Foto (Ausschnitt): George Cracknell Wright/ZUMA/ddp
Im Schlabberlook durch
die Weltgeschichte:
Dominic Cummings (re.)
mit Boris Johnson
Der Kopf des Premiers
Verrückt oder genial? Dominic Cummings ist der wichtigste Berater von Boris Johnson. Er führte die Brexit-Kampagne
zum Erfolg. Jetzt entscheidet sich, ob sein Plan aufgeht VON KHUÊ PHAM
London
W
er von Europa aus auf
London schaut, be-
kommt schnell das
Gefühl, dass die Re-
gierung dort die Kon-
trolle verloren habe.
Ein Mann allerdings
gilt als möglicher Gegenbeweis: als Stratege, der
hinter dem ganzen Wahnsinn stecken und ihn
bewusst inszeniert haben könnte. Das ist Do-
minic Cummings, der Chefberater von Boris
Johnson.
Bei jeder neuen irrwitzigen Wendung des
schier endlosen Brexit-Dramas fragt man sich, ob
sie vielleicht nur der nächste raffinierte Cum-
mings-Plan ist. Er gilt als verantwortlich für den
Versuch, das widerspenstige Parlament für fünf
Wochen zu suspendieren; die anschließende Aus-
einandersetzung der Regierung mit dem Obersten
Gericht; den Ausschluss von 21 Abgeordneten
aus der konservativen Unterhausfraktion; die
Ankündigung, dass Großbritannien die EU am
- Oktober notfalls ohne Deal verlassen werde;
die Drohungen gegen die Europäer, kommuni-
ziert durch anonyme Mitteilungen aus dem Sitz
des Premierministers in Downing Street.
»Wenn Dom nicht wäre, wären wir beim
Brexit heute nie so weit, wie wir es jetzt sind«,
sagt ein Insider aus »Vote Leave«, der Referen-
dumskampagne für den Austritt aus der EU,
der Cummings gut kennt. »Boris Johnson ist
sehr unentschieden, ihm geht es vor allem da-
rum, beliebt zu sein. Dom hingegen ist egal,
was andere von ihm denken. Ohne ihn wäre
Johnson längst eingeknickt.«
Um den Brexit zu verstehen, muss man also
versuchen, Dominic Cummings zu verstehen. Ist
er ein Zyniker der Macht? Verrückt? Ein Visionär?
Was treibt ihn an, was will er erreichen?
»Ich schätze ihn wirklich sehr, aber ich
hoffe, dass er scheitert«
Die Cummings-Legende beginnt mit seinem
Auftreten, denn darin steckt eine Botschaft. Als
Regierungsberater, der selbst kein gewählter
Politiker ist, sollte er eigentlich ein Mann im
Schatten sein. Stattdessen zirkulieren überall
Fotos und Videos von ihm. Stets ist er in nach-
lässiger Kleidung, aber an öffentlichkeitswirk-
samen Orten zu sehen: im T-Shirt in Downing
Street No. 10, in grauer Trainingsjacke auf dem
Tory-Parteitag in Manchester, mit Schlabber-
jacke im Portcullis House, wo die Abgeordne-
ten ihre Büros haben.
Cummings’ Kleidung wird oft diskutiert; sie
ist mehr als ein Verstoß gegen den allgemeinen
Dresscode. Sie ist ein Protestplakat, das er jedes
Mal an den Anzugträgern von Westminster vor-
beiträgt. Ein Ausdruck der Verachtung, die einer
der mächtigsten Männer des politischen Betriebs
gegenüber ebenjenem Betrieb empfindet.
Die Journalistin Lebby Eyres kennt Cum-
mings aus ihrer gemeinsamen Zeit in Oxford:
ein Geschichtsstudent mit hoher Stirn und
braunem Haar, der anfangs immer allein war,
mit seiner glänzenden Baseballjacke aber viel
Aufmerksamkeit auf sich zog. Schon damals,
in den 1990er-Jahren, war er anders als die an-
deren. Er sprach mit dem rauen Akzent des
englischen Nordens – er stammte aus der Ar-
beiterstadt Durham, die beim Referendum
Jahrzehnte später mehrheitlich für »Leave«
stimmen würde. Sein Vater arbeitete auf einer
Ölplattform, seine Mutter in einer Sonder-
schule; sein Onkel besaß einen Nachtclub, in
dem Cummings manchmal an der Kasse aushalf.
Weder trat er irgendwelchen Studentenclubs bei,
noch schien er an Mädchen interessiert zu sein.
Stattdessen kam er nachts manchmal bei seinen
Freunden vorbei, um Schach oder Würfelpoker zu
spielen.
Sprach Eyres mit ihm über Politik – was selten
vorkam –, stritten sie sich: Sie war Mitglied der
Labour-Partei, er machte sich über ihre linken und
feministischen Ansichten lustig. Nach seinem Einser-
Abschluss zog er nach Russland, wo er für eine
Fluggesellschaft arbeitete, die erfolglos eine neue
Route zwischen Wien und der Wolgastadt Samara
aufbauen wollte und, der Legende nach, bei ihrem
Probeflug ihren einzigen Passagier zurückließ.
Dass Cummings schließlich eine Frau aus der briti-
schen Aristokratie heiratete, hat Lebby Eyres und ihre
Freunde verwundert. »Es gibt da diesen seltsamen
Klassenkampf, der in ihm stattfindet«, sagt sie. Offen-
bar fühlt sich Cummings von der Elite gleichermaßen
angezogen wie abgestoßen. Er will Teil von ihr sein und
sie gleichzeitig bekämpfen; er braucht sie, um voran-
zukommen, hält sie aber für selbstgerecht, oberflächlich
und inkompetent.
Die erste große Gelegenheit, den Status quo zu
erschüttern, bekam Cummings 2011 als Berater im
Bildungsministerium unter Michael Gove, wo er als
»der Vollstrecker« bekannt war. Mit enormem Re-
formeifer – manche sprachen von »Wahn« – überar-
beiteten Gove und Cummings das Curriculum und
die Abschlussprüfungen und gründeten sogenannte
freie Schulen, die vom Staat finanziert, aber privat
geleitet werden sollten.
»Unsere Beamten waren von den Reformen am
Anfang nicht besonders angetan, weil sie darauf
zielten, den Einfluss des Ministeriums zu ver-
ringern«, sagt ein früherer Kollege aus dieser Zeit.
»Diesen Leuten gegenüber konnte Dominic ziem-
lich einschüchternd sein. Nach einer Weile sind
die, mit denen er nicht zurechtgekommen ist, ge-
gangen.« Cummings’ Abneigung gegen den briti-
schen Beamtenapparat, den er nach dem Brexit
möglichst entmachten will, stammt aus dieser
Zeit.
Der frühere Kollege ist hin- und hergerissen,
wenn es um das Wirken von Cummings geht. Einer-
seits, glaubt er, braucht es so einen Revolutionär, um
die britische Politik mutiger und effizienter zu ma-
chen. Andererseits fürchtet er, was passieren könnte,
wenn Cummings sein Talent und seine Energien auf
das falsche Ziel fokussiert. Weil er so anders ist, ist er
gut. Und weil er so gut ist, ist er gefährlich. »Ich
schätze ihn wirklich sehr, aber ich hoffe, dass er
scheitert.«
Das Brexit-Referendum im Jahr 2016 hat
dann dem Rebellen Cummings sein ganz gro-
ßes Thema gegeben. Die »Leave«-Kampagne
war ein Außenseiterprojekt: Die Regierung, die
großen Unternehmen, die Mehrheit im Parla-
ment, weite Teile der Medien traten für den
Verbleib in der EU ein. »Es sah so aus, als ob
wir verlieren würden«, sagt Matthew Elliott,
der damalige Geschäftsführer von »Vote Leave«.
Elliott hat Dominic Cummings damals als
Strategen für eine fast aussichtslose Schlacht
rekrutiert. Cummings ist ein langjähriger
EU-Kritiker; auf der Uni stand er unter dem
Einfluss seines euroskeptischen Geschichts-
professors Norman Stone, und die Europäische
Union erscheint ihm als Inbegriff undemokra-
tischer bürokratischer Fremdbestimmung.
Jetzt, in der »Leave«-Kampagne, drillte
Cummings die Politiker um Boris Johnson da-
rauf, alle komplizierten Argumente auf emo-
tionale Kurzbotschaften herunterzubrechen: den
Kontrollverlust durch die EU, die »Bedrohung«
durch den Beitrittskandidaten Türkei, das viele
Geld, das angeblich an die EU gezahlt wurde
und lieber an den Krankendienst NHS gehen
sollte. Dass die Summe von 350 Millionen
Pfund, die er auf einen roten Bus kleben ließ,
irreführend war, nahm er in Kauf. »Immer,
wenn sich jemand über die Zahl aufgeregt hat,
hat Dom nur genickt, weil sie wieder über uns
geredet haben und er sein Ziel damit erreicht
hatte«, sagt eine, die damals dabei war.
Je härter der Premierminister
angegriffen wird, desto besser für ihn
Nun will Cummings zu Ende bringen, was 2016
begonnen wurde. Er will den Brexit endlich um-
setzen – koste es, was es wolle.
Eine Woche bevor Boris Johnson Premier-
minister wurde, fragte er Cummings, ob er sein
Chefberater werden wolle; um den Job annehmen
zu können, sagte dieser eine Operation ab. Ein
früher Ratgeber von Boris Johnson beschreibt die
Konfrontationsstrategie, die jetzt verfolgt wird: Je
härter der Premierminister von seinen Gegnern
im Parlament, im Obersten Gericht oder in der
EU angegriffen werde, desto besser für ihn. »Es
stärkt das Narrativ, das Cummings geschaffen hat:
Boris versucht, den Brexit umzusetzen, wird aber
von dunklen Mächten davon abgehalten.« Um die
nächste, wahrscheinlich bald stattfindende Wahl
zu gewinnen, komme es vor allem darauf an, die
Anhänger der Brexit-Partei des unversöhnlichen
EU-Gegners Nigel Farage zu gewinnen. »Jede ver-
meintliche Niederlage hilft Johnson dabei.«
Doch was ist der Preis? Wie viel von seinen
Methoden verträgt sein Land?
Anders als andere Euroskeptiker träumt
Cummings nicht von einem Großbritannien,
das an den Ruhm seiner Kolonialzeit an-
knüpft; er ist nicht rückwärtsgewandt. Seine
Vision handelt von einem effizienteren, smar-
teren Land, wie er es seinerzeit im Bil dungs-
minis te rium schaffen wollte. Aber wie kann
Großbritannien eine Wissensmacht werden,
wenn doch die meisten Wissenschaftler im
Angesicht des Brexits vor einem Braindrain
und verlorenen Forschungsgeldern warnen?
Cummings will notfalls ein Ausscheiden aus
der EU ohne vertragliche Regelung riskieren
(No Deal) – doch wie soll ausgerechnet der
britische Be amten appa rat, den Cummings
doch für so unfähig hält, eine so komplexe
Aufgabe bewältigen? Dominic Cummings, der
so unheimlich fokussiert ist, wirkt zugleich für
die Folgen seines Handelns seltsam blind.
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- OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 43 POLITIK 7