Neue Zürcher Zeitung - 15.10.2019

(Barry) #1

Dienstag, 15. Oktober 2019 WIRTSCHAFT 27


Zwischen Brexit und Unabhängigkeit


Das Chaos um den EU-Austritt befeuer t Sezessionswünsche der Schotten – Unternehmen befinden sich in einer verzwickten Lage


BENJAMIN TRIEBE, EDINBURG


Keiner kann sagen, die Schotten seien
nicht geschäftstüchtig. ImJahr 1820
musste auf einemFriedhof in Edinburg
ein steinernerWachturm errichtet wer-
den. Zu jener Zeit waren die medizini-
schen Instituteder schottischen Haupt-
stadt europaweit führend auf dem Gebiet
der Anatomie, und für dieseForschung
brauchte man Leichen – proJa hr etwa
zehnmal mehr als jene fünfzig Kriminel-
len, die gehängt wurden.DieKörper wur-
denvon skrupellosen «Lieferanten» kur-
zerhand aus ihren Gräbern gegraben, was
dieWachen verhindern sollten.
Mittlerweile ist das Geschäft mit Lei-
chen in Schottland einen verdientenTo d
gestorben.Dafür werden nun alte Ideen
aus ihren Gräbern geholt, und auch über
neue Wachtürme wird nachgedacht.
Nicht aufFriedhöfen, sondern an der
Grenze zu England. Grund sind der Bre-
xit und die schottischeUnabhängigkeit.
DieBevölkerung des britischen Nordens
votierte imJuni 20 16 beim Brexit-Refe-
rendum mit 62% der Stimmen gegen den
EU-Austritt. Schottland möchteTeil der
EU bleiben.Daran hängt dieFrage, ob es
auchTeil desVereinigtenKönigreiches
bleiben will. 20 14 waren bei einerVolks-
abstimmung 55% der Schotten dafür,
aber da sprach noch niemand vom Bre-
xit.Jetzt trommeln die Nationalisten für
eine zweite Abstimmung.
Wie es mit dem Brexit weitergeht,
steht auf der Kippe. London und Brüs-
sel unternehmen einen letzten Ver-
such,sichauf eine Lösung für dieinner-
irische Grenze zu einigen, um in weni-
genWochen einen geregeltenAustritt zu
ermöglichen. Doch auch wenn die Eini-
gung gelingt, ist nicht klar, ob sie es durch
das britischeParlament schafft.Undnach
einemAusstieg muss erst noch verhan-
delt werden, wie die Handelsbeziehung
zur EU letztlich aussieht, wenn eine
mehrjährige Übergangsphase ausläuft.


Frustrierende Hängepartie


DieFrage nach dem bestmöglichenAus-
weg ist schwer zu beantworten.«Wenn es
einePartei gibt, die verspricht, gar nichts
zu tun, würde ich für sie stimmen», sagt
etwasratlosTimDew,der in Edinburg
ein Softwareunternehmen führt. Michael
Field, der dort einen Druckdienstleister
gegründet hat, wünscht sich vor allem
Klarheit:«Viele schottische Unterneh-
mer waren für denVerbleib in der EU.
Aber jetzt würden sie wohl lieber zur
Not ohne ein Abkommen aussteigen, als
immer mutmassen zu müssen, was die
nahe Zukunft bringt», sagt er. Einen No-
Deal-Brexit hältField inzwischen für bes-
ser als einen weiteren langenAufschub.
Aber er gibt auch zu: «Der Status quo
wäre schön, ohne Zölle auf Importe.»
Das Brexit-Durcheinander fordert
einenTr ibut.Field leitetWorkflo Solu-
tions, eineFirma mit 20 Mitarbeitern, die
Drucker, Scanner undKopierer an Be-
triebe verleiht und Support anbietet,etwa
zur Digitalisierung desRechnungswesens.
2000 seiner Drucker stehen bei 700Kun-


den.Jüngst hatField in Spanien Ersatz-
teile bestellt, seine wichtigsten Zuliefe-
rer sind imAusland. DieRechnung über
14000 € war aber fehlerhaft und musste
ein paarmal überarbeitet werden.Wäh-
rend das geschah, brach der Pfundkurs
ein, weil Premierminister BorisJohnson
in einer Brexit-Rede einen falschenTo n
angeschlagen hatte. Die Bestellung wurde
fürField schlagartig teurer.
Es war nicht das erste Mal, dass der
39-jährige Unternehmer den EU-Aus-
stieg in der Kasse spürte. Schon vor
einem halbenJahr drohte ein ungeregel-
ter Brexit,undField tat, was vieleFir-
men taten: Er stockte dasLager auf, um
sich gegen einen Unterbruch der Liefer-
ketten abzusichern,falls dieLastwagen in
den Zollkontrollen hängenbleiben soll-
ten. Statt wie üblich Ersatzteile imWert
von 150000 £ vorzuhalten, stockteer auf
250000 £ auf. «Wir hatten zum Glück
das nötige Geld», sagtField. Den hohen
Lagerbestand hat er seither gehalten.
Aber irgendwann muss dasLager auf-
gefüllt werden, und wenn derWechsel-
kurs dann ungünstig sei,könnten das die
Kunden über Preiserhöhungen spüren.
Der Brexit hat die britische und auch
die schottischeWirtschaft ab 20 16 zu-
erst in einen Sinkflug und jüngst auf
eineAchterbahnfahrt geschickt. Die
vonVorsicht getriebene höhereLager-
haltung liess das Bruttoinlandprodukt
vonJanuar bis März 20 19 noch stark
wachsen, doch von April bisJuni folgte
der Kater inForm einer Schrumpfung.
Die schottischeWirtschaftsleistung sank
um 0,3% zumVorquartal, die ersteKon-
traktion seit 2016. Bei einem ungünsti-

gen Brexit-Verlauf, vor allem beieinem
ungeregelten EU-Austritt, droht ein
weitaus grösserer und länger anhalten-
derRückgang.
MichaelField bereitet eineRezession
wenig Sorgen, obwohl er nur auf dem
Inlandsmarkt verkauft. Field hatWork-
flo Solutions imJahr 2007 gegründet,
etwas naiv und aus einem Impuls heraus,
wie er sagt.Dann kam die internatio-
naleFinanzkrise, die eineRezession aus-
löste.«Aber das hat uns geholfen, weil

sich dieFirmen ihrer Betriebskosten be-
wusst wurden. Sie waren bereit, ihre Lie-
feranten zu wechseln.» Es werde immer
eine Nachfrage nach seinen Dienstleis-
tungen rund um den Druckbereich ge-
ben, meintField überzeugt.Beim Brexit-
ReferendumimJahr 20 16 gehörteField
demAustrittslager an – eine Minderhei-
tenposition in Schottland. BeiTim Dew
ist es anders. Der 47-Jährige stimmte für
denVerbleib in der EU. Er sei seingan-
zes Leben Unternehmer gewesen, und
er habe den Erfolg nicht wegen der wirt-

schaftlichenTurbulenzen eines EU-Aus-
stiegs aufs Spiel setzen wollen. «Das war
egoistisch,aber ich unterstützte auch das
Friedensprojekt, das die EU ist», sagt
Dew–wenngleich ihn die Überregulie-
rung aus Brüssel stört.
Dabei istTim Dew nicht einmal
Schotte.Michael Field stammt aus
Livingston nahe Edinburg, dort sind
seineWurzeln, dort hat er seineFirma
aufgebaut, dort will er bleiben. Dew
hingegen ist Engländer, studierte aber
in Schottland, verliebte sich dort, heira-
tete und blieb so in Edinburg hängen.
Dort gründete Dew vor fast dreiJahren
GamesWithoutFrontiers (GWF).Fünf
Mitarbeiter zählt GWF, und tatsäch-
lich werden dort Spiele entwickelt, aber
nicht für dieFreizeit. «Ich wollte eine
Umgebung schaffen, die Leuten in nur
einemTag beibringt, wiesieeineFirma
optimieren», sagt Dew.

Sorgenfaktor Bürokratie


GWF hat eine Simulation entworfen,
bei derVertreter aus unterschiedlichen
Abteilungen eines Unternehmens in
einemRaum zusammenkommen und
unter grossem Zeitdruck Geschäftsent-
scheide treffen müssen.Das zwingtdie
Teilnehmer, das Silodenken ihrer Abtei-
lung aufzugeben,zukommunizieren und
zukooperieren.Das soll dasVerständ-
nis für dieKomplexität derFirma und
die Empathieuntereinander stärken.
Ein Spiel sollte es sein, weil Menschen
leichter etwaslernten, wenn sie es tat-
sächlich täten, so Dew. DieKunden von
GWF nutzen das Computerprogramm
unter anderem zurFortbildung, zum
Testen von Bewerbern oder zurVerbes-
serung desTeamworks.
Dewreist oft von Schottland nach
London, um das Spiel potenziellen
Kunden vorzustellen. Gerade war er
bei einemKonsumgüterkonzern,deres
zumTr aining seiner weltweit 70 00 Ver-
triebs- und Marketingvertreter einset-
zenkönnte. Die Softwarewirdschon
ins Niederländische übersetzt, bald folgt
Deutsch. Anders alsField denkt Dew an
den Export, und der bereitet ihm beim
Brexit Sorgen: «Jüngst habe ich achtTage
gebraucht, um die steuerrechtlichenFra-
gen für denVerkauf unserer Software
nach Indien zu verstehen. Ich will nicht,
dass es in unserem künftigenVerhältnis
zur EU genauso wird», sagt er.
Obgleich er Engländer ist, dürfte Dew
damit vielen Schotten aus der Seele spre-
chen. Die Unzufriedenheit über den Bre-
xit-Verlauf spiegeltsich in zunehmender
Unterstützung einer schottischen Unab-
hängigkeit. EinekombinierteAuswer-
tung von sechs in diesemJahr abgehal-

tenen Meinungsumfragen fand eine Zu-
stimmung von 49% (unterAuslassung
von unentschiedenen Antworten). Im
zweiten Halbjahr 20 18 betrug die Zu-
stimmung erst 45%. Die Scottish Natio-
nalParty (SNP), welche dieRegierung
in Edinburg führt, versucht aus dem Bre-
xit-Durcheinander möglichst viel Kapi-
tal für ein neues Unabhängigkeitsreferen-
dum zu schlagen. Dew sagt, er müsse erst
noch überzeugt werden, dass es Schott-
land ohne Mitgliedschaft imVereinigten
Königreich wirtschaftlich besser ergehe
(vgl. Zusatz).
Auf der anderen Seite: «Meine Iden-
tität ist britisch, aber ich verstehe, dass
die Schotten wirklich unglücklich über
London sind», sagt Dew. Sorgen macht
er sich über den Zusammenhalt auf der
Insel. Bei derVolksabstimmung imJahr
2014 habe sich dieAversion gegen den
Londoner Politbetrieb manchmal in
Aversion gegen England verwandelt.
Freunde hätten ihn wegen seines eng-
lischen Akzents angebrülltund als per-
sönlichenVertreter vonWestminster be-
trachtet. «Ich warimmerstolz auf unsere
britische Intoleranz gegenüber Intole-
ranz, aber die Atmosphäre hat sich ver-
ändert», so Dew.

Keinzweites EU-Referendum


Der Schotte MichaelField stimmte im
Jahr 20 14 für denVerbleib imVereinig-
tenKönigreich. Diesmal hofft er, dass so
schnellkein zweites Unabhängigkeits-
referendum stattfindet. Nicht nur wegen
der möglichen Unruhe an denFinanz-
märktenund desWechselkurses. Work-
flo Solutions möchte mittels Akquisi-
tionen wachsen. Die Zukäufe sollen im
Nordwesten Englands erfolgen, in der
Gegend von Manchester.Gespräche
werden bereits geführt, mit den Über-
nahmen soll der Umsatz von derzeit
3Mio.£innerhalb von dreiJahren auf
5Mio.£wachsen.Durch eine Unabhän-
gigkeit könnte seineFirma dann jedoch
unfreiwillig grenzüberschreitend tätig
sein. Hoffentlich verlaufen dieVerhand-
lungenzwischen London und Edinburg
dann produktiver als die zwischen Lon-
don und Brüssel,scherztField.
Es gibt nur eine Chance,die Uhr zu-
mindest formal zurückzudrehen: ein
zweites Brexit-Referendum,bei dem
derVerbleib in der EU obsiegt. Doch
hier sind sich die beidenFirmenchefs
in ihrer Ablehnung einig – wenn auch
nicht bei den Gründen. «Ich nehme an,
dasLand würde diesmal für denVer-
bleib stimmen,und dann hätten wir alle
Glaubwürdigkeit in Europa verloren»,
sagtMichaelField. «UnsereStellung in
der EU wäresoschwach, dass es sich gar
nicht lohnte, eine zu haben.»Tim Dew
hingegen hat ein grundsätzliches Pro-
blem: «Ich glaube nicht, dass ein zweites
Brexit-Referendum demokratisch wäre.
Das erste war Demokratie in Aktion.
Ich mochte das Ergebnis nicht, aber es
wareinErgebnis.»

Die meisten Schottenwollen in der EU bleiben–die Nationalisten trommeln für eine zweite Abstimmung. RUSSELL CHEYNE / REUTERS

PD
MichaelField
Gründer
Workflo Solutions

Tim Dew
Gründer Games
WithoutFrontiers

Schottland könnte einen Trumpf verlieren


bet.·Könnte Schottland, dessen 5,4 Mio.
Einwohner 8% zum Bruttoinlandpro-
dukt der fünftgrössten Industrienation
derWelt beitragen, auf eigenen Beinen
stehen?Darüber debattierten die Schot-
ten und mit ihnen das ganzeVereinigte
Königreich erregt vor derVolksabstim-
mung imJahr 2014, deren Ergebnis dem
Sezessionsstreben einen starkenDämpfer
versetzte–vorläufig,denn dann kam der
Brexit. Ironischerweise war derWunsch,
Teil der EU zu sein, damals ein Argument
gegen die Unabhängigkeit: Ein eigenstän-
diges Schottland würde automatischaus
der EUausscheiden und müsste denAuf-
nahmeprozess neu durchlaufen.
Aber wenn nun der EU-Austritt
ohnehin erfolgt, gibt es dann mehr zu
gewinnen als zu verlieren? Im inter-
nenWettbewerb desKönigreichs kann
sich die kleine Nation auf jedenFall be-


haupten. Bei einer Umfrage derWirt-
schaftsberatungEYkommt Schottland
hinsichtlich der Standortattraktivität zu-
sammen mit dem englischen Südosten
auf den zweiten Platz hinter London
(wenn auch mit grossem Abstand).
Dochmit derUnabhängigkeitkönnte
Schottland einenTr umpf verlieren, näm-
lich den uneingeschränkten Zugang zum
Binnenmarkt desRests desKönigreichs,
das der grösste Handelspartner ist.
Selbst wenn ein enges Bündnis ge-
lingt, so werfen Londons gegenwärtige
Brexit-Probleme bereits ein Schlaglicht
auf die Herausforderungen,vor denen
auch Edinburg stünde. Erstens sind die
Verknüpfungen mit England selbstver-
ständlich tiefer als die zwischen dem
Königreich und der EU: Die Union von
England und Schottland entstand1707.
Zweitens kann Schottland abgesehen

vom Status quo beiden Klubs nicht glei-
chermassen uneingeschränkt angehören.
Schottland stünde bei einer Unab-
hängigkeit vor nochmals grösserenAuf-
ga ben, als sie dasVereinigteKönigreich
heute «nur» durch den Brexit bewäl-
tigen muss. Ein Problem ist dieFrage
nach einer eigenenWährung. Ein ande-
res sind die Staatsfinanzen: Das schot-
tische Haushaltsdefizit betrug vergan-
genesJa hr 7% derWirtschaftsleistung,
und das ist schon der niedrigsteWert der
vergangenen fünfFinanzjahre.Würde
Schottland unabhängig, könnte es zwar
aus geografischen Gründen einen An-
spruch auf fast alle Steuereinnahmen
aus der Erdöl- und Erdgasförderung in
der gegenwärtig britischen Nordsee er-
heben – aber das ist eine notorisch vola-
tile und wegen der sinkenden Produk-
tion tendenziell abnehmende Quelle.
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