Neue Zürcher Zeitung - 15.10.2019

(Barry) #1

14 SCHWEIZ Dienstag, 15. Oktober 2019


Wie die Schweiz versuchte,

im Völkerbund neutral zu bleiben

Nach dem Ersten Weltkrieg setzte n sich auch die Eidgenossen international für den Frieden ein – ein schwieriger Balanceakt


Vor hundertJahren begann


die Debatte um den Beitritt der


Schweiz zumVölkerbund.Volk


und Stände sagtenJadazu. In der


Folgezeit bliebenWidersprüche


zwischen multilateralem


Engagement und Neutralität


bestehen.


CHRISTOPH WEHRLI


«DerVölkerbund wirdleben,weil er
einWerk vonSolidarität und Liebe sein
muss.» Mit solchemPathos und solch
überhöhten Erwartungen begrüsst
Bundespräsident Giuseppe Motta am
15.November1920 dieTeilnehmer der
ersten Völkerbundsversammlung in
Genf. Er verschweigt zwar nicht «die
unvermeidlichen Unvollkommenhei-
ten» der neuen Organisation – für die
Schweiz fällt besonders ins Gewicht,
dass die USA überraschend fern-
geblieben sind und Deutschland nach
seiner Niederlage noch ausgeschlos-
sen ist.Aber Motta anerkennt dank-
bar denVersuch, nach der Katastro-
phe desWeltkriegs die Idee einerFrie-
densordnung in dieRealität zu holen.


Kompromiss über Sanktionen


Auch die Volksmehrheit, die am
16.Mai1920 dem Beitritt – mit knap-
pem Ständemehr – zugestimmt hat,
dürfte von einerAufbruchstimmung
mitgetragen worden sein. Denn der
Entscheidrelativiert die bewaffnete
Neutralität als das Prinzip derAussen-
politik und bedeutet einen Schritt vom
eher technischen Multilateralismus in
BereichenwieVerkehr undKommu-
nikation zum Engagement in einem
SystemkollektiverPolitik. DieVäter
desVölkerbunds wiederum, nament-
lichdie SiegermächteFrankreich und
Grossbritannien, sind der Schweiz ent-
gegengekommen, indem einKompro-
miss zwischen Mitgliedschaftspflich-
ten und Neutralität gefunden worden
ist. DenWeg dahin und die in der gan-
zen Zwischenkriegszeit fortwährende
Spannung zwischen nationaler und
internationaler Logik illustriert eine
soeben erschienene Publikation mit 50
wichtigen Dokumenten undVerweisen
auf weitere,online zugängliche Quel-
len (siehe Kasten).
Wichtige Promotoren desBeitritts
in derLandesregierung sind Gustave
Ador, der 1919 ungewöhnlicherweise
als Bundespräsident und auch nach
seinemRücktritt diplomatische Missio-
nen unternimmt oder leitet, undFelix
Calonder, dem imJanuar1920 Motta
alsAussenminister folgt. AlsRechts-
berater steht Max Huber hinter der
Botschaft, mit der dieRegierung am



  1. August 1919 den Beitrittsantrag be-
    gründet.Calonderhat schon imJuni
    1918 vor dem Nationalrat seine Über-
    zeugung geäussert: «KeinVolk kann
    lebendigeren Anteil an der Neugestal-
    tung der Staatengemeinschaft nehmen
    als die kleine Schweiz.»Für einen Staat
    wie sie «ist dierechtliche Ordnung ein
    Lebenselement, die Machtpolitik eine
    unverkennbare ständige Gefahr».Von
    der Neutralität, für die in derkollek-
    tivenFriedenssicherung an sichkein
    Platz ist, spricht er damals nicht. Sie ist
    aber für dasVolk «ein Dogma» (Ador),
    nach derVerschonung imWeltkrieg
    nicht weniger.
    Der Ausweg wird darin gesucht,
    dass sich die Schweiz von derTeil-
    nahme an militärischen Sanktionen
    gegen Friedensbrecher dispensieren
    lässt, dieVerpflichtung zu allfälligen
    wirtschaftlichen Zwangsmassnahmen
    aber anerkennt. Diese «differenzielle
    Neutralität» («neutralité précisée»)
    leuchtet nicht jedermann ein. DieLan-
    desverteidigungskommission, die der
    Bundesrat konsultiert, ist gespalten.
    Drei der fünfKorpskommandanten
    halten nur eine «absolute» Neutralität


für sinnvoll; wer sich an einer «Hunger-
blockade» beteilige, werde als Kriegs-
gegner betrachtet und behandelt, also
in einenKonflikt hineingezogen. Zwei
Mitglieder und der Departements-
chef geben demgegenüber zu beden-
ken, dass die Schweiz auch als Nicht-
mitglied vomVölkerbund gezwungen
werdenkönnte, bei wirtschaftlichen
Sanktionen mitzumachen; ohnehin
entscheide jederStaat nur nach seinen
eigenen Interessen,ob er die Neutrali-
tätrespektiere oder nicht.
NachVerhandlungen, in denen es
bis zuletzt um einzelneFormulierun-
gen geht, akzeptiert derVölkerbunds-
rat am 13.Februar1920 in London die
Position der Schweiz.Er verweistauf
deren «einzigartige Situation», die jahr-
hundertelangeTr adition und dieFrie-
densfunktion der Neutralität, die von
den Mächten 181 5 und eben erst im
VersaillerFriedensvertrag anerkannt
worden sei. Offenkundig liegt den
Hauptträgern desVölkerbunds an der
Beteiligung der Schweiz.Dass sie «ein
ursprüngliches Mitglied» werde, liege
«im höchsten Interesse desVölker-
bunds», sagtArthurBalfour, derVer-
treter Grossbritanniens.

Engagementund Vorbehalte

In den folgenden zweiJahrzehnten er-
weist sich die Schweiz teils als aktives
undkonstruktives, teils alsreservier-
tesMitglied der Gemeinschaft. Ein-
zelnePersönlichkeiten erfüllen wich-
tige Mandate, unter ihnen alt Bun-
desrat Calonder als Präsident der

deutsch-polnischenKommission für
das aufgeteilte Oberschlesien (1922 bis
1937) und CarlJacob Burckhardt als
HoherKommissar für dieFreie Stadt
Danzig (1 93 7 bis1939).
Ein Interessenkonflikt ergibt sich
nicht zuletzt bei der Stellung der
älteren internationalen Zusammen-
schlüsse. Die Schweiz hat als Sitz-
staat beispielsweise desTelegrafen-
und desWeltpostvereins ein Oberauf-
sichtsrecht und besetzt auch die Direk-
torenposten. Sie stellt sich gegen das
Bestreben, diese Organisationen dem
Völkerbund «unterzuordnen», wie es
in dessen Satzung vorgesehen ist. Sie
begründet dies mit dem Argument,
dass jene Staaten, die demVölker-
bund selber nicht angehören, gegen-
über den Mitgliedern «einerechtlich
inferiore Stellungeinnehmen würden».
DiePosition verändert sich auch nach
dem BeitrittDeutschlands1926 nicht,
zeugt also wohl auch von einer Skepsis
gegenüber den in Genf dominierenden
Grossmächten.
Eherargwöhnisch ist der Bundesrat
imWeiteren, wenntraditionell natio-
nalstaatliche Domänen durch gemein-
sameVorgaben internationalisiert zu
werden drohen.Vorschläge beispiels-
weise, derVölkerbund sollte sich um
eine nichtnationalistische Bildung
kümmern, lehnt er als «Zersplitterung
der Tätigkeit» ab. DieFrauenverbände
beteuern schon 1919 ineiner Eingabe
taktisch geschickt, «wir Schweizer
Frauen» würden das Stimmrecht lieber
demParlament verdanken «als irgend-
einem Statut des von derWelt erwar-

tetenVölkerbundes». Der Bundesrat
seinerseits verlangt später vonseiner
Delegation «grösste Zurückhaltung»,
was dasTr aktandum «Stellung der
Frau» angeht.Dass erKonventionen
über das Arbeitsrecht auch innenpoli-
tisch beurteilt, versteht sich von selbst.
Bemerkenswert ist, dass der Direktor
des Internationalen Arbeitsamts 1920
befürchtet, das Referendum gegen
denAchtstundentag bei denBahnen
könnte dem Anliegen auf internatio-
naler Ebene «einen schweren Schlag»
versetzen, und wie schlecht er ver-
steht, dass Bundesrat Edmund Schult-
hess mit weitergehenden Engagements
vorsichtig ist.

Unterschiedlich viel Mut

Im Bereich der klassischenAussen-
politik zeigt sich schon bald, dass die
differenzielle NeutralitätkeinPatent-
rezept ist.1921 plant derVölkerbund
eine Abstimmung in der von Litauen
und Polen beanspruchten Region
Wilna, und für dieTr uppen, die die-
sen Prozess absichern sollen, ersucht
das federführendeFrankreich vorsorg-
lich um einDurchzugsrecht. Es han-
delt sich umkeine Sanktion,eher um
einen polizeilichen Einsatz, doch sind
allenfallsWeiterungen zu befürchten.
Der Bundesratlehnt die Anfrage ab,
im Einklang mit der öffentlichen Mei-
nung – findetaber imAuslandkein
Verständnis. «Konsternation» vermel-
det der Gesandte aus Belgien nach
Bern; es liege sogar in der Luft, Brüs-
sel, das seinerzeit Genf unterlag, wie-
der als Sitz desVölkerbunds ins Spiel
zu bringen. Der Disput bleibt aller-
dingseher symbolisch.
Gewissermassen unnötig eigenwillig
handelt die Schweiz, als es1934 um die
Aufnahme der Sowjetunion geht.Ent-
gegen dem Prinzip möglichst universa-
ler Beziehungen beharrt der Bundes-
rat darauf, derkommunistischen Macht
jedeAnerkennung zu verweigern. Die
Rede des Katholisch-Konservativen
Motta in der zuständigenVölkerbunds-
kommission ist so leidenschaftlich, dass
man ihm kaum ein Kalkül unterstellen
kann, auch wenn er sich auf einen «klar
ausgesprochenen nationalenWillen»
beruft und damit auf den Druck aus
der Öffentlichkeit hinweist. Er misst
das MoskauerRegime am «obersten
Sinn und Zweck» derVölkerbunds-
satzung und nennt denKommunis-
mus «die gründlichste Verneinung
aller Ideen, auf denen unserWesen

und unser Leben beruht». Zum Argu-
ment, es gehe umFriedenssicherung
und nicht um Moral, meint er kühn,
«der Opportunismus,selbst der bestbe-
gründeteund von hohen Erwägungen
ausgehende Opportunismus» sei der
Schweiz «manchmal ganz einfach ver-
boten». «Wir können auf die Idee, dass
wenigstens ein Minimum von morali-
scher und politischerVerwandtschaft
zwischen den Staaten bestehen sollte,
nicht verzichten zugunsten des Grund-
satzes der Universalität.» Nur die Nie-
derlande undPortugal stimmen eben-
falls Nein.

Ein Schrittzurück

In den dreissigerJahren hat derVöl-
kerbund seinen Höhepunktschonhin-
ter sich. Seine Untätigkeit nach dem
japanischen Angriffauf China 1931
macht deutlich, dasses der Sicher-
heitsorganisation anAutorität oder
führenden Mitgliedern am nötigen
Willen mangelt. Nazi-Deutschland tritt
1933 aus undbeschreitet seinenWeg
zum Krieg. 1935 verletzt Italien seine
Friedenspflichtkrass,indem es Abes-
sinien erobert. Die darauffolgenden
Sanktionen desVölkerbunds bringen
die Schweizerstmals ineinhandfes-
tes Dilemma. Sie sperrt zwar dieRüs-
tungslieferungen,behandelt aber das
OpferÄthiopien gleichwie den Täter
Italien,weil sie das Neutralitätsrecht
über denVölkerbundsbeschluss stellt.
Beim Importverbot verweist sie auf
ihre«wirklich völligeAusnahmesitua-
tion», dieengen Beziehungen der Süd-
schweiz zu Italien, undauf zuerwar-

tendeGegenmassnahmen, die 10 000
Personen arbeitslos machen wür-
den. So weicht sie derTeilnahme am
Handelsembargo aus, beschränkt den
Warenverkehr aber auf den bisheri-
gen Umfang,den «courant normal»,
wie man später sagt.
Obwohl derVölkerbund nach eini-
gen Monatenseine Sanktionen wie-
der aufhebt, will der Bundesrat sol-
cheSituationen in Zukunft vermei-
den, indem er zur «integralen» Neutra-
lität zurückkehrt.1938 erreicht Motta
tatsächlich, dass derVölkerbundsrat
der Schweiz nochmals eine Sonder-
stellung zuerkennt, underklärt, dass
er sie nicht mehrzurTeilnahmean
Sanktionen einladen werde. Der Schritt
galt früheren Historikern als «diplo-
matisches Meisterstück» (JeanRudolf
von Salis, 1940) und als «Befreiung aus
Zweideutigkeit» (Hans von Greyerz,
1961/1977), wirdin neuerer Zeit hin-
gegen als «eher unrühmliches Ende»
der differenziellen Neutralität (Carlo
Moos, 20 01 ) und als Schwächung des
Völkerbunds(Sacha Zala, 20 14) be-
urteilt. Die seinerzeitigenKonsequen-
zen sind begrenzt. Eine davon ist merk-
würdigerweise,dass sichdie Schweiz
1939 beimAusschluss der Sowjetunion
wegen ihres Angriffs aufFinnland der
Stimme enthält.
Tr otz gemischten Erfahrungen
spricht Bundesrat MaxPetitpierre an
der letztenVölkerbundsversammlung
1946 von «melancholischen Gefühlen».
Inzwischen ist die Uno gegründet wor-
den, doch ohne die Schweiz – «mein
Land wird vor einer Leere stehen».

Bundesrat Giuseppe Motta trifft1938 Delegierte der Mitgliedstaaten desVölkerbunds in Genf. PHOTOPRESS / KEYSTONE

Drei Epochen des Multilateralismus


CW.·DieForschungsstelle Diplomati-
sche Dokumente der Schweiz(Dodis)
in Bern publiziert seit1979 ausgewählte
Quellen zu den internationalen Bezie-
hungen des Bundesstaats und beteiligt
sich auch direkt an der historischen Er-
forschung derAussenpolitik. Hundert
Jahrenach der Etablierung von Genf als
Zentrum des Multilateralismus macht
Dodis 50 Schlüsseldokumente über die
Schweiz als Mitglied desVölkerbunds
besser zugänglich. Sacha Zala, Leiter
derForschungsgruppe, und MarcPerre-
noud präsentierenkeine Neuentdeckun-
gen – 34 Stücke wurdenschon in frühe-
ren Bänden veröffentlicht –, sondern bie-
ten einen Überblick und einen Einstieg
in 400 weitere, elektronisch greifbare

Akten,die wegenWechseln im Signatur-
system des Bundesarchivs neu erschlos-
sen werden mussten. Die Publikation ist
das Mittelstück einer kleinenSerie,die
imkommendenJahrkomplettiert wer-
den soll. Im erstenTeil wird es um die
Zeit von1863 bis 1914 gehen, als die
Schweiz eine aktiveRolle beimAufbau
internationaler Organisationen spielte.
Dasdritte Heftwirdden langenWegin
die Uno (1942–2002) dokumentieren.

SachaZalaundMarcPerrenoud(Hg.):La
Suisseetlaconstruction dumultilatéralisme.
Vol. 2 :Documents diplomatiquessuissessur
l’historie de laSociétédes Nations 1918–1 94 6.
Bern 2019. 180 S.BestellungundGratis-
Download: http://www.dodis.ch.

«KeinVo lk kann
lebendigeren Anteil
an der Neugestaltung
der Staatengemeinschaft
nehmen als
die kleine Schweiz.»

Felix Calonder
EhemaligerAussenminister
Free download pdf