Neue Zürcher Zeitung - 15.10.2019

(Barry) #1

10 MEINUNG & DEBATTE Dienstag, 15. Oktober 2019


CYRIL ABAD

FOTO-TABLEAU

Wie es Gott gefällt 2/


Die Church of the Holy Communion an der
SixthAvenue in NewYork hat eine bewegte
Geschichte hinter sich. Mitte des19.Jahrhun-
derts im Stil des GothicRevival erbaut,
dientesie denAnglikanern als Gotteshaus,
doch die einst wohlhabende Gegend verkam,
die Gläubigen blieben aus. 1976 wurde der
Bauzunächst zumKulturzentrum umgewidmet,
nach nur zweiJahren übernahm ihn ein
Rehabilitationszentrum für Alkohol- und
Drogenabhängige.Auch dieses brachteauf
di eDauer die nötigen Mittel für Erhalt und
Betrieb des unter Denkmalschutzstehenden
Gebäudes nicht auf. Karriere machte die
Kirche erst wieder, als dort ein Klub einge-
richtet wurde:Das «Limelight», 1983 von
keinem Geringeren als AndyWarhol einge-
weiht, wurde zu einem der verruchtesten
Lokale der NewYorker Szene. Das trug
ironischerweise zu einer neuen Gentrifizierung
des Quartiers bei; 2010 mutierte die Kirche
nochmals und präsentiertesichals avantgar-
distische Shoppingmall. DieKundschaft
allerdings schien mehr an der ungewöhnlichen
Lokalität interessiert als an den angebotenen
Produkten–und Cyril AbadsAufnahme
dokumentiert nun das jüngsteRevival: Heute
logiert einFitnessklub in der Church of the
Holy Communion. Immerhin hat er sein
Angebot dem Geist der Lokalitätangepasst:
Man kann dortKurse wie «Divine Abs»,
«Muscle Mass» und «Salvation» belegen.

Unterwegs in eine moderne Zivilgesellschaft


Armenien erwacht – und Europa schaut weg

Gastkommentar
von MARKO MARTIN


Für die westliche Öffentlichkeit scheint der Um-
bruch, der letztesJahr unter dem Namen «Samtene
Revolution» in Armenien zu transparentenWah-
len und einem demokratischenRegierungswech-
sel geführt hat, weithin von geringem Interesse zu
sein.Dabei war in Erewan alles ohne jene Gewalt-
exzesse verlaufen,an die man sich im Nachbar-
land Georgien bereits gewöhnt zu haben scheint –
von der «Rosenrevolution» 2003 über das turbu-
lenteRegierungsende des autokratisch geworde-
nenRevolutionshelden Micheil Saakaschwili 2013
bis hin zu den jüngsten gewaltsamen Unruhen und
Polizeiübergriffen vor demParlament in Tbilissi.
DerleiTohuwabohu summarisch «dem Kaukasus»
zuzurechnen, zeugt jedoch – bestenfalls – von kul-
turalistisch verbrämter Ignoranz.
In Armenien nämlich hatte bei denWahlen im
Dezember ein breites Bündnis rund um diePar-
tei Zivilvertraggewonnen, die in den Monaten zu-
vor Hunderttausende in den Strassen der Haupt-
stadt mobilisiert hatte, um gegen das erzkorrupte
Regime von Präsident Sersch Sargsjan und dessen
RepublikanischerPartei zu demonstrieren. Doch
selbst der neue und bis heute ungemein populäre
Ministerpräsident NikolPaschinjan,Symbolfigur
der vorherigen Proteste, wird nicht als alleiniger
Sieger oder gar Heilsbringer betrachtet. Gleich-
wohl bekennen die für ihre historisch bedingte
Vorsicht und Zurückhaltung bekannten Arme-
nier inzwischen auch jenseits eines hauptstädtisch-
polyglotten Milieus, dass sie nun zum ersten Mal
in ihrer Geschichte eher zuversichtlich in die Zu-
kunft blicken.Waswiederum nicht allein an der er-
folgreichenTransformation eines autoritären Prä-
sidialsystems in eine parlamentarische Debatten-
demokratie liegen dürfte: Schliesslich hatte noch
2015 Präsident Sargsjan dieRolle des Minister-
präsidenten verfassungsmässig aufwerten lassen –
wenn auch mitder überaus durchsichtigen Absicht,
später selbst auf diesenPosten zu wechseln.


Abschiedvom Pomp


Was daraufhin seinen Untergang und das fast völ-
ligeVerschwinden der bis dato unangefochten
regierenden Staatspartei verursacht hatte, waren
indes nicht allein die Massenprotestegewesen, die
erstmals faire, nicht gefälschteWahlen erzwungen
hatten. Noch entscheidender war wohl eine spe-
zielle Gestimmtheit,die sich verblüffenderweise bis
heute gehalten hat.Viele der damalsAufbegehren-
den – Mitarbeiter von Menschenrechts-NGO oder
Think-Tanks, junge Leute aus der IT-Branche und
mit Auslandserfahrung–sind inzwischen Mitglied
derRegierung geworden oder haben ihre neuen
Parlamentarierbüros in den Saalfluchten eines noch


zu Sowjetzeitengebauten Riesengebäudes. Dass
MinisterpräsidentPaschinjan inzwischenTeile des
umgebenden Parks der Öffentlichkeit zugänglich
gemacht hat,ist dabei mehr als nur einkosmetischer
Bruch mit jenen pompösenRepräsentations-Usan-
cen, die auch nach dem Zerfall der UdSSR Arme-
nien drei lange, verloreneJahrzehnte geprägt haben.
«Transparenz und Integritätist dieWährung, die
wir sofort in Umlaufbringenkonnten, während die
ökonomischeTransformation desLandes ungleich
länger dauern wird.» HaykKonjoryan, einer jener
jungen Parlamentarier, deren entspannt-modi-
scher Habitus inkeinemWiderspruch zu ihrem
Fachwissen steht, weiss, wovon er spricht. Er und
seine Generationsgenossen der nunmehrregieren-
den Bürgerrechtspartei Zivilvertrag – dasDurch-
schnittsalter imParlament beträgt mittlerweile
35 Jahre–haben einen heruntergewirtschafteten,
kleptokratischen Staat geerbt, dessenWirtschafts-
undPolitikeliten entweder identisch waren oder
sichgegenseitig die Pfründe zuschoben.Konjoryan,
Vertreter Armeniens bei der OSZE, beschreibt des-
halb ebenso wie die neueParlamentsvizepräsiden-
tin eine möglicheVeränderung, die durchaus plau-
sibel klingt:Angesichts des neuen, vonKorruption
nicht infizierten politischenPersonals müssten Ge-
schäftsleute nun nicht mehr umParlaments- und
Ministerpostenrangeln undkönntensich–befreit
von derLast des Antichambrierens – endlich auf
ihre eigentlicheAufgabe, mit Erfolg zu geschäften,
konzentrieren, was wiederum dem Gesamtwohl zu-
gutekäme.

Keine Lust auf Schaukelpolitik


So pragmatisch-freundlich diejungenEntschei-
dungsträger aufFragenantworten, so angespannt
wird ihre Mimik, sobald dieRede auf mögliche
westliche Investitionenkommt. Unisono erklingt
dann das Mantra, dass man mit vielenLändern
guteWirtschaftsbeziehungen anstrebe, also auch
mit China, vor allem jedoch–mitRussland. Klar
und deutlich wird, dass dies der Preis ist für Mos-
kaus Stillhalten angesichts einerRevolution, die
dem merkantil-mafiösenAutoritarismus des post-
sowjetischenRaums klar vernehmbarAdieu sagt.
Bereits während der Strassenproteste vom letzten
Frühjahr – der grössten in der Ex-UdSSR seit dem
Kiewer Maidan-Aufstand 2013/14–stand deshalb
der heutige Ministerpräsident in engemKontakt
mit Armeniens traditioneller SchutzmachtRuss-
land. Es ging darum, die Ängste des Kremls vor
einer möglichen «Ukrainisierung» bereits imAn-
satz zu zerstreuen. So wird denn auch jetzt von
Regierungsseite ostentativ betont, dass der innen-
politische Kampf für eine transparente Demokra-
tie nichts an der aussenpolitischen Orientierung
ändere und das Ganze eine «regional begrenzte
Angelegenheit» sei.

Akademiker und NGO-Mitarbeiter, die nach
denWahlen vom Dezember 2019 nicht inRegie-
rung undParlament gewechselt waren, sprechen
das Dilemma der begrenzten Optionen deutlicher
an. Weshalb nämlich sollte Armenien,ohnehin im
geografischen Zangengriff der zwei feindlichen
Nachbarstaaten Aserbaidschan undTürkei, ange-
sichts der NervositätRusslands,einer mit sich selbst
beschäftigten EU und einer erratischenamerikani-
schenAussenpolitik eine selbstmörderische Schau-
kelpolitik betreiben? Derlandesweit bekannte

PolitikanalystTevan Poghosyan, der auchPaschin-
jan berät, kann deshalb durchaus polemisch wer-
den, wenn er harsch eine «Brüsseler Optik» kriti-
siert:«Welch Arroganz, uns als ‹prorussisch› oder
gar ‹proiranisch› zu beäugen.Wirsind gegenüber
diesen Nachbarn, die uns verlässlichdie Rohstoffe
liefern, auf die wir angewiesen sind, weder pro noch
contra, sondern vertreten einfach unsere armeni-
schen Interessen.»
Ohnehin buchstabiert sich imkonkreten All-
tagsleben vieleskomplexer, als es eine stureWer-
mit-wem-Perspektive wahrzunehmen vermag.So
kommt die Mehrzahl der ausländischenTouristen
am legendär azurblauen Sevan-See – der bereits
Anfang der dreissigerJahre den später ermordeten
Dichter Ossip Mandelstam begeisterte – zwar tat-
sächlich aus Iran.Es sind dies vor allem junge Leute
der unteren Mittelschicht,die sich Flugreisen nach
Westeuropa nicht leistenkönnen,sondern mit dem
Auto für verlängerteWochenenden nachArmenien
kommen.Gleich nach dem Grenzübertritt fallen bei
denFrauen die verhassten Tschadors, während sich
die Männer mit armenischemCognac eindecken.
Und was die vermeintliche Präferenz fürRuss-
land angeht:Das armenischekollektive Gedächt-
nis weiss sehr genau, dass nicht in Moskau, sondern
im Istanbul des jungtürkischenRegimes der Be-
fehl zum Genozid von 1915 erteilt worden war, der

bis heute dasTrauma Armeniens darstellt. Gleich-
zeitig hat niemandvergessen,dassauch unzählige
Armenier Opfer der stalinistischen Massenmorde
geworden sind, der Sowjetrepublik jedoch während
der Breschnew-Zeit ein unvergleichlich hohes Mass
an intellektueller und kulturellerFreiheit zugestan-
den wurde. Nicht zufällig trägt heute einer der be-
kanntesten PlätzeErewans den Namen von Andrei
Sacharow:Ja, an den international wohl berühm-
testen«antisowjetischen»Dissidenten wirdgar mit
einer Statue erinnert.

Realistischer Blickauf Russland


So eindeutig die Erwartungen bezüglichMenschen-
rechten jedoch auch sind, sorealistisch bleibt der
Blic k auf den grossen Nachbarn. So hatten wäh-
rend der Proteste gegen das alteRegime noch zahl-
reiche Demonstrantengefordert,Armeniens wei-
terenVerbleib in der russisch dominierten und da-
her ökonomischeher strangulierenden Eurasischen
Wirtschaftsunion–einer Art staatsautoritärer Ant-
wort auf die EU – von einemVolksreferendum
abhängig zu machen. Nun, da man selberRegie-
rungsverantwortung trägt, möchte diesesThema,
«das den russischenBären verärgernkönnte», lie-
ber niemand mehr ansprechen. Stattdessen wird
wiederum – in Hintergrundgesprächen ebenso wie
in den Medien – darauf insistiert, dass es entschei-
dend sei, zuerst den «eigenenLaden» in Ordnung
zu bringen und das althergebrachte Oligarchen-Ge-
kungel durch einen gerechtenWettbewerb zu erset-
zen. Solches nutze Armenien, schade jedoch nicht
dem riesigenRussland, das einer strukturdemo-
kratischenWandlung in einer kleinenRepublik an
seiner äussersten Südperipherie durchausDuldung
entgegenbringenkönne.
«Erewan 2019 ist nicht Prag 1968 und der Name
‹SamteneRevolution› eher eine Hommageauf
den friedlichenRegimewechsel von1989», sagt der
junge NGO-IntellektuelleDaniel Ioannisyan,derals
Gründer von Armeniens ersterFaktencheck-Web-
site nach derRevolution nicht in die aktivePolitik
gewechselt war. ZweiJahrzehntenach der gewalt-
samen Niederschlagung des tschechoslowakischen
Reformexperiments geboren, denkt er wie viele sei-
ner Landsleute ganz selbstverständlich in übergrei-
fenden historischen und geografischen Zusammen-
hängen.Das gerne zuKurzatmigkeit, Überheblich-
keit und Selbstzentrismus neigendeWesteuropa
täte gut daran, Armenien auf seinem gegenwärtigen
Wegineinemoderne Zivilgesellschaft dievon den
Menschen vor Ort ersehnte Sensibilität, Aufmerk-
samkeitund Sympathie zukommen zu lassen.

Marko Martinlebt als Schriftsteller und Publ izist in Berl in.
Vor kurzem ist in der Anderen Bibliothekder Essayband
«Dissi dentisches Denken. Reisen zu den Zeugen eines Zeit-
alters» erschienen.

Gleich nach dem Grenz­


übertritt fallen bei den


Iranerinnen die verhassten


Tschadors, während sich


die Iraner mit armenischem


Cognac eindecken.

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