Handelsblatt - 18.10.2019

(Joyce) #1

der EU und aus Großbritannien besetzter gemein-
samer Ausschuss soll Kriterien für die Überwa-
chung von Importen entwickeln und Risiken von il-
legalen Importen in die EU minimieren. Völlig aus-
geschlossen werden könne das Risiko allerdings
nicht, räumte Barnier ein.
Drittens: Großbritannien verpflichtet sich, die in
Nordirland erhobenen Mehrwertsteuersätze an das
Niveau des Nachbarlandes Irland anzugleichen.
Viertens: Das Regionalparlament von Nordirland
bekommt ein Mitspracherecht über den Verbleib
der Provinz im regulatorischen Geltungsbereich
der EU. Einen Verbleib für vier Jahre muss das Re-
gionalparlament mit einfacher Mehrheit genehmi-
gen, einen Verbleib für acht Jahre mit Zweidrittel-
mehrheit. Falls gar keine Mehrheit zustande
kommt, verbleibt Nordirland nach Ablauf der im
Vertrag vorgesehenen Übergangsfristen noch zwei
Jahre im Geltungsbereich von EU-Zoll- und -Bin-
nenmarktgesetzen.


Neuwahlen nicht ausgeschlossen


Die Konservativen in Großbritannien feierten den
Premier für dieses Verhandlungsergebnis am Don-
nerstag als Sieger, weil er es geschafft habe, dass
die Europäer den Ausstiegsvertrag wieder aufge-
schnürt und den Backstop entfernt hätten. „Well
done, Boris“, twitterte die konservative Brexit-
Hardlinerin Andrea Jenkyns, die den bisherigen
Ausstiegsvertrag dreimal abgelehnt hatte.
Doch für die Mehrheit reicht das nicht. Ob John-
son die erforderlichen 320 Ja-Stimmen zusammen-
bekommt, wird in London unterschiedlich beur-
teilt: „Es ist möglich, wird aber nicht einfach“, sag-
te der frühere konservative Vizepremier David
Lidington dem Handelsblatt. Er habe aufgrund sei-
ner Gespräche mit Kollegen den Eindruck, dass die
meisten Hardliner der European Research Group


(ERG) dem Deal nun zustimmen würden. An deren
Widerstand war Theresa Mays Deal dreimal ge-
scheitert. Am Donnerstag erklärten mehrere ERG-
Mitglieder, nun für den Vertrag stimmen zu wollen.
Die nordirische DUP hingegen zeigte sich unver-
söhnlich. Man könne diesen Deal nicht unterstüt-
zen, teilte Johnsons Bündnispartner mit. Die Unio-
nisten fürchten, dass die vereinbarte Seegrenze
langfristig einen Keil zwischen Großbritannien und
Nordirland treibt. Bis zur letzten Minute hatte DUP-
Chefin Arlene Foster versucht, ihren Einfluss gel-
tend zu machen. Doch Johnson setzte sich über ih-
re Bedenken hinweg. Er will es offenbar riskieren,
auch ohne die zehn DUP-Stimmen den Vertrag
durch das Unterhaus zu bringen.
Die Abstimmung wird zu einer Nagelprobe. Oh-
ne die DUP ist Johnson darauf angewiesen, dass al-
le Konservativen und ehemaligen Tories sowie eine
zweistellige Zahl von Labour-Abgeordneten den
Vertrag unterstützen. Johnson setzt darauf, dass al-
le Abgeordneten aus Brexit-Hochburgen ein Inte-
resse daran haben, endlich einen Schlussstrich un-
ter die Debatte zu ziehen.
Experten halten es für unwahrscheinlich, dass
dies gelingt. Er bräuchte mindestens 15 bis 20 La-
bour-Unterstützer, schätzt Alan Wager vom Think-
tank UK in a Changing Europe. Er werde jedoch
nur eine einstellige Zahl bekommen. Auch Tim Ba-
le von der Queen Mary University in London zwei-
felt daran, dass Johnson genug Labour-Abgeordne-
te überzeugen kann. „Wenn sie eine realistische
Chance sehen, dass der Deal durchkommt, könn-
ten sie dafür stimmen“, sagte er. „Aber wenn sie
den Eindruck haben, dass der Vertrag ohnehin
durchfällt, werden sie es nicht riskieren, von der
Parteilinie abzuweichen.“
An diesem Problem war schon May gescheitert.
Sie hatte auf die Unterstützung von bis zu 40 La-

bour-Abgeordneten gehofft. Am Ende waren es je-
doch noch nie mehr als fünf gewesen.
Johnson kann auch nicht auf alle der 21 ehemali-
gen Konservativen zählen, die er im September aus
der Fraktion geworfen hatte. Nur gut die Hälfte
werde garantiert für den Deal stimmen, sagt Wa-
ger. Fünf seien Wackelkandidaten, darunter der
frühere Finanzminister Philip Hammond. Eine wei-
tere Handvoll würde gegen den Deal stimmen, weil
sie jede Form von Brexit stoppen wollten. Dazu
zählt etwa der dienstälteste Abgeordnete Kenneth
Clarke.
Es deutet also alles auf eine Niederlage Johnsons
hin. Sie werde noch einmal knapper ausfallen als
bei Mays drittem Anlauf im März, sagt Wager. Aber
er könne keine Mehrheit erkennen. Auch Bale hält
es für unwahrscheinlich, will es aber nicht kom-
plett ausschließen.
Fällt der Vertrag am Samstag im Unterhaus
durch, muss Johnson bis Mitternacht in Brüssel
um Brexit-Aufschub bitten. So schreibt es das bri-
tische Gesetz vor. Laut Lidington wird sich John-
son daran halten. „Er wird es unter Protest tun,
aber er wird diesen Brief absenden“, sagte der Ex-
Vizepremier. Wie lange die Verlängerung ausfällt,
müssten dann die EU-27 entscheiden. Als wahr-
scheinlich gilt ein Aufschub bis Ende Januar. Dies
wäre nicht genug Zeit, um ein zweites Referen-
dum in Großbritannien abzuhalten. Es ist auch
fraglich, ob die Frist für Neuwahlen reichen wür-
de. Für ein vorzeitiges Ende der Legislaturperiode
bräuchte Johnson eine Zweidrittelmehrheit im
Parlament – was ihm Labour bisher verwehrt. Cor-
byn will Neuwahlen allerdings zustimmen, wenn
Johnson den Brexit-Aufschub in Brüssel gesichert
hat.

> Kommentar Seite 17

Fischer demonstrieren
für den Brexit:
Der Austritt könnte
tatsächlich am 31.
Oktober erfolgen.

Die


Parlaments -


abstimmung


am Samstag


wird nur


der Beginn


eines langen


Prozesses


sein, einen


Austritts -


vertrag durch


das Unterhaus


zu bekommen.


Statement der DUP

HANDELSBLATT

REPUBLIK
IRLAND
EU

NORDIRLAND
Großbritannien

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C
H
E^

SE

E

Belfast

Dublin

Großbritannien

Einigung im Brexit-Streit
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WOCHENENDE 18./19./20. OKTOBER 2019, NR. 201
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