Architectural Digest Germany - 11.2019

(coco) #1

Porträts: Chanel; Fotos: Chanel Watches (2)


Die Zukunft


ist j etzt!


Thomas du Pré de Saint-Maur, Kreativchef Horlogerie
von Chanel, über die Uhrenkampagne der neuen „J12“,
die Stärke der Frauen und Sekunden, die Leben verändern.

W


elche I dee steckt hinter Ihrer Uhren­
kampagne „It's All About Seconds“?
Wir w ollten ergründen, was Zeit heutzu­
tage für Frauen bedeutet. Auch wenn wir
alle di eselbe Zeit haben, differiert sie doch.
Im Sommerurlaub in Griechenland vergeht
die Zeit extrem schnell, weil wir glücklich
sind. In Paris können vier Minuten sehr
lange dauern. Zeit ist also etwas unendlich
Persönliches. Für die Kampagne sprachen
wir mit neun ikonischen Frauen aus ver­
schiedenen Kulturen und Altersgruppen
und filmten sie. Uns interessierten die Mo­
mente, die ihr Leben entscheidend ver­
ändert haben, in denen sie ihrer inneren
Stimme, ihrem Instinkt gefolgt sind.
Was ha t Sie an diesen Geschichten be­
sonders fasziniert?
Die Lo yalität, die die Frauen sich selbst ge­
genüber ha ben, hat mich tief beeindruckt.
Und b ei all dem Erfolg und Talent kommt
eine gr oße Menschlichkeit zum Vorschein.
Etwa w ennAli M acGraw erzählt, dass sie
durch eine Chanel­Anzeige fü r den Film
entdeckt wurde. Das war 1965. Dann die­
se unglaubliche Karriere und sie sagt nur:
„Der R est ist Geschichte!“ Genial.
In e iner Sekunde kann sich ein ganzes
Leben än dern. Das ist auch die Bot­
schaft Ih rer Kampagne ...
Ja, e ine Sekunde trennt die Zukunft von der
Vergangenheit. Wie bei Carole Bouquet, die
sich Sorgen machte, ob sie Kinder und Kar­

riere vereinbaren könnte. Bis zum Moment
der Geburt: Da war die Frage gelöst.
Gab es d enn eine Sekunde, die Ihr Le­
ben v erändert hat?
Der M oment, als i ch mir auf einer kleinen
griechischen Insel ein Boot kaufte. Diese
grenzenlose Freiheit!
Ist es di e Intuition, die Frauen heutzu­
tage e rfolgreich macht?
Intuition b edeutet, im Moment, nicht in
der Projektion zu sein. In einer Welt, in der
man s o mit Informationen überschwemmt
wird, di e so formatiert ist, dass viele darin
auch formatiert leben, ist es wesentlich,
sich auf sein ursprüngliches Gefühl zu
konzentrieren.Das ha t Gabrielle Chanel
übrigens immer getan. Vor allem wusste
sie ganz genau, was sie nicht mochte! Nur
wenn man sich selbst kennt, kann man ei­
nen S tandpunkt formulieren.Intuitionist
heutesicherein Schlüssel zum Erfolg.
Sie s ind ein großer Literaturfreund.
Welcher R oman erzählt die Geschichte
einer F rau am besten?
Eindeutig„Madame Bo vary“vonGustave
Flaubert. Aber auch „Die Prinzessin von
Clèves“ von M arie­Madeleine de La Fayette,

das ist ein großer Roman über die weibli­
che Li ebe. Nicht zu vergessen Madame de
Rênal in„Rot u nd Schwarz“vonStendhal.
Überhaupt kann man in der Literatur groß­
artig r eisen, es ist Geistesgymnastik.
Wann ha ben Sie die besten Ideen, und
wie en tstehen sie?
Beim S prechen! Ich kann nicht vor einem
weißen B latt Papier sitzen und mir etwas
ausdenken. Unmöglich. Meine Ideen kom­
menim A ustausch. Daher kann esüberall
sein.Ich r eite gern. Selbst da rede i ch mit
den P ferden.Auch w enn sie mir nicht ant­
worten,höre i ch nicht auf zu reden.Aber
auch tagträumen, sich mal zu langweilen
ist wichtig, um kreativ zu sein.
Zu Ih ren intellektuellen Säulen gehört
die A ntike. Inwieweit ist die Historie
ein Mi ttel, um die Zukunft zu gestalten?
Ich n utze sie jeden Tag, weil i ch Franzose
bin!Unsere K ultur istnunmal in d ­ er Ver
gangenheit verwurzelt. Da Chanel eine
französische Marke ist, verteidige ich unse­
re K ultur täglich. Es ist auch wichtig, die
Geschichte von Chanel zu verstehen und
von dort aus zu versuchen, den Zeitgeist
einzufangen. Für mich persönlich ist die
Antike die Zeit, die mich visuell am meis­
ten anregt. Das Archäologische Museum
von Neapel oder das Pergamonmuseum
zubesuchen is t immer wieder eine Offen­
barung. Genau wie meine Reise auf dem
Nil in Ägypten. Magisch! Ich frage mich
manchmal, wie es möglich ist, dass ich
mich mehr von etwas überwältigt und in­
spiriert fühle, das 2000 Jahre alt ist, als von
etwas, das nur 100 oder 200 Jahre zurück­
liegt.Aber das is tebenmein p ersönliches
Zeitempfinden(lacht)! • chanel.com

I nterviewNina L uisa Vesic

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