Ozan Demircan Istanbul
A
lper Kanca ist ent-
täuscht. „Gerade wenn
man denkt, dass die
Probleme weniger wer-
den und die Unsicher-
heit abnimmt, dann kommen solche
Nachrichten.“
Kanca ist Präsident des türkischen
Verbands für Automobilzulieferer
(Taysad) und hatte den Bau eines
Volkswagen-Werks nach Kräften un-
terstützt. Doch das Unternehmen
machte Anfang dieser Woche einen
Rückzieher, nachdem die Türkei we-
gen eines Militäreinsatzes in die Kri-
tik geraten war. „Wenn Sie denken,
alles läuft nach Plan, dann sind sol-
che Nachrichten deprimierend.“
So wie Kanca denken derzeit viele
türkische Unternehmer. Die Militärof-
fensive in Nordsyrien belastet die tür-
kische Wirtschaft. Die USA haben der
Türkei mehrmals mit massiven Sank-
tionen gedroht, sollte sie die Kurden-
milizen in Nordsyrien angreifen. Jetzt
machen die USA Ernst, erhöhen
Stahlzölle und belegten zwei Ministe-
rien und drei Minister mit Strafmaß-
nahmen.
Die türkische Wirtschaft reagiert
gelassen – noch. Doch es mehren
sich die Zeichen, dass Investoren
sich abwenden. „Die türkischen Fi-
nanzmärkte werden von einer massi-
ven politischen Agenda getrieben“,
heißt es in einer Analyse der türki-
schen Denizbank. Das heißt: Wenn
sich der Streit mit den Partnern nicht
legt, droht der Türkei ein erneuter
wirtschaftlicher Kollaps.
Schuld ist ein Militäreinsatz in
Nordsyrien. Der türkische Präsident
Recep Tayyip Erdogan ließ sein Mili-
tär dort einmarschieren, kurz nach-
dem US-Präsident Donald Trump sei-
ne eigenen Truppen aus der Region
abgezogen hatte. Die Türkei will dort
YPG-Milizen, die Verbindungen zur
Terrorgruppe PKK haben, von der
Grenze verdrängen und eine Sicher-
heitszone für Flüchtlinge schaffen.
Doch das Vorgehen der Türkei ern-
tete von der ersten Minute an inter-
nationale Kritik. Mehrere EU-Staaten
verweigern dem Land Waffenverkäu-
fe, darunter auch Deutschland.
Die US-Justiz hat außerdem die
staatliche Halkbank wegen Betrugs,
Geldwäsche und der Umgehung von
Iran-Sanktionen in Milliardenhöhe
angeklagt. Das „wagemutige“ Vorge-
hen der Bank sei von ranghohen tür-
kischen Regierungsvertretern unter-
stützt worden, die teils Millionen US-
Dollar Bestechungsgelder kassiert
hätten, erklärte der New Yorker
Staatsanwalt Geoffrey Berman. Nach
Ansicht der Anklage soll Halkbank
von 2012 bis 2016 rund 20 Milliarden
US-Dollar an iranischen Geldern ver-
schoben haben. Erdogan nannte die
Anklage „hässlich“.
Die USA wollen die Türkei dazu
zwingen, Verhandlungen mit der YPG
zu führen, die jahrelang von den
Amerikanern mit Geld und Waffen
unterstützt worden ist. Die Türkei set-
ze sich nicht mit „Terroristen“ an ei-
nen Tisch, betonte Erdogan. Er wird
sich am Donnerstag in Ankara aber
mit US-Vizepräsident Mike Pence und
-Außenminister Mike Pompeo zu Ge-
sprächen über die türkische Offensive
in Nordsyrien treffen. Das bestätigte
am Mittwoch sein Kommunikations-
direktor. Der türkische Präsident
wollte die Delegation zuerst gar nicht
empfangen, kündigte zwischenzeit-
lich aber an, dass er über eine Waf-
fenruhe rede, wenn sich die YPG aus
einem 30 Kilometer breiten Grenz-
streifen zur Türkei zurückziehe.
Solange die beiden Länder sich
nicht einigen, steigt der Druck auf die
türkische Wirtschaft. Auch wenn die
ersten Sanktionen der USA nicht di-
rekt auf türkische Unternehmen ab-
zielen, sind Investoren verunsichert.
Der Istanbuler Leitindex sinkt seit Be-
ginn der Offensive. Die Lira verlor
nur leicht an Wert, was auch mit Stüt-
zungskäufen türkischer Staatsbanken
zusammenhängt.
Die Sanktionen würden der Wirt-
schaft nicht direkt schaden, erklärt
Stéphane Colliac von Euler Hermes,
der Tochtergesellschaft für Exportkre-
dite im Versicherungskonzern Allianz.
„Aber der indirekte Einfluss über den
Wechselkurs, neue Schulden und eine
schlechtere Zahlungsbereitschaft hät-
te deutlich schärfere Konsequenzen“,
erläutern Colliac und seine Kollegen
in einer aktuellen Länderanalyse, die
dem Handelsblatt vorliegt. Die jüngs-
ten Zinssenkungen beschreiben die
Experten als „voreilig“, die Lira habe
seitdem bereits an Wert verloren. „Die
türkische Wirtschaft ist nicht immun
gegen einen neuen Schock.“
Das gilt auch für den Tourismus.
Schon einmal mieden viele Urlauber
das Land aus Angst vor Terror oder
aus „politischen Gründen“. Zurzeit
ist die Hochsaison vorbei. Sollte die
PKK oder die YPG wie zuletzt 2016
wieder mit Anschlägen in dem Land
drohen, könnte sich die Lage ändern.
Deutsche verschieben
ihre Investitionen
Für deutsche Unternehmen sei die
Türkei ein attraktiver Investitions-
und Wirtschaftsstandort, betont Thi-
lo Pahl, Delegierter der deutschen
Wirtschaft in der Türkei und Ge-
schäftsführer der Außenhandelskam-
mer in Istanbul. Doch die derzeitige
Unsicherheit verschlechtere das In-
vestitionsklima, ist auch er über-
zeugt. Demnach sei es aktuell wieder
schwierig, mit den Mutterhäusern
über zusätzliche Gelder zu verhan-
deln. Die würden „eher wieder aufge-
schoben statt angeschoben“.
Mit weiteren Sanktionen gegen die
Türkei könnte die Lira beispielsweise
weiter an Wert verlieren. Dann steigt
der Inflationsdruck, und die Noten-
bank müsste die Zinsen wieder anhe-
ben, „mit den entsprechenden
Bremseffekten für betriebliche Inves-
titionen“, erklärt Pahl.
Verbandspräsident Kanca will die
Hoffnung nicht aufgeben. „Wenn
Volkswagen rational und nicht ideo-
logisch verzerrt entscheidet, dann
halte ich die Türkei derzeit für die
beste Investition, die das Unterneh-
men tätigen kann.“ Der Automobil-
sektor in der Türkei sei stark, und er
wachse weiter. „Nicht in die Türkei
zu investieren, wird Volkswagen
ebenfalls bezahlen müssen.“
Für seine Branche macht er sich
keine großen Sorgen, seine Mitglie-
der verdienen das meiste Geld mit
dem Export. „Trotzdem hat die VW-
Entscheidung einen negativen Ein-
fluss, mindestens, was die Motivation
der Mitarbeiter angeht.“
Türkei
Erdogans Politik
verunsichert Unternehmer
Volkswagens Rückzug aus der Türkei zeigt, dass die Offensive in Nordsyrien
der Wirtschaft des Landes noch enorm schaden kann.
Türkische Wirtschaft unter Druck
Bruttoinlandsprodukt, real
Veränd. zum Vorjahr in Prozent
Deutsche Direktinvestitionen
Transaktionswert in Mrd. Euro
Börse Istanbul, Aktien-
index ISE 100 in Punkten
+5,
0,
+0,
0,
HANDELSBLATT
2003 20191 2003 2019
1) Prognose; 2) Direktinvestitionen in der Türkei; 3) 1. Halbjahr • Quellen: IWF, Deutsche Bundesbank, Bloomberg
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93 632 Pkt.
1.1.2019 16. 10.
110 000
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Wirtschaft & Politik
DONNERSTAG, 17. OKTOBER 2019, NR. 200
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