DIE ZEIT: Herr de Maizière, als Minister trugen Sie
in Ihrer Aktentasche immer ein Büchlein mit sich
herum: das Märchen Der kleine Häwelmann von
Theodor Storm. Worum geht es in diesem Buch?
Thomas de Maizière: Der kleine Häwelmann ist ein
Junge, der immer »Mehr, mehr, mehr« schreit. Nie-
mals ist er zufrieden, niemals sagt er: Es ist genug,
danke schön, oder gar: Es ist zu viel! Er will immer
nur mehr.
ZEIT: Warum hatten Sie dieses Buch dabei?
De Maizière: Dieses »Mehr, mehr, mehr« gibt es
auch in der Politik. Jeder möchte mehr: mehr Geld,
mehr Freiheit oder mehr Sicherheit. Bei Verhand-
lungen mit Verbandsvertretern und Lobbyisten habe
ich den Häwelmann gern mal aus meiner Tasche
gezogen. Am Ende des Buches wird der Häwelmann
übrigens als Strafe von der Sonne ins Meer gewor-
fen. Seitdem ich nicht mehr Minister bin, habe ich
dieses Buch aber nicht mehr dabei.
ZEIT: Sie sind jetzt Vorstandsvorsitzender der Tele-
kom Stiftung, die sich Bildungsfragen widmet. Was
heißt Bildung für Sie?
De Maizière: Im Deutschen trennen wir Bildung,
Ausbildung und Erziehung. In anderen Sprachen
gibt es diese Differenzierung so nicht. Im Lateini-
schen spricht man von educatio, im Englischen von
educa tion – damit sind immer Wissensvermitt-
lung, die Ausbildung von Fähigkeiten und Fertig-
keiten und Erziehung zusammen gemeint. Das ist
mir viel näher.
ZEIT: Warum?
De Maizière: Natürlich braucht man Wissen, um
sich in der Welt orientieren zu können. Wenn je-
mand im Internet schreibt, die Erde sei eine Scheibe,
ist das falsch, auch wenn derjenige 100.000 Follower
hat. Die Digitalisierung verändert die Welt jedoch
so rasant, dass niemand voraussagen kann, welches
Fachwissen Schulabgänger in zehn Jahren noch
brauchen. Überfachliche Fähigkeiten werden sicher
wichtiger. Schüler müssen stärker als bisher lernen,
wie sie sich selbstständig Wissen aneignen, einen
Sachverhalt beurteilen, ein Problem lösen können.
Dafür muss man beharrlich sein, diszipliniert, auch
kritisch oder resilient, wie wir neuerdings sagen –
und gleichzeitig spontan und kreativ.
ZEIT: Wie erfüllen unsere Schulen diesen Bil-
dungsauftrag?
De Maizière: Wir haben in Deutschland kein
Wissens vermittlungsdefizit. Wir haben aber ein
Erziehungsdefizit: Sich konzentrieren zu können,
höflich zu sein, solidarisch mit seinen Mitschülern
zu sein, auch mit den schwächeren, daran mangelt
es vielen Schülern und leider auch vielen Erwach-
senen. Ich komme aus Sachsen, und dort wurde
immer an klaren Kopfnoten festgehalten: Lernen,
Fleiß, Mitarbeit, Ordnung – auch das muss in
Schulen gelernt werden!
ZEIT: Schon vor 2500 Jahren klagten Lehrer darüber,
dass ihre Schüler schlecht erzogen seien.
De Maizière: Ich muss da die Schulen in Schutz
nehmen. Eltern dürfen ihre Erziehungsaufgaben
nicht einfach an die Pädagogen delegieren. Wenn
Kindergärten und Schulen die Einzigen sind, die da-
für sorgen, dass eine Mahlzeit gemeinsam begonnen
wird und gemeinsam endet, kann man sie nicht
dafür kritisieren, dass das nicht gelingt. Erziehung
ist schon eine Aufgabe für alle, zuerst natürlich für
Eltern. Viele Lehrer werden auch von Eltern ent-
mutigt: Wenn ein Lehrer einem Kind das Handy
wegnimmt, weil es unaufmerksam war im Unter-
richt, dann bedanken sich die Eltern nicht etwa
dafür, sondern fragen nach der Rechtsgrundlage.
Welcher Lehrer behält da den Mut zur Erziehung?
ZEIT: Sie sagen, Schule habe ein Erziehungsdefizit.
Mangelt es auch daran, den Schülern beizubringen,
was sie im Leben wirklich brauchen?
De Maizière: Mit dem Erziehungsdefizit meine ich
die Gesellschaft insgesamt. Aber natürlich auch die
Schule. Und da höre ich in der Tat oft: Schule müsse
auf die praktische Zukunft vorbereiten. Ich halte das
für eine verheerende Floskel. Soll etwa nur die Schule
einem beibringen, wie man sich gesund ernährt oder
dass man beim Fahrradfahren einen Helm aufsetzen
sollte? Der Kern von Bildung ist doch, einen Schüler
zu befähigen, verantwortlich darüber nachzudenken,
ob es klug ist, einen Helm aufzusetzen.
ZEIT: Jeden Freitag zeigen bei »Fridays for Fu ture«
Zehntausende Schülerinnen und Schüler, dass sie
genau das können, was Sie einfordern – diskutie-
ren, Informationen aufbereiten, auch: sich auf ein
Thema fokussieren.
De Maizière: Ich sehe diese Demonstrationen mit
Erstaunen und Respekt. Diese Jugendlichen sind
sehr reif und selbstverantwortlich. Trotzdem sehen
die meisten Schulen ihre Schüler nur als »die zu
Unterrichtenden« an. Das halte ich für falsch. Schüler
können in manchen Bereichen vielleicht sogar mehr
als Lehrer. Wenn sich Schulen an die alte Wissens-
hierarchie klammern, werden Schüler in die innere
Emigration gehen: Sie bringen sich ihre Sachen
dann anderswo bei als in der Schule. Warum bezieht
man Schüler bei der Notengebung nicht mehr ein
und fragt: Wie würden sie sich selbst beurteilen,
nach welchen Kriterien würden sie die Leistungen
anderer bewerten? Oder: Warum setzt man nicht
Schüler als Systemadministratoren für die digitale
Infrastruktur der Schule ein? Das können sie besser
als viele Lehrer.
ZEIT: Der frühere Innenminister sagt also: Es ist in
Ordnung, dass ihr die Schule schwänzt, um gegen
die Klimakrise zu protestieren?
De Maizière: Ich habe großen Respekt, weil die
Jugend lichen nicht nur demonstrieren, sondern mit
Neugier und Disziplin Klimakonzepte erarbeiten;
sie konfrontieren uns Erwachsene mit Wissen, das
wir so nicht haben. Einen permanenten Demons-
trationstag finde ich aber falsch.
ZEIT: Nehmen wir an, Sie wären Schulleiter eines
Gymnasiums und jeden Freitag bliebe die Hälfte
Ihrer Schülerschaft weg. Was würden Sie tun?
De Maizière: Wenn das dauerhaft geschieht, muss
man mit ihnen diskutieren – und letztlich Fehltage
eintragen und Ordnungsmaßnahmen ergreifen.
ZEIT: Sie wollen selbstständige Schüler und bestrafen
sie dann für ihre Selbstständigkeit?
De Maizière: Die Schulpflicht ist ein hohes Gut, weil
sie von allen verlangt, in ein allgemeinbildendes
Schulsystem zu gehen. Sonst melden reiche Leute ihre
Kinder ab und lassen sie von einem Privatlehrer
unterrichten. Ganz grundsätzlich muss ich mal sagen:
Selbstständigkeit heißt ja nicht Willkür. Zur Selbst-
ständigkeit erziehen heißt auch, zur Verantwortung
zu erziehen. Und zur Verantwor-
tung gehört, Grenzen zu kennen
und zu respektieren.
ZEIT: Sie haben sich sehr für eine
»Leitkultur« ausgesprochen. Ist
Schule auch dafür zuständig?
De Maizière: Ich verfechte den
Begriff, obwohl er umstritten ist.
Sie können das aber auch anders
nennen, Zusammenhalt etwa.
Leitkultur finden viele schlecht,
Zusammenhalt finden alle gut. Ich frage: Welches
Wissen muss Schule vermitteln, damit der Zusam-
menhalt in der Gesellschaft funktioniert? Ich bin
da altmodisch. Ich bestehe auf einem verbindli-
chen Basiswissen.
ZEIT: Was gehört dazu?
De Maizière: Ich möchte, dass alle, die eine deutsche
Schule verlassen, Goethes Faust gelesen haben. Jeder
sollte über die Rolle Deutschlands in der Mitte
Europas und den Holocaust Bescheid wissen. Ich
fände auch wichtig, dass die Schüler mal Bach oder
Brahms hören – zumindest sollten sie wissen, wer
das ist, auch wenn sie die Musik nicht mögen. Und
nicht zuletzt werden gute Kenntnisse in Mathe,
Naturwissenschaften, Informatik und Technik in
der digitalen Welt immer essenzieller.
ZEIT: Mit dem Thema Bildung kehren Sie nun
zurück an den Beginn Ihrer politischen Laufbahn.
Von 1990 bis 1994 waren Sie Staatssekretär im
Kultusministerium in Mecklenburg-Vorpommern.
Was hat sich seitdem verändert?
De Maizière: Es wird noch immer zu viel über Struk-
turen diskutiert – ob man Schüler nach der vierten
oder sechsten Klasse trennt zum Beispiel. Für Eltern
ist aber wichtiger, was im Unterricht passiert oder ob
der Unterricht überhaupt stattfindet oder ausfällt.
ZEIT: Eltern regen sich immens über den Lehrer-
mangel auf. Überall unterrichten Quereinsteiger mit
mangelnden pädagogischen Kenntnissen.
De Maizière: Wieso gelten die Seiteneinsteiger über-
all als Behelfslösung? Warum sehen wir es nicht als
Chance, dass jemand neue Erfahrungen mitbringt?
Vielleicht macht ein Musiker, der nun anfängt als
Musiklehrer zu arbeiten, einen anderen Unterricht
als einer, der schon seit 20 Jahren dabei ist. Wir
dürfen den Seiteneinsteigern doch nicht abtrainieren,
was sie Gutes von außen mitbringen. Ich möchte,
dass wir unseren Blick umdrehen und fragen, wie
wir Schule auch von außen nach innen verändern
können.
ZEIT: Was meinen Sie damit?
De Maizière: Das Leben von Schülern ist derzeit oft
zerhackt: Schule, Sportverein, Freundeskreis. Das
einzige ganzheitliche Element sind die sozialen
Medien. Warum betrachten wir das Leben nicht
ganzheitlich? Schulen sollten sich öffnen, sie müssen
Erlebnis- und Orientierungsräume für Dörfer und
Städte werden. In meinem Bundesland Sachsen gibt
es einige sehr dünn besiedelte Gebiete – da ist die
Schule oft die einzige soziale Einrichtung, die übrig
geblieben ist.
ZEIT: Wie sollte eine solche Dorfschule aussehen?
De Maizière: Die Schulleitungen sollten sich regel-
mäßig treffen mit dem Bürgermeister, den Sportver-
einen, der Feuerwehr, dem Roten Kreuz, der Stadt-
bibliothek – und überlegen, was sie gemeinsam für
den Ort beitragen können. Können wir Räume ge-
meinsam nutzen? Oder können Schüler ausgebildet
werden zu kleinen Rettungssanitätern?
ZEIT: Trauen Sie sich in Ihrer neuen Funktion auch
an die große Strukturfrage ran?
Das Bildungswesen zerfällt durch
die Kleinstaaterei der 16 Bundes-
länder. Brauchen wir nicht ein
Bundesschulministerium?
De Maizière: Ein solches Schul-
ministerium fände ich ganz
furchtbar. Ich habe die Bundes-
wehr geführt, mit 250.000 Mit-
arbeitern. Es gibt Grenzen der
Führungsfähigkeit von Großinsti-
tutionen. Ein einheitliches Schulsystem, das für
40.000 Schulen die Lehrerversorgung sicherstellen
soll, wird nicht effektiv funktionieren. Ein Gymna-
sium am Starnberger See ist anders zu führen als eine
Gesamtschule im Ruhrgebiet. Das spricht sehr für
Dezentralität. Der Bund könnte eher Träger einzelner
besonderer Institutionen sein, einer herausragenden
Universität zum Beispiel.
ZEIT: Diese Dezentralität hat den Preis, dass die
Leistungen von Schülern nicht vergleichbar sind. In
Thüringen ist der Abiturschnitt eine Drittelnote
besser als in Niedersachsen. Das ist ungerecht.
De Maizière: Es sollte beim Abitur verbindliche Maß-
stäbe geben. Zudem müssten die Abiturarbeiten über
Ländergrenzen hinweg korrigiert werden. Warum
soll nicht ein Lehrer aus Niedersachsen die Arbeit
eines Schülers aus Hamburg korrigieren? Damit
wird das Abitur vergleichbar, ohne dass wir gleich
das ganze System vereinheitlichen.
ZEIT: Warum kriegen die Länder das bislang nicht
hin?
De Maizière: Erstens ist Schule die Kernkompetenz
der Länder – da lässt sich niemand gern reinreden.
Zweitens ist die Schulpolitik sehr ideologisch –
selbst die Frage, ob fünf Schulfächer in der Abitur-
prüfung eine Überforderung sind, wird erbittert dis-
kutiert. Und drittens: Jeder weiß, dass das Niveau
unterschiedlich ist, es darf nur nicht drüber gere-
det werden.
ZEIT: Warum ist das ein Tabu?
De Maizière: Viele fürchten, dass das Niveau der
Abschlüsse dann zu schwer wird für die eigenen
Schüler. Dieselben Leute, die ein strenges und ver-
gleichbares Schulsystem fordern, fürchten, dass ihre
Kinder dann keinen Studienplatz in Medizin be-
kommen. Der frühere CDU-Kultusminister Werner
Remmers hat dieses Dilemma einmal in den treffen-
den Satz gefasst: »Die Schulpolitik der CDU ist ganz
einfach: Wir sind für das gegliederte Schulsystem,
aber mein Kind kommt aufs Gymnasium.«
ZEIT: Haben Sie Optimismus, dass das irgendwann
anders wird?
De Maizière: Kennen Sie das wunderbare Kinder-
buch mit der Geschichte vom kleinen Frederick?
ZEIT: Sie meinen die Maus, die Farben sammelt?
De Maizière: Ja. Im Sommer sammeln alle Mäuse
Körner für den Winter, nur Frederick macht nicht
mit – er träumt stattdessen und genießt die Sonne.
Die Mäuse kritisieren ihn, doch er sagt: Wartet mal
ab! Und dann kommt der Winter, es ist dunkel, die
Vorräte sind aufgebraucht, und die Mäuse werden
mutlos. Da kommt Frederick und erzählt von seinen
Träumen: wie schön die Sonne ist! Die Farben! Die
Musik! Plötzlich haben die Mäuse wieder Mut.
Schulen sollten Orte werden, an denen es viele
Fredericks gibt.
Das Gespräch führte Manuel J. Hartung
40 WISSEN 17. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 43
»Ich bin altmodisch.
Ich bestehe
auf Basiswissen«
Thomas de Maizière war Innenminister, heute setzt er sich für Bildung ein. Hier spricht
er über digitale Kompetenzen von Schülern, Abi-Standards – und höfliches Benehmen
DIGITALISIERUNG
Foto: Urban Zintel für DIE ZEIT
Thomas de Maizière, 65,
leitete erst das
Verteidigungs- und von
2013 bis 2018 das
Innenministerium.
Jetzt verantwortet er
die neue Strategie
der Telekom Stiftung
»Lernen, Fleiß, Mitarbeit,
Ordnung – auch das muss in
Schulen gelernt werden«
»Warum setzt man nicht Schüler
als Systemadministratoren für die
digitale Infrastruktur ein?«