Regierungserklärung enttäuscht sein.«
    Tatsächlich lässt seine Rede weite Bögen und
    Reflexionen vermissen. Zu hören gibt es stattdes­
    sen viel Lotsenprosa: wo es langgehen soll in Bil­
    dungs­, Wirtschafts­, Finanz­ und Sicherheitspoli­
    tik, en détail und Punkt für Punkt. Liegt es daran,
    dass so viele Co­Autoren beteiligt waren? Die Ge­
    nossen Herbert Wehner, Egon Bahr, Erhard Eppler
    und weitere schrieben mit. Auch Günter Grass, der
    Brandt auf seinem Weg ins Kanzleramt unterstütz­
    te wie so viele Schriftsteller und Intellektuelle, gab
    ein paar Formulierungen dazu. Ein »Neckermann­
    Katalog«, spottete der junge Helmut Kohl.
    Die Wirkung minderte es nicht. Das Protokoll
    des Bundestags vermerkt viel »Hört! Hört!« bei den
    Unions abge ord ne ten, sobald es um die Wirtschaft
    geht, und jede Menge »Unruhe«, als Brandt um­
    reißt, was als neue Ost­ und Entspannungspolitik
    Geschichte machen wird.
    Der legendäre Satz fällt fast beiläufig: »Wir wol­
    len mehr Demokratie wagen. Wir werden unsere
    Arbeitsweise öffnen und dem kritischen Bedürfnis
    nach In for ma tion Genüge tun. Wir werden darauf
    hinwirken, daß nicht nur durch Anhörungen im
    Bundestag, – (Abg. Dr. Barzel: Anhörungen?) – son­
    dern auch durch ständige Fühlungnahme mit den
    repräsentativen Gruppen unseres Volkes und durch
    eine umfassende Unterrichtung über die Regie­
    rungspolitik jeder Bürger die Möglichkeit erhält, an
    der Reform von Staat und Gesellschaft mitzuwirken.



  • (Abg. Dr. Barzel: Die Regierung will uns gnädigst
    anhören?! – Abg. Wehner: Beruhigen Sie sich! Das heißt
    neudeutsch ›Hearing‹, nichts anderes! – Abg. Dr. Bar-
    zel: Dann soll er es doch richtig sagen!)«
    CDU­Fraktionschef Rainer Barzel ist Brandts
    fleißigster Zwischenrufer (1972 wird er den Kanzler
    in einem Misstrauensvotum herausfordern und
    scheitern). Und er ist nicht der einzige Konservative,
    der fürchtet, »mehr Demokratie wagen« sei das Fei­
    genblatt eines neuen linken Autoritarismus.
    Beruhigen wird er sich bis zum Ende nicht, zumal
    Brandt da einen Satz formuliert, der sehr viel kühner
    ist als der viel zitierte zu Beginn. »Nein«, sagt er: »Wir
    stehen nicht am Ende unserer Demokratie, wir
    fangen erst richtig an.« Seine Vorgänger Ade nau er
    (CDU), Erhard (CDU), Kiesinger (CDU) waren
    also keine »richtigen« Demokraten? »Abg. Dr. Barzel:
    Das ist ein starkes Stück, Herr Bundeskanzler!«
    So meinte es Brandt wohl kaum. Doch sein Satz
    blieb deutungsoffen. »Wir stehen nicht am Ende
    unserer Demokratie« ließ sich auf vieles beziehen:
    auf die links wie rechts verbreitete Sorge, Bonn kön­
    ne doch noch Weimar werden; auf die Unruhe an­
    gesichts der Notstandsgesetze (»Notstand der


Demokratie!«); auf die Kritik an der großen Koa li­
tion, die zur Gründung der Apo führte, der außer­
parlamentarischen Op po si tion. Mancher sah die
Demokratie in den Sechzigern tatsächlich vor dem
Aus. Fing sie nun, mit Brandt, erst richtig an?
Aber ja. 1969, das war der erste »richtige« Re­
gierungswechsel, von der Union zur SPD. Ein Kanz­
lerwechsel dazu von einem ehemaligen NSDAP­
Mitglied zu einem Mann des Exils und des Wider­
stands. Nach seiner Wahl sagte Brandt einem Jour­
nalisten, Hitler habe »den Krieg erst jetzt
endgültig verloren: Ich verstehe mich
als Kanzler nicht eines besieg­
ten, sondern eines befrei­
ten Deutschland.«
Andererseits
griff Brandt
eher auf,
was

schon
im Gan­
ge war, als
Neues in Gang
zu setzen. Allen vo­
ran Gustav Heinemann
(SPD), im März 1969 zum
Bundespräsidenten gewählt, hat sei­
nem »Mehr Demokratie wagen« den Weg
ge ebnet. »Nicht weniger, sondern mehr Demokratie«
forderte er damals und hielt das revolutionäre Erbe
von 1848 hoch; in der Stuttgarter Zeitung wollte er
schon 1950 »Demokratie riskieren«. Dass man das
Grundgesetz erst noch mit Leben füllen müsse, damit
aus der Bundesrepublik eine »Demokratie mit
Demokraten« werde, war auch Ralf Dahrendorfs
Überzeugung. Jürgen Habermas, etwas radikaler, rief
1958 zu allgemeiner »Selbstbestimmung« auf.
Es war also nicht unbedingt gewagt, im Jahr 1969
»mehr Demokratie wagen« zu wollen. Nicht zuletzt
hatte Brandt selbst schon viele der kommenden
Reformen mit angestoßen – während der ungelieb­
ten Groko, die sich im Nachhinein als In ku ba tions­
pha se des Neuen erwies.
»Wir wollen mehr Demokratie waaagen«: Bedeu­
tungsschwer dehnt der gebürtige Lübecker das letzte
Wort. Aber was eigentlich gab es da zu wagen?
Vor allem mehr Jugend. Das war nicht selbstver­
ständlich: In Frankreich triumphierte nach dem
Pariser Mai der alte Charles de Gaulle mit harter
Hand, in den USA wurde der Republikaner Richard
Nixon Präsident und predigte (bei einer de facto
so zial demo kra ti schen Politik) law and order. Brandts
Rede hingegen wirkte wie inspiriert von einem
Schlüsselbegriff der amerikanischen Neuen Linken:
par ti ci pa tive democracy. Er versuchte, die revolutio­
nären Energien von 68 in demokratische Bahnen zu
lenken. Seine Ankündigung, das Wahlalter herab­
setzen zu wollen, von 21 auf 18 Jahre, war keine
Formsache, es war eine Einladung.
Dass die jungen Leute sie annehmen würden, war
nicht ausgemacht. Zumindest den intellektuellen
Köpfen von Rudi Dutschke bis Hans­Jürgen Krahl
erschien die parlamentarische Demokratie eher als
Problem denn als Lösung – als »plurale Fassung einer
Einheitspartei«, wie der Politologe Johannes Agnoli
meinte. Wenn vor lauter Re vo lu tion überhaupt von
Demokratie die Rede war, dachte man eher an die
rätedemokratischen Modelle der Zeit nach 1918 als
an Paulskirche und Bundestag.

21 17. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No^43 GESCHICHTE


Foto (Ausschnitt): J. H. Darchinger/Friedrich-Ebert-Stiftung


50 Jahre


»Mehr Demokratie


wagen«:


Willy Brandts


Ausspruch


zählt zu den


wirkmächtigsten


Zeitworten der


Nachkriegs­


geschichte. Was ist


aus seinem Appell


geworden?


VON CHRISTIAN STAAS

Ein sta rkes


Stück


Bonn, 28. Oktober 1969:
Willy Brandt hält
seine Antrittsrede
als Bundeskanzler

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